Demokratie auf israelisch

Dieses Video aus einer Sitzung der Knesset vom 29. Juni 2016 muss man gesehen haben um zu verstehen, was Israel unter Demokratie versteht. An diesem Tag hielt die international angesehene palästinensische Abgeordnete Hanin Zoabi im israelischen Parlaent eine Rede, und zwar anlässlich des zwischen Israel und der Türkei geschlossenen „Versöhnungsabkommens“. Sie erinnerte dabei an den Angriff der israelischen Marine auf die Freedom Flotilla im Jahre 2010, bei dem neun türkische Aktivisten auf der „Mavi Marmara“ von Soldaten der israelischen Marine erschossen worden waren, und forderte eine Entschuldigung und eine Entschädigung für die Angehörigen der Opfer.

Die Mehrzahl der Abgeordneten fand Zoabis Äußerungen in der Knesset offenbar so ungeheuerlich, dass es zu einem heftigen Eklat mit unglaublichen verbalen und späteren medialen Attacken auf die Abgeordnete kam. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und viele Abgeorndete sind überdies fest entschlossen, die Abgeordnete aus dem israelischen Parlament auszuschließen. Netanyahu hat mit dem Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit schon über die rechtlichen Möglichkeiten verhandelt. Über den Eklat wurde breit und kontrovers in den israelischen Medien berichtet.

In der liberalen Zeitung „Ha’aretz“ vom 1. Juli 2016 wird der Vorfall in einem Leitartikel scharf kritisiert: „Es handelt sich hier um einen Test für die israelische Demokratie. Mehrere Abgeordnete der Knesset und der Ministerpräsident Bejamin Netanyahu fordern, Hanin Zoabi, ihre palästinensische Kollegin, vom Parlament auszuschließen. Sie hatte in einer Rede erklärt, dass israelische Soldaten Mörder seien. Wenn Israel Hanin Zoabi nicht als Abgeordnete akzeptieren kann, dann ist Israel keine Demokratie. […] Niemand hat das Recht, Zoabi öffentlich und medial regelrecht zu lynchen, so wie es nach ihrer Rede geschehen ist. Minister und Abgeordnete der Rechten und des Linken Zentrums (center-left) übertrafen sich in den übelsten Beschimpfungen und heftigsten Angriffen. Fast wäre es zu tätlichen Angriffen im Plenum gekommen. Es wurde gefordert, die Abgeordnete nicht nur aus der Knesset sondern gleich ganz aus dem Land zu entfernen. […] Der Angriff auf Zoabi lässt tief blicken, und er macht die wahren Absichten von Netanyahu und der Rechten, die – wie beschämend! – darin von einigen aus der Mittel-Links-Opposition unterstützt werden, deutlich, nämlich die authentische Vertretung der israelischen Araber im Parlament auszuhebeln und sie aus der Knesset ganz zu entfernen. Zoabi ist nur das erste Opfer auf diesem Weg.“

Der bekannte israelisch-arabische Journalist Zuheir Andreus formulierte noch etwas drastischer (in der „Ha’aretz“ vom 3. Juli 2016): „Die Horror-Show in der Knesset am vergangenen Mittwoch illustriert mehr als deutlich die Tatsache, dass der Rassismus in Israel inzwischen alle roten Linien überschritten hat und sich weiter in Richtung Faschismus bewegt. Ich habe die Sendung im Fernsehen mehrmals gesehen. Es war schockierend, um das mindeste zu sagen. Hätten die Ordnungskräfte der Knesset nicht eingegriffen, wäre es zu Opfern gekommen. Und das erste Opfer wäre Zoabi gewesen, die nur versucht hatte, klar und deutlich ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen.“

Israel ist laut Eigenwerbung die „einzige Demokratie im Nahen Osten“, steckt aber in einem unlöslichen Dilemma. Will Israel ein jüdischer Staat sein, ist es keine Demokratie, weil es dann seinen Bürger muslimischen Glaubens – wie zur Zeit – gleiche Rechte verweigert. Will Israel eine parlamentarische Demokratie mit gleichen Rechten für alle Bürger sein, kann es kein jüdischer Staat sein. Dieses Dilemma ist auch der tiefere Grund dafür, dass Israel bis heute über keine Verfassung verfügt.
Sönke Hundt

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