Palästinas vergessene Kinder

von Lord Norman Warner / 03.06.2016
(Lord Norman Warner ist Mitglied des britischen House of Lords und der Labour Party, war von 2003 bis 2006 Staatsminister im britischen Gesundheitsministerium und hat den Vorsitz in der „All Party Parliamentary Humanist Group“. Er war mit einer britischen Parlamentariergruppe in der Westbank. Sein Bericht enthält eine vernichtende Kritik an den Haftbedingungen palästinensischer Kinder und Jugendlicher.)

Im nächstes Jahr wird die Balfour Erklärung hundert Jahre und die israelische Besatzung der Westbank 50. Da es kein Zeichen eines aktiven Friedensprozesses zwischen den Parteien gibt, haben wir hier in Britannien die historische Verantwortung und Pflicht, dem Verhalten der israelischen Regierung in der Westbank und in Gaza ernsthaft den Kampf anzusagen. Bei einem kürzlichen Besuch in der Westbank habe ich – für mich eindringlich – die Notwendigkeit eines besseren rechtlichen Schutzes für die jungen Palästinenser gesehen. Ohne dem, fürchte ich, werden wir eine ganze verlorene Generation von vergessenen palästinensischen Kindern hervorbringen.

Yair Golan, der Vizechef des israelischen Militärs, hat im April einen Aufruhr verursacht, als er zu einer „nationalen Gewissenprüfung“ aufrief und warnte: „Nichts ist leichter als sich wie ein Tier zu benehmen und scheinheilig zu tun.“ Etwas früher in diesem Jahr verstand ich besser, was er meinte, als ich selbst ungläubig im Militärgefängnis Ofer in der besetzten Westbank saß und die Prozessabläufe beobachtete.

Israel ist eine Demokratie, die für sich beansprucht, Rechtsstaatlichkeit zu praktizieren. Aber hier waren palästinensische Kinder, die mit gefesselten Händen und Füßen in den Gerichtssaal schlurften. Während wir darauf warteten in den Gerichtssaal zu gehen, sprachen wir mit Familien, die ihre Kinder oft wochenlang nicht gesehen hatten, und das nur nachdem sie sich auf langen Fahrten durch zahlreiche Checkpoints gekämpft hatten. Sie erzählten uns – einer partei-übergreifenden Gruppe von britischen Parlamentariern – niedergeschlagen und lebensmüde von ihren persönlichen Erfahrungen.

Der Gerichtssaal war klein, überfüllt und chaotisch. Eine Besetzung von Akteuren wuselte herum und rempelte an: Anklagevertreter, Verteidiger, Gerichtsdiener, Wärter, Angestellte und andere nicht Identifizierbare, die hinein und hinaus fluteten. Auffallend war die Abwesenheit von Zeugen beziehungsweise tatsächlich (das Fehlen) jeglichen Verfahrens zur Überprüfung von Zeugen. Die Dinge wurden klarer, als wir erfuhren, dass sich beinahe jeder Angeklagte nach dem Verhör schuldig bekennt, um die Haftzeit abzukürzen.

In den Verfahren hat ein uniformierter Militärrichter den Vorsitz, dessen Hauptbeschäftigung zu sein scheint sicherzustellen, dass die Gefangenen auf der Anklagebank auch die sind, die auf seinem Laufzettel stehen. Es folgt ein Austausch zwischen Richter, Ankläger (der ebenfalls ein Soldat ist) und Verteidiger, einem zivilen Anwalt, der die Anklagten vorher nicht getroffen hat. Der Richter verkündet dann seine Entscheidung, ohne sich unbedingt an die Anklagten zu wenden. Wenn die Familie bereit ist eine – oft erhebliche – Strafe zu bezahlen, mag der Gefangene freigelassen werden, aber erst nach erfolgter Zahlung. Ein Vater läuft nach Erledigung der Formalitäten aus dem Gericht, um zu versuchen für seinen Sohn zu bezahlen, damit er rechtzeitig zu einer Hochzeit in der Familie freigelassen wird. Wir erfuhren anschließend, dass laut Jahresbericht 2011 des Militärgerichts pro Jahr 3,4 Millionen Dollar an Geldstrafen aufgebracht werden, die Palästinenser scheinen also ihr eigenes Elend zu finanzieren.

Palästinensische Kinder wachsen in einer Kultur der Angst, Einschüchterung, der Verdächtigung und manchmal des Todes auf

Mehr als 160 Kinder befinden sich zur Zeit illegaler Weise in israelischen Gefängnissen außerhalb der Westbank, weitere 276 werden in der Nähe von Ramallah festgehalten. Military Court Watch sagt, dass die Zahl der von der israelischen Armee verhafteten Kinder seit September 2015 um 156% gestiegen sei, und dass viele dieser Kinder geschlagen und unter bedenklichen und mißbräuchlichen Bedingungen in Haft gehalten werden. Ein Anwalt bei Military Court Watch sagt: „Palästinensische Kinder werden auf eine Art behandelt, die einen Erwachsenen in Schrecken versetzen und traumatisieren würde.“

Die meisten dieser Kinder sind wegen Steine Werfens inhaftiert. Für gewöhnlich bleiben sie drei Monate in Haft. Wenn sie nicht am Ort des mutmaßlichen Vergehens verhaftet werden, werden sie später geholt, oft mitten in der Nacht von israelischen Soldaten während einer Schrecken erregenden Razzia in ihrem Elternhaus – eine schreckliche Erfahrung für die ganze Familie. Vielleicht wurden sie von einem palästinensischen Informanten dem Netz der lokalen Offiziere des Militärgeheimdienstes angegeben, möglicherweise unter Zwang. Es macht wenig Unterschied, ob sie schuldig sind oder nicht – sie werden sich auf jeden Fall schuldig bekennen, und damit wird ein Regime, das auf Einschüchterung und Angst basiert, weiter verstärkt. All das geschieht unter dem Regime der israelischen Armee in der Westbank – die seit fast 50 Jahren besetzt ist – und mit voller Genehmigung durch die israelische Regierung, obwohl (Israel) die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat. Es scheint dass diese Rechte nur für in Israel lebende (jüdische) Kinder und für Kinder der illegal in der Westbank lebenden Siedler gelten.

Aus der Sicht der israelischen Regierung ist dieses Militärsystem in der Kontrolle der 2,7 Millionen in der Westbank lebenden Palästinenser sehr effektiv, das indessen mehr als 400.000 Israelis schützt, die sich dort seit 1967 illegal angesiedelt haben (in dieser Zahl sind die 200.000 Siedler in Ost-Jerusalem nicht enthalten). Zur Zeit gibt es über 125 dieser Siedlungen, in Wirklichkeit sind es Städte, die von der israelischen Regierung genehmigt sind, und über 100 sogenannte „Außenposten“, die wiederum wachsen werden. Laut dem Israelischen Zentralbüro für Statistik wächst die israelische Siedlerbevölkerung drei mal schneller als die israelische Bevölkerung insgesamt.

Jeder Tag in Palästina bringt neue Zerstörungen palästinensischer Bauten (Strukturen), die manchmal mit internationaler Hilfe errichtet worden sind. Allein seit Anfang 2016 sind fast  600 Strukturen zerstört und über 800 Palästinenser (obdachlos gemacht und) vertrieben worden, die Hälfte davon waren Kinder. Es gibt zur Zeit mehr als 11.000 genehmigte Abrißorder für Strukturen, die auf ihre Ausführung warten, die für gewöhnlich kaum angekündigt und oft mitten in der Nacht erfolgt. Die Unruheregion Westbank bereitet Sorgen. Dazu kommen immer mehr Tote und schwer verletzte Palästinenser und Israelis, wenn auch die Zahl der ersteren viel größer ist als die der Israelis.

Palästinensische Kinder wachsen heute in einer Kultur der Angst, Einschüchterung, Verdächtigung und manchmal des Todes auf. Wir haben das sehr deutlich gesehen bei unserem Besuch eines Hauses in Duma, das von Siedlern in Brand gesetzt wurde, wobei die Eltern und ihr Baby getötet wurden. Für diese Generation palästinensischer Kinder gibt es keine Hoffnung am Horizont, dass ihr Elend ein Ende haben wird. Ein gespaltener und betagter politischer Kader scheint heute machtlos zu sein, um die Annexion ihres Landes unter der Kontrolle einer militärischen Besatzungsmacht zu stoppen. Die israelische Regierung erlaubt den Transfer von Zivilpersonen in die Westbank, um illegal palästinensisches Land zu besetzen, obwohl dies von vielen Rechtsexperten als Kriegsverbrechen nach Artikel 8 der Statuten von Rom des Internationalen Strafgerichtshofs angesehen wird. Überrascht es wirklich, wenn Teenager zum Protest Steine werfen?

Entsprechend unserer Geschichte in diesem Teil der Welt sollte eine verantwortungsvolle britische Regierung jetzt eine effektive internationale Kampfansage überlegen, um zu beenden, dass die israelische Regierung in der Lage ist, mit  palästinensischen Kinder und ihren Familien rechtswidrig und unmenschlich umzugehen. Das ist das Letzte, was diese vergessenen Kinder verdienen.

Original hier: www.opendemocracy.net/arab-awakening/lord-norman-warner/palestine-s-forgotten-children
Übersetzung: K. Nebauer
Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Palästina-Portal (3. Juni 2016)

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