Warum für Israel Frieden unmöglich ist: Der Zionismus und die Unfähigkeit zu trauern

Die Weigerung, das Unrecht an den Palästinensern aufzuarbeiten, führt zur totalen politischen Stagnation/ Parallelen zur politischen Situation der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren

Arn Strohmeyer

Israel ist krank, das hat kürzlich sogar der Präsident dieses Staates, Reuven Riflin, im Zusammenhang mit der Gewalt konstatiert, die in der israelischen Gesellschaft immer mehr um sich greift. Er meine damit aber nicht nur die Gewalt gegen die Palästinenser, die halten er und die meisten Israelis wohl für „normal“, wenn man sie denn überhaupt wahrnimmt. Nein, er meint die zunehmende Gewalt unter jüdischen Israelis, also Gewalt unter Juden, was eigentlich gar nicht sein darf. Sie sei inzwischen in alle Bereiche der israelischen Gesellschaft eingedrungen, sagt Rivlin. Kenner der israelischen Verhältnisse hatten das schon lange vorhergesagt. Denn die tägliche Gewalt der Israelis in den besetzten Gebieten gegen die Palästinenser musste auch in der eigenen Gesellschaft ihre Folgen zeitigen: Wer in „Feindesland“ sich ständig rücksichtslos und brutal aufführt, wird diese Verhaltensweisen auch zu Hause nicht ablegen können und sich dort wie ein braves Lamm benehmen. Und die Siedler haben ohnehin Narrenfreiheit, „sie dürfen alles“ – die Sicherheitskräfte schauen ihrem Treiben tatenlos zu, wenn sie ihre Gewaltorgien gegen die Palästinenser feiern. Präsident Rivlin hat also Recht – die Zustände in Israel sind äußerst besorgniserregend.

Der Staat, der vorgibt, das Erbe der Holocaust-Opfer zu vertreten, muss sich heute selbst den Vorwurf des Rassismus gefallen lassen. Der israelische Historiker Shlomo Sand schreibt: „Mir ist bewusst, dass ich in einer der rassistischsten Gesellschaften der westlichen Welt lebe. Rassismus ist bis zu einem gewissen Grad überall vorhanden, aber in Israel existiert er bis tief in die Gesetze hinein. Er wird in den Schulen und Hochschulen gelehrt, in den Medien verbreitet und über allem und am schrecklichsten: In Israel wissen die Rassisten nicht, was sie tun und deshalb fühlen sie sich auch nicht verpflichtet, sich zu entschuldigen. Diese Abwesenheit eines Bedürfnisses für Selbstgerechtigkeit hat Israel zu einem besonders wertvollen Bezugspunkt für viele Bewegungen der politischen Rechten in der Welt gemacht, deren vergangene Geschichte und Nähe zum Antisemitismus nur zu gut bekannt sind. (…) Das Wichtigste, falls man es momentan vergessen hat: Bevor wir Ideen vorbringen, die Israels Identitätspolitik ändern, müssen wir zuerst uns selbst von der verhassten und endlosen Besatzung frei machen, die uns auf den Weg zur Hölle führt.“ Die Einsicht, dass der gegenwärtige Zustand, in dem Israel die Palästinenser auf engstem Raum hinter Mauern einfach wegsperrt, unhaltbar ist, beginnt sich auch in den Staaten des Westens langsam durchzusetzen.

Diese Tatsachen sind schlimm genug, aber noch schlimmer, ja unerträglich ist es, dass Israel eine Regierung hat, die nicht nur nichts gegen diese unhaltbaren Zustände tut, sondern sie politisch aktiv befördert – was auf eine politische Stagnation, ja einen völligen Immobilismus in der israelischen Politik verweist, der die ganze Gesellschaft lähmt. Wie ernst und perspektivlos die Situation dabei für Israel und seine Staatsideologie, den Zionismus, ist, schildert der Sozialwissenschaftler und Philosoph Moshe Zuckermann in seinem neuen Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt. Danach steht Israel vor einer historischen Entscheidung, der wichtigsten und bedeutendsten seit der Gründung des Staates 1948. Israel kann sich für die Zwei-Staaten-Lösung entscheiden, d.h. die Palästinenser erhalten ihren souveränen und lebensfähigen Staat. Diese Version würde aber bedeuten, dass Israel das Westjordanland räumen muss, wozu aber die meisten Israelis sowie die orthodoxen und nationalreligiösen Siedler unter gar keinen Umständen bereit sind. Zuckermann schließt für diesen Fall einen Bürgerkrieg nicht aus.

Diese Zwei-Staaten-Lösung hat also so gut wie keine Chancen realisiert zu werden – nicht zuletzt auch wegen der immensen Summen, die der Staat Israel in die Infrastruktur und den Siedlungsbau im Westjordanland investiert hat. Es bleibt die bi-nationale Lösung, die automatisch eintritt, wenn Israel das Westjordanland nicht freigibt. Es würde dann dieses Gebiet annektieren samt seiner palästinensischen Einwohner. In einem solchen Staat müssten Juden und Palästinenser als gleichwertige und gleichberechtigte Bürger gemeinsam leben. Da es völlig undenkbar ist, dass Israel einer solchen Option zustimmt, würde Israel zwangsläufig zu einem Staat, in dem eine jüdische Minorität über eine palästinensische Mehrheit herrscht. Das würde aber bedeuten: Israel würde zu einem Apartheidsstaat im vollen Sinne des Wortes. Weder der Westen noch die Palästinenser würden diese Möglichkeit akzeptieren – Israel wäre vollständig isoliert. Das ist die Sackgasse oder das Dilemma, in dem sich der zionistische Staat befindet und aus dem es keinen Ausweg gibt. Zuckermann folgert daraus: „Die Verweigerung der Zwei-Staaten-Lösung bedeutet, so besehen, die Beschleunigung des historischen Endes des zionistischen Projekts. Nichts führt an dieser Schlussfolgerung vorbei.“

An diese Feststellung schließt sich automatisch die entscheidende Frage an: Warum beschreitet die israelische Politik einen Weg, der zwangsläufig zum Ende des Zionismus und damit auch des Staates Israel führen muss? Oder anders gesagt: Warum erweist sich die israelische Politik als völlig unfähig, einer wirklichen Friedensoption zuzustimmen, um so die weitere Existenz des Staates zu sichern? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten.

Da ist zunächst das Faktum, dass die Gewalt von Anfang an ein ganz wesentliches Merkmal der zionistischen Ideologie und des Staates Israel ist. Der Zionismus, also die Staatsideologie des heutigen Staates Israel, entstand als eine Reaktion auf den europäischen Nationalismus, Kolonialismus und Antisemitismus, die im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielten. Der Zionismus kreierte am Ende des 19. Jahrhunderts die Idee, einen Staat der Juden in Palästina zu schaffen.

Am Anfang stand also eine Idee, ohne dass es bereits ein Territorium für die Realisierung der Idee gab, das musste erst noch erobert werden, denn Palästina war ein von Arabern voll bewohntes Land, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Die Zionisten erhielten für ihr Vorhaben die Unterstützung der Kolonialmacht England. Frankreich und England hatten ja nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches den Nahen Osten unter sich aufgeteilt. Und England war bestrebt, mit Hilfe der Zionisten in den Region einen Vorpostenstaat zu schaffen und erhielt auch 1920 das Mandat des Völkerbundes für das Land.

Als Rechtfertigung, sich dieses Land anzueignen, beriefen sich die Zionisten, obwohl selbst säkular, auf die jüdische Religion, genau auf das Alte Testament, in dem es ja heißt, dass Gott den Juden das Land geschenkt habe. Zum anderen kreierten sie die Losung: „Das Volk ohne Land kommt in das Land ohne Volk.“ Diese Parole entsprach natürlich nicht der Wirklichkeit, das Land war ja bereits seit Jahrhunderten von einem Volk bewohnt. Ab 1880 siedelten in Palästina eingewanderte Zionisten. Sie betrachteten die indigenen Bewohner aber aus ihrer kolonialistischen Sicht heraus gar nicht als Menschen, sie existierten für sie gar nicht, insofern konnten sie das Land auch als „leer“ bezeichnen. Das erinnert stark an den Umgang der Weißen mit den Ureinwohnern in Amerika und Australien.

Die israelische Gesellschaft ist bis heute eine siedlerkolonialistische Bewegung. Was heißt das? „Der reine Siedlerkolonialismus, für den Israel ein Beispiel ist, strebt danach, die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen. Die Grenzen werden dabei stets weiter vorgeschoben und die einheimische Bevölkerung auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt, um ihr Land und ihre Ressourcen für die Siedlerbevölkerung freizumachen. Charakteristisch für siedlerkolonialistische Gebilde sind neben territorialer Expansion ein ausgeprägter Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler kamen.“ (Petra Wild) Nach dieser Definition versteht man, warum Israel der einzige Staat auf der Welt ist, der keine festen Grenzen hat.

Siedlerkolonialistischen Bewegungen wie dem Zionismus wohnt also notgedrungen das Element der Gewalt inne. Diese Einstellung macht allein den Frieden mit den Kolonisierten, Besetzten und Unterdrückten unmöglich. Dazu kommt bei Israel die Selbstviktimierung, also die Ideologie des Selbst-Opfer-Seins. In Bezug auf den Holocaust heißt das in der Formulierung von Moshe Zuckermann: Die Israelis gedenken in ihrer Erinnerungskultur der Opfer gar nicht mehr im Stande ihres Opfer-Seins, sondern maßen sich selbst den Opferstatus an, um ihn instrumentalisieren und aus ihm politisches Kapital schlagen zu können. Zuckermann schreibt: „Der Begriff des Opfer-Täter-Verhältnisses wird so auf das Schändlichste entleert und nachgerade verkehrt.“ An anderer Stelle schreibt er, dass die wirklichen Opfer auf diese Weise „verraten“ würden. Eine solche Haltung macht eine Gesellschaft aber friedensunfähig.

Denn diese Opfer-Mentalität und -Ideologie führt automatisch zu der Unmöglichkeit, andere als Opfer anzuerkennen. Und so muss die israelische Politik verdrängen, was sie in Jahrzehnten den Palästinensern an furchtbarem Unrecht angetan hat. Die Leiden der Palästinenser werden also vollständig ausgeblendet. Die israelische Politik braucht ein Feindbild, um ihr eigenes ideologisches Selbstbild aufrecht erhalten zu können. Würde sie es aufgeben und die Palästinenser (auch die Hamas) entdämonisieren, müsste man sich mit der eigenen Schuld auseinandersetzen – und das geht nicht, dafür sind die psychischen und ideologischen Hürden viel zu hoch. Das Selbstbildnis des Zionismus muss intakt bleiben, er darf sich nicht durch historische Täterschaft besudelt haben.

Zwischen Expansionismus und der Opferideologie besteht ein enger Zusammenhang.  Zuckermann beschreibt ihn so: „Je mehr sich Israel in der Gewaltausübung der Okkupation verfing, desto intensiver steigerte sich die Emphase der Selbstviktimierung, mithin die Apostrophierung aller Kritik an Israels Politik als Antisemitismus. Es geht dabei um bewusste ideologische Manipulation, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass in der Manipulation auch eine Schuldabwehr angelegt ist.“ Israel kann und darf die Schuld an den Palästinensern nicht zugeben, will es mit sich im Reinen leben. Genau dieser Sachverhalt der Aktivierung des Antisemitismus-Vorwurfes trat während des Gaza-Krieges im Sommer deutlich zu Tag: je brutaler Israel dort Gewalt ausübte, desto lauter tönte dieser Vorwurf, der vor allem die Funktion hat, jede Diskussion über Israels Vorgehen zu ersticken.

Was bedeutet das für die Schaffung eines gerechten Friedens zwischen Israel und den Palästinensern? 1. Auf Grund der völlig asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Kolonisten und Kolonisierten, Besatzern und Besetzten kann eine Lösung nur von Israel kommen. Die Palästinenser sind in diesem Prozess nur Objekt, kein Subjekt. 2. Israel ist gegen jede Friedenslösung. Moshe Zuckermann schreibt dazu: „Israel will den Frieden nicht. Es kann ihn nicht wollen, weil ein realer Frieden den Abschied von einem tief eingefrästen Muster des Selbstverständnisses, die Auflösung seines ideologischen Selbstbildes bedeuten würde. Die israelische politische Kultur kennt nur ‚Sicherheit‘ als begreifbare Substanz ihres Selbstverständnisses“, Verzicht und Kompromissbereitschaft kennt der Zionismus nicht.

All dies – das israelische Verständnis des Holocaust samt der Ideologie, selbst Opfer zu sein, und der Instrumentalisierung der wirklichen Opfer, die daraus folgende Unfähigkeit, die eigene Schuld gegenüber den Palästinensern anzuerkennen und die sich daraus wiederum ergebende Unfähigkeit zum Frieden sowie die Fortsetzung der gewaltsamen siedlerkolonialistischen Politik auf palästinensischem Land – all dies macht deutlich, was Alfred Grosser mit seinem Satz gemeint hat: „Wer Hitler abschütteln will, muss heute die Palästinenser verteidigen.“ Als Begründung zu diesem Satz muss man ergänzen: Weil Palästinenser inzwischen die Opfer sind, die Opfer der Opfer. Damit habe ist das Verhältnis von Israel zu den Palästinensern skizziert.

Aus dem Gesagten ergeben sich die Grundmaximen der heutigen israelisch-zionistischen Politik. Sie lauten:

  1. „Israel ist das Opfer unversöhnlichen Hasses von Seiten der friedensunwilligen Araber und kämpft deshalb um seine Existenz. Da sie – und die Palästinenser im Besonderen – unsere ewigen Feinde sind, ist der Konflikt eine Alles- oder Nichts-Situation: entweder ‚wir‘ gewinnen oder ‚sie‘.
  2. Der Kern des Konflikts ist der palästinensische Terrorismus. Als friedensliebende Demokratie und Opfer von Aggressionen trägt Israel keine Verantwortung für Entstehen oder Andauern des Konflikts. Da die Bedrohung Israels existentiell ist und Israels Politik ausschließlich der Sorge um seine Sicherheit gehorcht, ist es jeder Verantwortlichkeit für seine Handlungen gemäß den Konventionen von Menschen- und Völkerrecht oder UNO-Resolutionen enthoben. Die Israelis behaupten also, nicht dem Völkerrecht zu unterliegen und ein Sonderrecht zu genießen.
  3. Es gibt keine Besatzung.
  4. Da eine politische Lösung nicht möglich ist, muss bei jeder zukünftigen Regelung die Kontrolle über das gesamte Land, einschließlich der Palästinenser, Israel vorbehalten bleiben. Dennoch, um ein jüdischer Staat zu bleiben, muss Israel einen palästinensischen Staat etablieren, damit es sich demographisch von dieser Bevölkerung ‚befreit‘. Dieser Staat muss allerdings aus Sicherheitsgründen zurechtgestutzt und von Israel eingekreist werden; er darf nicht lebensfähig und darf nur semi-souverän sein.“ (Jeff Halper)

Dieses Politikkonzept ist bereits gescheitert und hat keine Zukunft, es musste scheitern, weil es eine völlig falsche – rein ideologische – Interpretation der wirklichen Situation im Nahen Osten ist. Dass Israel seine Politik dennoch nach ihm ausrichten kann, ist nur auf seine militärische Übermacht zurückzuführen, hinter der noch die Schutzmacht USA steht. Israel ist ein Staat, der sein Existenzrecht aus höchst fragwürdigen und längst wiederlegten biblischen Mythen und aus der Berufung auf das Verbrechen des Holocaust herleitet. Seine staatliche und völkerrechtlich abgesicherte Existenz verdankt es einzig und allein dem UNO-Teilungsbeschluss von 1947 – Israel hat es der UNO wenig gedankt, weil es so gut wie keine der Vorgaben (Resolutionen) der Weltorganisation erfüllt hat.

Es gibt einen weiteren Grund, warum das offizielle Israel in politischer Stagnation und im Immobilismus verharrt und zu einer friedlichen Lösung des Konflikts mit den Palästinensern nicht in der Lage ist: Die Unfähigkeit sich zu erinnern. Moshe Zuckermann hat diesen Tatbestand im oben Gesagten schon angedeutet. Dieser politisch-psychologische Befund hat viel Ähnlichkeit mit dem Zustand der Bundesrepublik Deutschland in der Adenauer-Zeit, also den fünfziger und sechziger Jahren bis zur Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition unter dem Bundeskanzler Willy Brandt. Diese Jahre nach dem Zusammenbruch des Hitler-Staates waren geprägt von der Nicht-Breitschaft, das schwere, ja furchtbare Erbe der NS-Zeit und seiner Verbrechen aufzuarbeiten. Der Holocaust war kein Thema. Weder die Mehrheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft noch die führenden Politiker waren bereit, sich der Vergangenheit zu stellen

Die deutsche Schuld wurde verharmlost, verdrängt oder auf den „satanischen Führer“ und seine Clique abgewälzt. Ein unerklärlicher Einbruch des Irrationalen, eine Heimsuchung oder ein Verhängnis wurden für das Hochkommen der Nazis und ihre Verbrechen verantwortlich gemacht. Die Deutschen seien von dem Demagogen Hitler „verführt“ worden und deshalb sahen sie sich als Opfer und nicht als Täter. Als nach dem Krieg Einzelheiten über das Grauen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern bekannt wurden, hat es keinen Aufschrei des Entsetzens gegeben, sondern das große Schweigen. Ja, sogar der Antisemitismus lebte fort. Es gab kein Verantwortungs- und Schuldbewusstsein, man wollte von nichts gewusst haben.

Das führte dazu, dass die Adenauer-Republik gefangen war zwischen der Verdrängung der NS-Zeit, dem ideologischen Dogma des Antikommunismus und den politischen Fesseln, die der Kalte Krieg auferlegte. Die Folge war eine völlige Erstarrung und Unbeweglichkeit in der Innen- und Außenpolitik – der Immobilismus wurde sozusagen tragender Teil des Systems. Die Bundesrepublik sah sich vom mächtigen kommunistischen Feind bedroht, rüstete kräftig auf und war unfähig, ihre Grenzprobleme mit den Nachbarn im Osten zu regeln. Heimlich hoffte man immer noch, die durch Hitlers Hybris verlorenen Ost-Gebiete wiederzubekommen. Es bedurfte der couragierten intellektuellen Tat zweier Psychoanalytiker, Alexander und Margarete Mitscherlich, der westdeutschen Gesellschaft mit ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern den Spiegel vorzuhalten und ihr die Gründe für die politische Sackgasse aufzuzeigen, in die sie geraten war.

Formal – das sei ausdrücklich betont – spielt sich in der israelischen Gesellschaft etwas Ähnliches ab wie in der Bundesrepublik in jenen Jahren, wenn auch die Dimensionen des Unrechts und der Verbrechen, deren Aufarbeitung verweigert wurde und wird, ganz andere und nicht vergleichbar sind. Das deutlich zu unterstreichen, ist unbedingt nötig, um Missverständnissen vorzubeugen. Es bleibt als Parallele aber die Unfähigkeit einer Gesellschaft, die eigene Unrechts-Vergangenheit aufzuarbeiten – mit der Folge der politischen Stagnation und Immobilität, die inzwischen bei Israel zur Existenzbedrohung geführt hat. Moshe Zuckermann spricht in Bezug auf die Mehrheit der israelischen Gesellschaft von der „dumpfen Hinnahme einer immerwährenden politischen Stagnation und einer ihr anverwandten historischen Perspektive der Aussichtslosigkeit.“

Die auch heute noch gültigen Kernaussagen der Mitscherlichs sind: Unrecht in der Vergangenheit muss durch Erinnerung aufgearbeitet werden. Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber es verwirklicht sich in ihr ein Wiederholungszwang, zu durchbrechen ist er nur durch eine Bewusstseinsänderung. Das heißt, es muss gelingen, bisher unkontrollierbar Wirksames in seiner Motivation vollkommener und treffender zu verstehen. Trauer und Erinnerung sind dabei eng miteinander verbunden: Trauer ist ein seelischer Vorgang, in dem ein Individuum oder ein Kollektiv einen Verlust mit Hilfe eines wiederholten, schmerzlichen Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen und durchzuarbeiten lernt, um dadurch zu einer Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen seiner Umgebung fähig zu werden. Findet diese gefühlsmäßige Erinnerungs- und Trauerarbeit nicht statt, werden die Emotionen also von der Erinnerung an die Vergangenheit abgespalten, kommt es zum sozialen, geistigen und politischen Immobilismus.

Erinnerung ist also eine Folge von Erkenntnisschritten, die durch gefühlsmäßiges Wiederholen und Durcharbeiten der Vergangenheit Aufklärung darüber schafft, wie aus dem Gestern das Heute entstanden ist. Anders gesagt: Ohne Wiederholung der damaligen Erlebnisweisen und ohne erneutes Durcharbeiten des damaligen Verhaltens gibt es keine Fähigkeit zu trauern – Trauer um den Verlust von Menschen und Idealen. Misslingen die Erinnerung und die Trauerarbeit oder findet sie gar nicht statt, müssen die eigenen Schuldvorwürfe abgewehrt werden, die Schuld wird auf die „anderen“ verschoben (sie werden dämonisiert und entmenschlicht), Selbstviktimierung wird aktiv betrieben (man selbst ist das Opfer durch die ständige Bedrohung durch die „anderen“ ), jede Verantwortung für das eigene Tun wird abgelehnt; Isolation, Stagnation und Immobilismus in jeder Hinsicht sind die Folge. Das war die Situation der deutschen Nachkriegsgesellschaft in der Adenauer-Zeit.

Die Kriterien, die die Mitscherlichs über die Nicht-Bewältigung von Unrecht in der Vergangenheit erarbeitet haben, treffen nicht nur für die Deutschen zu, sie können auch auf das Beispiel Israel angewendet werden. Die Mitscherlichs schrieben ausdrücklich: „Natürlich beherrschen solche Abwehrvorgänge nicht nur die deutsche Szene, sie sind allgemein menschliche Reaktionsformen. Trotzdem bleibt es entscheidend, wie jeder einzelne und jedes Kollektiv der spezifisch gehegten Selbsttäuschungen innezuwerden und sie zu überwinden verstehen.“

So entspringt die Analyse der israelischen Friedensunfähigkeit auch nicht deutschem Hochmut oder Abwälzung von eigener Verantwortung und Schuld, sondern muss bei einem militärisch so hoch gerüsteten und aggressiven Staat wie Israel, der permanent das Völkerrecht und die Menschenrechte verletzt, eine Selbstverständlichkeit sein. Die psychologischen Erkenntnisse, die die Mitscherlichs auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft anwendeten, haben zudem israelische Analytiker unabhängig von dem deutschen Vorbild aus eigenem Erkennen längst auch auf Israel übertragen. Sie konstatieren übereinstimmend die Abwehr und Verdrängung jeder Erinnerung an das Unrecht, das den Palästinensern seit Jahrzehnten angetan wird: die ethnische Säuberung von 1947/48 (Nakba) mit der Vertreibung von fast 800 000 Menschen, der Raub ihres Landes und Eigentums, die Wiederholung dieses Vorganges im Krieg von 1967 (Vertreibung von 300 000 Menschen), die Besetzung und Besiedlung des Westjordanlandes und des Gazastreifens mit der einhergehenden Abriegelung und Unterdrückung der dort lebenden Menschen, die Zerstörung ihrer Gesellschaft und Kultur – Prozesse, die mit der Aufrechterhaltung eines brutalen Okkupationsregimes bis heute andauern und von der israelischen Regierung mit einer rigiden „Judaisierungs“-Politik aktiv betrieben werden.

Einer, der die unbequeme Wahrheit ausspricht, ist der israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard. In seinem auch in Deutschland erschienen Buch Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahost-Konfliktes schreibt er: „Die Tatsache, dass die Gründung des Staates Israel auf der Vertreibung von Hunderttausenden von Palästinensern und auf der Aneignung ihrer Häuser und ihres Landes beruht, wurde in der Geschichte des modernen Israel vollständig unterdrückt und geleugnet. Es wurde weder in der Schule noch in den Medien darüber diskutiert, und das ist kein Zufall. Unsere Schuldgefühle sind so groß, dass sie es uns nicht erlauben, über das Thema zu reden.“

Weiter schreibt Grosbard: „Wir haben alle die Plicht, uns Gedanken darüber zu machen, was den Palästinensern zugestoßen ist, die von hier geflohen sind. Es ist eine Reise zu den Wurzeln. Denn nur wenn wir uns mit dem Schicksal der Palästinenser befassen, die einst hier gelebt haben, werden wir in der Lage sein, unser Trauma zu verarbeiten, was wir ihnen angetan haben. (…) Es ist eine Trauerarbeit, bei der wir schrittweise unsere bequeme Haltung der Selbstgerechtigkeit aufgeben werden müssen. (…) Es ist ein emotionaler Prozess, bei dem wir damit in Kontakt kommen, was wir anderen angetan haben. Das ist ein sehr wichtiger Prozess, ohne den wir keine Aussöhnung erreichen können. Wir müssen daran arbeiten, den ungeheuren emotionalen Kräften entgegenzuwirken, die das verdrängt haben, was hier jahrelang geschehen ist. Es ist an der Zeit, dass wir mit dem Prozess beginnen, denn es ist vor allem in unserem eigenen Interesse. Die Lösung des Problems liegt in der Umwandlung unserer Gefühle von Bedrohtsein und Hass gegen die Palästinenser zu einer Haltung des Verständnisses und der Zuneigung. Das kann nur geschehen, wenn wir mit der Verdrängung aufhören und uns zu fragen beginnen, was hier geschehen ist. Wir sind tatsächlich in Sünde geboren worden.“

Ganz ähnlich sieht der israelische Historiker Ilan Pappe diesen Verdrängungsprozess. Er schreibt: „Hinter den drakonischen Maßnahmen der israelischen Regierung, jedes Gespräch über das Rückkehrrecht [der vertriebenen Palästinenser] zu verhindern, steht eine tief sitzende Angst vor einer Debatte über die Ereignisse von 1948, dass Israels ‚Behandlung‘ der Palästinenser in jener Zeit zwangsläufig beunruhigende Fragen nach der moralischen Legitimität des gesamten zionistischen Projekts aufwerfen würde. Für Israelis ist es daher von entscheidender Bedeutung, einen starken Verleugnungsmechanismus aufrechtzuerhalten, der ihnen nicht nur hilft, die von den Palästinensern in den Friedensverhandlungen gestellten Forderungen abzuwehren, sondern auch – und vor allem – jede eingehende Debatte über den Charakter und die moralischen Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.“

Und weiter schreibt er: „Was die Palästinenser verlangen und was für viele von ihnen zu einer Conditio sine qua non wurde, ist, dass man sie als Opfer eines fortdauernden Unrechts anerkennt, das Israel bewusst an ihnen begangen hat. Das zu akzeptieren, würde natürlich für israelische Juden ihren eigenen Opferstatus beschädigen. Es hätte politische Auswirkungen auf internationaler Ebene, würde aber auch – was vielleicht weitaus entscheidender wäre – moralische und existentielle Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden zeitigen: Sie müssten sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild ihres schlimmsten Alptraumes geworden sind.“

Moshe Zuckermann registriert eine zweifache und letztlich unbewältigte Schuld Israels: zum einen das Gefühl einer mit der auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragenen Staatsgründung einhergehenden Schuld. Zum anderen das Gefühl einer unbewussten Schuld, die mit der kulturellen bzw. psychologischen Negation (man kann auch sagen Verachtung) des Diasporajudentums im Allgemeinen und der Holocaust-Überlebenden im Besonderen zusammenhängt. Letztere wurden abgelehnt, weil man ihnen vorwarf, sich wie Lämmer zur Schlachtbank hätten führen lassen. Beiden Gruppen – der Diaspora-Juden wie auch den Überlebenden des Holocaust – wurde das Ideal des „Neuen Juden“, eines dynamischen Tatmenschen gegenübergestellt.

Zur Verdrängung der Leiden der Palästinenser schreibt Zuckermann: „Trotz des im 1948er Krieg an den Palästinensern z.T. systematisch verbrochenen Unrechts (wie von neuerer Forschung deutlich zu Tage gefördert); trotz des seit den 1970er Jahren  zunehmend in die israelische öffentliche Sphäre eindringenden Wissens um die schlimme Leiderfahrung des palästinensischen Exils, und trotz des in der Westbank und im Gazastreifen über Jahrzehnte betriebenen, z. T. höchst brutalen Okkupationsregimes, wurde die palästinensische Leidensgeschichte (von marginalen Ausnahmen abgesehen) nahezu vollständig aus der gängigen israelischen Alltagserfahrung, mehr noch aus der der Sphäre des offiziellen öffentlichen Diskurses ausgeblendet.“

Wie sehr die Verdrängung der palästinensischen Leiderfahrung selbst den israelischen Alltag bestimmt, beschreibt die israelische Psychoanalytikerin Ruachama Morton am Beispiel der Mauer, die die Israelis (auf palästinensischem Gebiet) zur Trennung von den Palästinensern gebaut haben. Die Funktion und der Sinn dieses monströsen Bauwerkes sei es, die Existenz des palästinensischen Volkes insgesamt auszublenden. Von einem psychologischen Standpunkt aus gesehen ermögliche diese „metaphorische Blende“ es den Israelis, das Leid und die Menschlichkeit der Bewohner auf der anderen Seite zu vergessen. Die Mauer – so Marton – sei das Symbol für die Spaltung der israelischen Psyche. Der Abwehrmechanismus der seelischen Spaltung gestatte es, die Welt in „gut“ und „böse“ einzutelen: hier die fortschrittlichen, zivilisierten und demokratischen Israelis, dort die rückständigen, schmutzigen, barbarischen und gewaltsamen Palästinenser.

Sie schreibt: „Indem man sowohl die äußeren wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist es [den Israelis] psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen“, d.h. die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann man die projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun den ‚Anderen‘ angehören. Die Mauer wird so ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt es dem israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv, gewalttätig, grausam Besitz ergreifend, als Verletzter von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“ Aber die Israelis tun sich damit keinen Gefallen. Die Folgen für ihre Gesellschaft sind sehr gefährlich: „Durch diesen Abschottung und Verweigerung des Blicks auf die anderen Seite stumpfen die Israelis aber auch selbst ab, denn sie spalten ja einen Teil ihrer eigenen Psyche ab, die sie nicht mehr wahrnehmen. Das Ghetto kommt so wieder und mauert auch die Israelis ein.“

Es gibt nicht wenige Juden bzw. Israelis, die als Reaktion auf die israelische Politik ihr Judentum in Frage stellen. So schrieb die französisch-jüdische Historikerin für moderne und zeitgenössische Geschichte der Juden an der Sorbonne in Paris, Esther Benbassa, unter Berufung auf den Universalismus der jüdischen Ethik nach dem Gaza-Krieg 2008/09: „Wie können Juden, deren Vorfahren Verfolgung und Leiden, Exil und Ablehnung erdulden mussten, akzeptieren, dass ein anderes Volk, ganz in ihrer Nähe und in ihrem Einflussbereich, ein ähnliches Schicksal erleidet? Wurden diese Juden denn, als sie Israelis wurden, mit Gedächtnisverlust geschlagen, sodass sie sogar die elementarsten Grundsätze der Ethik, auf die sich das Judentum seinem Wesen nach gründet, vergaßen?“ Und: „Noch immer stellt sich die Frage: Wie kann man an der Seite Israels stehen, wie kann man seine jüdische Identität im Schatten eines Israel leben, das sich im ewigen Besitz der ‚Moral‘ dünkt und das ständig eine massive Gefährdung der Juden beschwört, damit ihm niemand vorwirft, was es den Palästinensern antut?“

Und Shlomo Sand erklärte in seinem Buch Warum ich aufhöre, Jude zu sein. Ein israelischer Standpunkt seinen Abschied vom Judentum und begründet das so: „Wie kann ein Mensch, der nicht religiös ist, sondern einfach Humanist, Demokrat und Liberaler, und nur einen Funken Rechtschaffenheit besitzt, sich unter diesen Umständen weiter als Jude bezeichnen? Kann sich ein Nachkomme von Verfolgten unter diesen Bedingungen zum Stamm der neuen säkularen Juden zählen, die Israel als ihren alleinigen Besitz betrachten? Schließt man sich durch die Selbstdefinition als Jude im Staat Israel denn nicht eigentlich einer privilegierten Kaste an, die unerträgliche Ungerechtigkeiten begeht?“

Nach dem hier Gesagten kann man ermessen, wie groß das politische und moralische Dilemma ist, in das sich der israelische Staat durch eigenes Verschulden begeben hat. Es sollen hier keine Lösungsmöglichkeiten angeboten werden, sie ergeben sich aus den hier beschrieben Fakten von selbst: Nur ein Mentalitäts- oder Bewusstseinswandel in der israelischen Gesellschaft kann diesen Staat aus der schwierigen, ja fast aussichtslosen Lage befreien, in die er sich gebracht hat. Aber darauf deutet wenig oder nichts hin, auch wenn es dort viele humane und von Vernunft beseelte Menschen gibt, aber ihr Einfluss bleibt marginal. Am Ende bleibt die Frage, die Moshe Zuckermann immer wieder stellt: Warum betreibt ein Staat eine Politik, die keine Zukunft hat und ihn in allerhöchste Existenznot, ja in die Gefahr seines Unterganges bringt?

 

Literatur:

Benbassa; Esther: Jude sein nach Gaza, Hamburg 2010

Grosbard, Ofer: Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonflikts, Düsseldorf 2001

Halper, Jeff: Ein Israeli in Palästina. Widerstand gegen Vertreibung und Enteignung. Israel vom Kolonialismus erlösen, Berlin 2010

Lohmann, Hans-Martin: Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas, Frankfurt/ Main 1984

Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, München/ Zürich 1985

Pappe. Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt/ Main 2007 (Neuauflage 2014)

Sand, Shlomo: Warum ich aufhöre, Jude zu sein, Ein israelischer Standpunkt, Berlin 2013

Wild, Petra: Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Wien 2013

Zuckermann, Moshe: Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt, Wien 2014

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