„Was Besatzung heißt“ – ein Bericht in der F.A.Z. von Jochen Stahnke

Am 13. September 2017 brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (faz.net) eine erstaunlich informative und objektive Reportage über den tatsächlichen Alltag der Besatzung in Israel und über die israelische Organisation von Ex-Soldaten „Breaking the Silence“.

Der Bericht handelt vom amerikanischen Schriftsteller Michael Chabon (Pulitzerpreisträger), der in Hebron vor einer Rolle Stacheldraht steht, in der sich Müll verfangen hat. Er unterhält sich mit Jehuda Shaul, dem Gründer und führenden Kopf von „Breaking the Silence“. Hinter dem Stacheldraht haben sich zehn jüdische Familien in Häusern angesiedelt, die seit Generationen palästinensischen Familien gehörten.

„Chabon trägt zum lockeren blauen Leinenhemd einen Strohhut, die graue Hose hört über den nackten Knöcheln auf, dazu schwarze Turnschuhe. ‚Du magst vielleicht denken, dass du weißt, was hier in den besetzten Gebieten los ist‘, sagt er. ‚Aber du tust es nicht – nicht, bis du es nicht mit eigenen Augen gesehen hast.‘ Er geht an einem vom israelischen Militär verschweißten Metalltor einer Garage vorbei. Es ist der Laden eines Palästinensers, der ihn nicht mehr betreten darf. Aus Sicherheitsgründen, um die Siedler zu schützen. ‚Vergast die Araber‘, ist auf das Tor gesprüht. Chabon macht ein Foto. ‚Wir wollen den Leuten, die nicht herkommen können, zeigen, wie es hier wirklich ist.‘

Chabon und Yehuda Shaul sind in Hebron, um den Palästinensern dort einen Essayband vorzustellen. Darin haben Chabon selbst und andere Schriftsteller aufgeschrieben, was sie hier, im Westjordanland, gesehen haben. […]

Plötzlich stehen Siedlerjungs auf der Straße, die Palästinenser nicht betreten dürfen. Sie wickeln sich T-Shirts ums Gesicht, rufen Shaul zu, dass er der Sohn einer dreckigen Hure sei, und werfen Wasserbomben. ‚Du bist Abfall‘, rufen sie. Shaul reagiert nicht. Chabon deutet eine Verbeugung an und ruft dem Mob ‚danke, danke, mir war gerade so heiß‘ entgegen. Die Soldaten wedeln die Jugendlichen mit trägen Armbewegungen weg. Dann erklären sie die Straße zu ‚militärischem Sperrgebiet‘. Shaul, Chabon und ihre Begleiter müssen einen Umweg zum Haus der Palästinenser nehmen, die sie besuchen wollen. Die Siedlerjungen dürfen auf der Straße bleiben.“

Als Jude, sagt Chabon, wüsste er manchmal nicht mehr, was er sagen soll, wenn hier in Hebron Araber in die Gaskammer gewünscht würden. Die einzige Erklärung sei, dass eine Besatzung nicht nur die Besetzten treffe, sondern auch die Besatzer verändere. „So schlimm es für die Palästinenser ist“ sagt Chabron, „so schlimm ist die Situation auch für die israelische Gesellschaft.“

In Israel würden die Probleme in Hebron weitgehend ignoriert. Kaum ein Israeli sei je in Hebron gewesen. In dem einzigen Ort im Westjordanland, in dem jüdische Siedler mitten in einer palästinensischen Stadt lebten. Jehuda Shaul: Hebron sei ein „Labor“, in dem konzentriert zu sehen sei, was überall im Westjordanland los sei.

Es war aufsehenerregend, dass sich der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel bei seinem letzten Besuch in Israel demonstrativ mit „Breaking the Silence“ getroffen hat. Woraufhin Benjamin Netanyahu sein Treffen mit Gabriel platzen ließ.

Die Bundesregierung würde, so der faz.net-Bericht weiter, „Breaking the Silence“ indirekt über die Finanzierung der Organisationen Misereor und Medico International unterstützen. Sie hätte der NGO im vergangenen Jahr 165.000 und 20.000 Euro überwiesen.

Der frühere israelische Geheimdienstchef Ami Ayalon habe sich fassungslos über das Verhalten Netanjahus gezeigt: „Breaking the Silence ist der Spiegel, der uns zeigt, was uns auch die Welt sagt“, habe er im Radio gesagt. „Deswegen möchten wir diesen Spiegel zerbrechen oder ihn zumindest nicht anschauen.“ Der kürzlich ausgeschiedene Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, Tamir Pardo, würde die Besatzung für die einzige existentielle Bedrohung halten, der Israel heute gegenüberstehe. Auch eine Handvoll weiterer früherer Geheimdienstchefs habe sich ähnlich geäußert.

Jehuda Shaul berichtet im weiteren Verlauf des Berichts über seine Situation: er werde gehasst und mit feindseligen facebook-Kommentaren konfrontiert („eine Kugel zwischen die Augen drücken“). Andererseits habe er viele Freunde in Militär und Geheimdienst und seine Organisation werde von tausenden Einzelspendern in Israel unterstützt.

Seine härtesten Gegner allerdings würden in der Regierung sitzen. Bildungsminister Naftali Bennett habe ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Breaking the Silence verbiete, in Schulen zu sprechen. Im vergangenen Jahr habe Netanjahus Kabinett mit knapper Mehrheit ein weiteres Gesetz verabschiedet, das eine öffentliche Meldepflicht der Finanzen von Organisationen vorsehe, die den größeren Teil ihres Geldes von Staaten oder Organisationen aus dem Ausland erhielten.

„Breaking the Silence“ mache trotz der Anfeindungen seitens der israelischen Regierung und dem Hass von großen Teilen der israelischen Gesellschaft gegen sie weiter. „Wie viele Leute sind damals in Amerika gegen die Rassentrennung aktiv geworden – eine Minderheit. Ich gehe nicht danach, was die Mehrheit will, sondern was Recht und Werte sind.“

Netanjahu behaupte zwar regelmäßig, „Breaking the Silence“ gehe es darum, Soldaten zu kriminalisieren. Es handele sich um eine antiisraelische „linksradikale Randgruppe“, die den „Interessen von Israels Feinden diene“. Shaul hält dagegen: „Es geht uns nicht darum, Soldaten vor Gericht zu bringen, sondern den Alltag und die Mechanismen der Besatzung zu zeigen.“

Einer seiner Kameraden stehe gerade selbst vor Gericht: Dean Issacharoff, der Sohn des neuen israelischen Botschafters in Deutschland. Der Sohn hätte davon berichtet, wie er in Hebron als Soldat auf Befehl seines Vorgesetzten einen unbewaffneten Palästinenser ohne Grund bewusstlos geprügelt habe, der an einer Demonstration teilgenommen hatte. Als Soldat habe es keine anderen Möglichkeiten gegeben, polizeilich gegen palästinensische Zivilisten vorzugehen, sagte Issacharoff. Justizministerin Ayelet Shaked von der Siedlerpartei „Jüdisches Heim“ habe den israelischen Generalstaatsanwalt daraufhin aufgefordert, den Fall zu untersuchen – auch wenn ihr Amt ihr das rechtlich nicht zugestehe. „Wenn das tatsächlich passiert ist, verdient er eine Bestrafung“, sagte Shaked. „Wenn es nicht passiert ist, dann soll der Staat offiziell sagen, dass es nicht passiert ist.“

Wer sind die Ex-SoldatInnen von Breaking the Silence. Auch darüber berichtet die faz.net-Reportage. „Die scheidende Vorsitzende von Breaking the Silence ist die Tochter der Leiterin der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Es sind die Kinder der westlich orientierten europäischstämmigen Eliten, die Breaking the Silence prägen. […] Breaking the Silence ist (also) Teil eines größeren Kulturkampfes. Er findet innerhalb von Israel statt, die Palästinenser stehen an der Seite. Shaul sagt, die Bereitschaft zur anonymen Aussage sei unter den jungen Soldaten nicht geringer geworden. Und die Spenden seien so hoch wie noch nie.“

Die faz.net-Reportage ist anlässlich der Vorstellung eines Essay-Bandes geschrieben worden, an dem Chabon und viele andere Schriftsteller aufgeschrieben haben, was sie in Hebron gesehen und erlebt haben. Autoren hätten Schlange gestanden, um an diesem Essay-Band mitzuarbeiten. Auch Mario Vargas Llosa, Dave Eggers und die Österreicherin Eva Menasse hätten dafür das Westjordanland besucht. Nur unter deutschen Schriftstellern habe es Zurückhaltung gegeben. Waldmann, einer Autoren, wollte sich das so erklären: „Ich glaube, die sind alle etwas eingeschüchtert, aber vielleicht war es auch Zufall.“

Der ganze Artikel kann hier nachgelesen werden: faz.net v. 13.09.2017
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/israels-soldaten-als-besatzer-gib-der-armee-keinen-grund-dich-zu-erschiessen-15180293.html

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