Warum die Freunde Israels endlich umdenken müssen

Die WELT hat einen ganz erstaunlichen Artikel von Omri Boehn veröffentlicht. Erstaunlich deswegen, weil er erstens tatsächlich in der WELT erscheint, in der sonst eher die recht israelfreundlichen Autoren wie Broder und andere das große Wort führen, und er hier zweitens mit ungewöhnlicher Schärfe eine richtige Abfuhr gegen einen hauseigenen Journalisten, nämlich Alan Posener (prominenter Autor in den Medien des Springer-Verlags, in der Jüdischen Allgemeinen und bis 2009 auch im Weblog „Die Achse des Guten“ von Henryk M. Broder) formuliert. Boehm, Jg. 1979, ist ein israelischer Philosoph, der gerade ein viel diskutiertes Buch veröffentlicht hat.

Ich habe mich“, schreibt Omri Boehm, „kürzlich sehr gewundert, als ich – Jude und Israeli mit Vorvätern, die in Auschwitz ermordet wurden – von einem WELT-Autor bezichtigt wurde, eine Endlösung zu befürworten.“
 

Gemeint ist Alan Posener, der in einem überaus polemisch Artikel („Israel ist für deutsche Rechte und Linke nur ein Spiegel der eigenen Neurosen“, veröffentlicht in der WELT am 08.07.2020) die Linke als scheinheilig und vieles andere mehr attackiert hatte.

Laut Posener treffe das binationale Programm, das Omri Boehm vorgeschlagen habe, nur deshalb in Deutschland auf Resonanz, weil Deutsche mit einer „Israel-Neurose“ insgeheim von dem Wunsch getrieben würden, „Zionismus zu überwinden“. Diese Behauptung hätte durch simple Überprüfung der Fakten widerlegt werden können. Vor den vergangenen Wahlen in Israel habe die Vereinte Liste innerhalb von fünf Monaten ihren Zuspruch innerhalb der jüdischen Wählerschaft mehr als verdoppelt. Und in der Vielzahl von Artikeln über diesen Trend in den israelischen Medien wurde auch ein Text Boehm im „Ha‘aretz“-Meinungsteil abgedruckt, unter der Schlagzeile „Zurück zum Anfangsplan“.

Einen Tag nachdem Posener sein Meinungsstück veröffentlicht hatte, habe Peter Beinart – die wichtigste Stimme linker zionistischer Juden in Amerika – einen Artikel in der „New York Times“ publiziert mit der Überschrift: „Ich glaube nicht mehr an einen jüdischen Staat.“ Damit habe sich Beinart zur Unterstützung binationaler Politik bekannt, für die neben anderen auch Omri Boehm sich bereits in der „New York Times, der „Washington Post und der „New York Review of Books plädiert habe. Das Ende der Zweistaatenlösung habe in Amerika ein Erdbeben ausgelöst – eine historisch zu nennende Veränderung des Verhältnisses von linken zionistischen Juden zu zionistischer Politik. Posener hingegen schreibe, dass Deutsche lediglich an binationaler Politik interessiert seien, weil sie auf eine „Endlösung der Israelfrage“ hoffen.

Omri Boehm weiter: „Um den historischen Wandel, der innerhalb der jungen Generation von israelischen und amerikanischen jüdischen Linken stattfindet, begreifen zu können, muss eine weitere faktische Verzerrung korrigiert werden. Gemäß Posener beruht Zionismus auf dem Satz: „Weil es einen Staat auf der Erde geben muss, in dem die Juden die Mehrheit sind.“ Das mag vielleicht sein; doch die Wahrheit ist, dass eine jüdische Mehrheit nicht existiert, und die Juden in Israel und Amerika wissen das.

Es heißt manchmal, dass Israels Bevölkerung zu etwa 76 Prozent aus Juden und zu 24 Prozent aus Arabern bestehe. Diese Zahlen sind falsch. Sie kommen zustande, indem richtigerweise alle Juden in Israel und dem Westjordanland gezählt werden – doch dann werden 2,9 Millionen Palästinenser abgezogen. Nimmt man als Grundlage stattdessen Israels offizielle Karten – die auch das Zentralbüro für Statistik verwendet – und zählt alle Einwohner im entsprechenden Gebiet, kommt man auf etwa 53 Prozent Juden und 47 Prozent Palästinenser.

Das ist der Grund, weshalb liberale Zionisten die Zweistaatenlösung bis auf den letzten Blutstropfen verteidigt haben: Sie sollte eine jüdische Demokratie ermöglichen, indem 700.000 Menschen aus dem Westjordanland umgesiedelt werden und eine souveräne palästinensische Zone errichtet wird. Davon war Posener selbst bisher wenig begeistert.

In einem WELT-Artikel bezeichnete er das Programm zur Umsiedlung als Maßnahme, um das Westjordanland „judenfrei“ zu machen. Und apropos Holocaust-Relativierung: Die Unterstützung der Genfer Konvention – die besagt, dass es sich bei der Ansiedlung von Zivilbevölkerung auf besetztem Gebiet um ein Kriegsverbrechen handelt – ist für Posener die Fortsetzung von Nazi-Ideologie.

Doch welche Alternativen bleiben liberalen Zionisten mit dem Tod der Zweistaatenlösung? Eine Option ist, die jüdische Mehrheit und den Liberalismus aufzugeben und den Status quo zu erhalten; eine Situation, in der Juden im Westjordanland in einem demokratischen Erste-Welt-Land leben, während Palästinenser im selben Gebiet einem Militärregime unterstehen.

Es ist unklar, weshalb Deutsche in diesem Zusammenhang über den Begriff „Apartheid“ diskutieren: Menachem Begin, Israels erster rechtskonservativer Ministerpräsident, war wahrscheinlich der Erste, der auf diesem Vergleich bestand. Bei einer Knesset-Rede 1977 bot er allen Palästinensern die Staatsbürgerschaft an und warnte: „Und jetzt will ich erklären, wieso wir eine freie Wahl der Staatsbürgerschaft vorgeschlagen haben … die Antwort lautet: Fairness … Wir wollten nie wie Rhodesien werden … Hier bieten wir absolute Gleichberechtigung an: Anti-Rassismus.“

In den 70er-Jahren war Rhodesien das Symbol für südafrikanische Apartheid. Der Vergleich schmerzt alle, die – wie Begin – ihr Land lieben. Wenn wir jedoch der Realität nicht ins Auge blicken, wird es uns nicht gelingen, entsprechende Alternativen zu entwerfen.

Die andere Möglichkeit ist die, von der ich in meinem Buch schreibe und die die Vision aus Begins Rede rehabilitieren soll. Dieses Programm beinhaltet palästinensische Autonomie – so ähnlich wie in den deutschen Bundesländern – im Westjordanland und dem Gazastreifen, während gleichzeitig alle Palästinenser die Option auf Staatsbürgerschaft bekommen.

Nach diesem Plan sind Juden und Palästinenser gleichberechtigte Bürger mit voller Bewegungsfreiheit und wirtschaftlichen Rechten auf dem gesamten Gebiet. So, wie dann mehr Siedler in ihren Siedlungen bleiben können, werden auch Palästinenser in Israel Land kaufen, leben und arbeiten können. Im Dezember 1977 hat Israels Parlament über Begins Programm abgestimmt und es befürwortet. Es wurde schlussendlich doch gekippt, aber jetzt ist ein hervorragender Moment, um es neu zu erörtern.

Wie Wladimir Jabotinsky, Begins Vorbild, einst sagte: „Die Zukunft Palästinas muss, rechtlich gesprochen, ein binationaler Staat sein.“ Mit anderen Worten zusammengefasst: Posener charakterisiert ein Programm, das auf die Väter des Zionismus zurückgeht, von Begin vorgeschlagen und von der Knesset abgesegnet wurde, als Plan für die „Endlösung der Israelfrage“.

Durch das Ende der Zweistaatenlösung sieht sich das pro-israelische Lager mit einer Herausforderung konfrontiert. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie man sein Bekenntnis zu Zionismus einerseits und linker Politik sowie internationalem Recht andererseits aufrechterhalten können soll.

Falls das von mir vorgeschlagene politische Programm in Deutschland auf Interesse stößt, dann hoffentlich deshalb, weil es zeigt, dass – entgegen wachsender Befürchtungen – beide Bekenntnisse in der Tat aufrechterhalten werden können. Es wird nicht leicht, und Poseners Pro-Israel-Modell gehört verworfen. Insbesondere in der heutigen Zeit hat mein Land bessere Freunde verdient.

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