Offener Brief des Kairos-Solidaritäts-Netzwerks an die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland

Hildegard Lenz. Koordination des Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzes in Deutschland

Vom 16. bis 22. Oktober 2016 hat eine viel beachtete ökumenische Reise der katholischen und der evangelischen Kirche ins „Heilige Land“, also nach Israel und Palästina stattgefunden. Es war die erste gemeinsame – ökumenische – Reise und sollte der Vorbereitung auf das Reformationsjahr 2017 dienen. Zur politischen Lage in Israel / Palästina äußerten sich die Kirchen“fürsten“ (in ihrer „Gemeinsamen Botschaft zum Abschluss der Pilgerreise“) so neutral, so zurückhaltend und so äquidistant wie nur irgend möglich. „Mit großer Aufmerksamkeit und tiefer Sorge nehmen wir die politische Situation im Nahen Osten wahr. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hat viele Verlierer auf beiden Seiten. Die fortgesetzt auftretende Gewalt zeigt, wie zerbrechlich der Frieden ist, den dieses Land so dringend braucht. Wir appellieren an alle Verantwortlichen, aufeinander zuzugehen und an einer gerechten Friedensordnung unter Wahrung der Menschenrechte zu arbeiten. Das Existenzrecht Israels ist dabei genauso zu achten wie das Recht des palästinensischen Volks auf einen eigenen Staat. Nur so kann ein stabiler Frieden erreicht werden, der das Gemeinwohl im Heiligen Land und in der ganzen Region fördert.“

Im Auftrag des Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzes hat Hildegard Lenz einen offenen Brief an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der gemeinsamen Pilgerreise geschrieben, den wir hier vollständig dokumentieren.

Bremen, 16.September 2016
Sehr geehrter Herr Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx,
sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender der EKD, Bischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm,
sehr geehrte Bischöfinnen, sehr geehrte Bischöfe,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder,
das Kairos-Palästina-Solidaritätsnetz hat mit großer Freude zur Kenntnis genommen, dass eine gemeinsame Gruppe von Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober dieses Jahres zu einer Pilgerfahrt in das Heilige Land aufbrechen wird. Die meisten von uns haben die Erfahrung gemacht, dass die persönliche Begegnung mit den Menschen am Ursprungsort der Geschichte unseres Glaubens in besonderer Weise bewegt und inspiriert.

Wie so oft in seiner Geschichte ist das Heilige Land auch heute ein zutiefst zerrissenes und friedloses Land. Ihre Pilgerfahrt ist auch ein Solidaritätsbesuch mit besonderen Schwierigkeiten, weil wir durch unseren Glauben als Christen den Konflikt-Parteien Israel und Palästina in ihrem höchst asymmetrischen politischen Konflikt in besonderer Weise verbunden sind. Das Kairos-Palästina-Dokument der palästinensischen Christinnen und Christen von 2009 versteht sich als „Ein Wort des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“, mit dem sich unsere palästinensischen Glaubensgeschwister nicht nur klar und mutig zur aktuellen Lage geäußert, sondern uns auch mit einer herausfordernden theologischen Analyse konfrontiert haben. Die leitenden Geistlichen aller christlichen Konfessionen im Heiligen Land haben sich zustimmend zum Anliegen des Dokuments geäußert. Die Zahl von Christinnen und Christen vor Ort und weltweit, die sich mit dem Kairos-Palästina-Dokument identifizieren, wächst kontinuierlich. Wir bitten Sie dringend, das Gespräch mit ihnen zu suchen und ihnen vor Ort zuzuhören. Wir halten es für unabweislich, dass Sie Ihre besondere Solidarität mit ihnen bekunden, sie unterstützen und ermutigen.

OKR Jens Nieper, ehemaliger Nahostreferent im Kirchenamt der EKD, erklärte nach Bekanntwerden des Dokuments treffend, dass es hier nicht um ein Papier gehe, das Thesen zur theologischen Diskussion stellt, sondern um einen Aufruf, der eine Bewegung auslösen möchte:

„Es ist ein Aufruf, der zur Bewegung werden will. Eine Friedensbewegung – und zwar eine Friedensbewegung, die sich nicht aus den Reihen der Besatzer heraus, sondern aus den Besetzten heraus entwickelt.“ Es ist ein Aufruf, der uns einbeziehen will: „Wir als Kirche in der Welt sind aufgerufen, dem zuzuhören und das selbst weiterzusagen, was im Heiligen Land geschieht, wie Christen dort leben – glauben, lieben und hoffen – und an passender Stelle selbst auch aktiv zu werden und in Bewegung zu kommen.“

In Teilen der Ökumene ist der Ruf in diesem Sinne aufgenommen worden, und es sind, etwa in den Kirchen der USA, Schwedens, Englands, der Schweiz und Südafrikas, beachtliche Solidaritätsbewegungen entstanden. Der bisherige Umgang der deutschen Kirchen mit dem Kairos-Palästina-Dokument erfüllt uns allerdings mit großer Sorge, ja befremdet uns. Wir beobachten eher eine Weigerung, sich in angemessener Weise mit dem Dokument zu befassen. Kairos-Palästina ist ein Hilferuf an die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen. Der zentraler Satz lautet: „Könnt ihr uns helfen, unsere Freiheit zurückzugewinnen?“ Einen Hilferuf kann man aber nicht nur „dankbar und mit großer Aufmerksamkeit“ entgegennehmen – so der Exekutivausschuss der Evangelischen Mittelost-Kommission und die Kirchenkonferenz der EKD – sondern er verlangt eine Antwort: Tätige Hilfe!

Und damit ist nicht die sicherlich wichtige und von den Empfängern geschätzte Projekthilfe für die Entwicklungs- und Sozialarbeit der Kirchen gemeint, sondern anwaltschaftliches Eintreten für die Durchsetzung der völkerrechtlichen Ansprüche Palästinas und der Menschenrechte, die seiner Bevölkerung seit Jahrzehnten unter israelischer Besatzung verweigert werden. Zwar hat sich eine Reihe von kirchlichen Gremien mit dem Kairos-Palästina-Dokument befasst, aber selten in angemessener Weise, eben nur wie mit einem Diskussionspapier. Wir sind der Sache nachgegangen und weisen auf eine Veröffentlichung zum Thema hin („Wenn ein Glied leidet – leiden alle Glieder mit“?- Anlage 1). Auch der Deutsche Evangelische Kirchentag hat das Kairos-Palästina-Dokument wie ein Papier behandelt, das man einmal diskutieren und danach abheften kann. Die drängenden Fragen, die unsere palästinensischen Glaubensgeschwister stellen, können mit sehr allgemeinen Nahost-Diskussionen nicht angemessen behandelt werden.

Während des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Stuttgarter 2015 bot deshalb das Kairos-Palästina-Solidaritätsnetz außerhalb des offiziellen Programms eine auf die wesentlichen Fragen fokussierte Veranstaltung, einen Israel-Palästina-Tag an, mit überwältigendem Erfolg. Auch eine Intervention von Erzbischof Desmond Tutu (Anlage 2) hat den Deutschen Evangelischen Kirchentag nicht dazu bewegen können, die Herausforderung durch das Kairos-Palästina-Dokument ernst zu nehmen. Erzbischof Tutu, zu seinem 75. Geburtstag vom damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Dr. Wolfgang Huber, als „Zeuge der Gerechtigkeit Gottes“ gewürdigt, richtete im April 2015 einen entsprechenden Brief an den Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Prof. Dr. Andreas Barner; Kopien gingen an den Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, sowie an den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Bischof Dr. Karl Heinz Wiesemann. Der Brief fand in der Ökumene und der deutschen Zivilgesellschaft durchaus Beachtung; am Kirchentag ist er jedoch vorübergegangen. Er verdient aber vor Ihrer Pilgerfahrt ins „Heilige Land“ Ihre besondere Beachtung.

Erzbischof Tutu machte geschwisterlich-ökumenisch darauf aufmerksam, dass in der deutschen Christenheit – historisch verständlich und erklärbar – die Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina nicht als ein asymmetrischer Machtkonflikt zwischen Unterdrücker und Unterdrückten gesehen wird, und mahnte eine auch theologisch angemessene Sicht- und Handlungsweise an: „Als Christen haben wir die Pflicht, an der Seite der Unterdrückten, der Geknechteten, der Armen, der mit Vorurteilen Belasteten und ungerecht Behandelten zu stehen – IMMER. Neutralität darf keine Option sein, denn sie begünstigt immer den Unterdrücker. Immer.“

Wenn Deutsche oft davon sprechen, dass sie unermessliche Schuld gegenüber den Juden auf sich geladen haben, so bekennen sie damit auch ihre Schuld gegenüber den Palästinensern. Denn der Holocaust wird vom Staat Israel dazu benutzt, deren Unterdrückung und den Raub ihres Landes zu rechtfertigen. Dabei hatte Erzbischof Tutu durchaus den gerade für uns Deutsche so wichtigen Imperativ im Blick, für das Lebensrecht von Juden und Israelis einzutreten.

Allerdings sah er Israel nicht nur von äußeren Feinden bedroht. Selbst der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak spricht ja von einem „sprießenden Faschismus“ innerhalb Israels. Die jahrzehntelange völkerrechtswidrige,
mit erheblicher Gewalt aufrecht erhaltene Besetzung Palästinas zerstört auch die moralischen Grundlagen in der israelischen Gesellschaft selbst. Deswegen konnte Erzbischof Tutu in seinem Brief an den Deutschen Evangelischen Kirchentag gerade auch um Israels willen sagen: „…fordert öffentlich und solidarisch Freiheit für Palästina, damit auch Israel frei sein kann.“

Uns ist bewusst, wie stark der politische Anpassungsdruck auf allen kirchlichen Amtsträgern lastet, wenn es um diese Fragen geht. Fast alle politischen Parteien haben die Sicherheit Israels, einer der stärksten Militärmächte der Welt und dominierende regionale Hegemonialmacht, zur deutschen „Staatsräson“ erhoben. Dieser vordemokratische Begriff aus dem ideologischen Fundus des Obrigkeitsstaates lässt das Fragen nach der Sicherheit Palästinas vor Israel gleichsam als Hochverrat erscheinen. Gerade deshalb wiederholen wir unsere dringliche Bitte: Suchen Sie auch um Israels willen das direkte Gespräch mit den palästinensischen Glaubensgeschwistern, widerstehen Sie der Versuchung, ihren Hilferuf weiter zu ignorieren. Ein glaubwürdiges Wort der Hoffnung, „die uns als Christen trägt“, wird nicht gelingen, wenn man das „Wort des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“ ignoriert. In diesem Sinn erwarten wir Ihre geplante Botschaft aus dem Heiligen Land, „in der wir unseren Glauben bekennen und ein über die Kirche hinausweisendes Zeugnis von der Hoffnung geben, die uns als Christen trägt.“

Wir sagen es noch einmal mit Erzbischof Tutus Worten: „Bitte schließt euch der ökumenischen Kairos-Bewegung an und fordert öffentlich und solidarisch Freiheit für Palästina, damit auch Israel frei sein kann.“

Im Auftrag des Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzes
grüßt Sie herzlich
Hildegard Lenz
Koordination des Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzes in Deutschland

 

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