Die mildeste Sanktion gegen Israel

In der FAZ vom 10. Dezember 2019 erschien ein durchaus bemerkenswerter Gastartikel von Dahlia Scheindlin zur umstrittenen Frage der Kennzeichnung von Produkten aus den besetzten Gebieten. Scheindlin ist Politikwissenschaftlerin und Meinungsforscherin sowie Fellow der israelischen Denkfabrik Mitvim – The Israeli Institute for Regional Foreign Policies.

„Das Ur­teil des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs zur Kenn­zeich­nung von Sied­lungs­pro­duk­ten aus dem West­jor­dan­land hat so­wohl in Is­ra­el als auch in Deutsch­land zu hef­ti­ger Kri­tik ge­führt. Die Rich­ter hat­ten ent­schie­den, dass in von Is­ra­el be­setz­ten Ge­bie­ten pro­du­zier­te Gü­ter beim Ver­kauf in Eu­ro­pa als sol­che aus­ge­zeich­net wer­den müss­ten.

Knes­set­spre­cher Ju­li Edel­stein nann­te die Ent­schei­dung heuch­le­risch, Au­ßen­mi­nis­ter Is­ra­el Katz sprach von ei­nem mo­ra­li­schen Bank­rott. Der frü­he­ren Jus­tiz­mi­nis­te­rin Ay­let Shaked zu­fol­ge tra­ge das Ur­teil den ‚Ge­stank des An­ti­se­mi­tis­mus‘, und die stell­ver­tre­ten­de Au­ßen­mi­nis­te­rin Zi­pi Ho­to­vely er­klär­te, die Sied­lun­gen sei­en in­te­gra­ler Be­stand­teil Is­ra­els, es ge­be kei­nen Un­ter­schied zwi­schen ei­nem Pro­dukt aus dem West­jor­dan­land und Tel Aviv. Auch wenn die is­rae­li­sche Po­li­tik die im Sechs­ta­ge­krieg er­ober­ten Ge­bie­te als be­setzt, aber nicht an­nek­tiert be­han­delt, gab Ho­to­vely da­mit die po­li­ti­sche Hal­tung ih­rer Re­gie­rung wie­der, die der Grün­dung ei­nes pa­läs­ti­nen­si­schen Staa­tes wie­der­holt ei­ne ka­te­go­ri­sche Ab­sa­ge er­teilt hat.

Er­staun­li­cher wa­ren die Re­ak­tio­nen aus Deutsch­land, vor al­lem von Ak­teu­ren, die wei­ter­hin ei­ner Zwei-Staa­ten-Lö­sung ver­pflich­tet sind. Der ehe­ma­li­ge Grü­nen­po­li­ti­ker Vol­ker Beck be­klag­te, die Eu­ro­päi­sche Kom­mis­si­on (!) wen­de Völ­ker­recht of­fen­bar nur an, wenn es um Is­ra­el ge­he und nicht im Fal­le der West­sa­ha­ra. Die­se An­wen­dung dop­pel­ter Stan­dards sei an­ti­se­mi­tisch. Der An­ti­sem­tis­mus-Be­auf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung Fe­lix Klein äu­ßer­te sich ähn­lich, und auch in ver­schie­de­nen Zei­tun­gen war von ei­ner Dis­kri­mi­nie­rung Is­ra­els zu le­sen un­ter Ver­weis auf ähn­li­che Fäl­le wie die Krim oder Nord­zy­pern, in de­nen kei­ne Kenn­zeich­nung er­fol­ge.“

Dahlia Scheindlin allerdings weist auf etwas hin, was von Beck und anderen unerwähnt geblieben ist. Auf in Nord­zy­pern her­ge­stell­te Pro­duk­te er­hebe die EU so ho­he Zöl­le, dass sie ei­nem Ein­fuhr­ver­bot gleich­kämen. Auch nach 2004 seien die­se Re­strik­tio­nen kaum ge­mil­dert wor­den. Für Wa­ren aus der rus­sisch be­setz­ten Krim be­stehe sogar ein voll­kom­me­nes Ein­fuh­rem­bar­go. Zu­dem habe die EU ge­gen Russ­land um­fang­rei­che Sank­tio­nen ver­hängt, nicht nur ge­gen Gü­ter von der Krim, son­dern auch ge­gen den En­er­gie- und Si­cher­heits­sek­tor. Rund 170 Per­so­nen würden ei­nem Ein­rei­se­ver­bot in die Eu­ro­päi­sche Uni­on unterliegen und das Land habe sei­nen Platz in den G8 ver­lo­ren.

„Das Vor­ge­hen ist al­so deut­lich här­ter als ge­gen­über dem jü­di­schen Staat.“ So die israelische Autorin. Und: „Be­züg­lich der West­sa­ha­ra hat der EuGH wie­der­holt, zu­letzt im ver­gan­ge­nen Jahr, ge­ur­teilt, dass das be­setz­te Ge­biet von sämt­li­chen Han­dels­ver­trä­gen mit der EU aus­ge­schlos­sen sein muss. Ana­log ver­fah­ren auch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten.“

Voll­kom­men an­ders ge­la­gert sei die Fra­ge Ti­bets. Kein ein­zi­ger EU-Mit­glied­staat sähe das Ter­ri­to­ri­um als be­setzt an. Viel­mehr gelte Ti­bet als in­te­gra­ler Be­stand­teil der Volks­re­pu­blik Chi­na. Dar­in un­ter­schei­de sich Eu­ro­pa nicht von Is­ra­el oder ei­nem be­lie­bi­gen an­de­ren Land, die al­le die ti­be­ti­sche Un­ab­hän­gig­keit nicht an­er­ken­nen. Selbst der Da­lai La­ma hat die For­de­rung nach der Un­ab­hän­gig­keit sei­nes Lan­des 1979 fal­len­ge­las­sen. Es gäbe Grund ge­nug, die­se Hal­tung zu kri­ti­sie­ren. Als Bei­spiel für die Dis­kri­mi­nie­rung Is­ra­els durch die EU tauge sie in­des nicht.

Die Ent­schei­dung des EuGH re­flek­tiere die völ­ker­recht­li­che Norm, die sich seit 1945 nach und nach durch­ge­setzt habe und der zu­fol­ge die ge­walt­sa­me, ein­sei­ti­ge Ver­schie­bung von Gren­zen un­zu­läs­sig sei. Is­ra­el ar­gu­men­tiere zwar, beim West­jor­dan­land han­de­le es sich um um­strit­te­nes, nicht be­setz­tes Ge­biet, weil es nie ei­nen pa­läs­ti­nen­si­schen Staat ge­ge­ben ha­be und Jor­da­ni­en seit 1988 kei­nen An­spruch mehr dar­auf er­he­be. Ein­schlä­gi­ge Ur­tei­le würden jedoch zei­gen, dass die völ­ker­recht­li­che Norm auch in die­sen Fäl­len Gültigkeit habe. Zu­dem sei das Exis­tenz­recht ei­nes zu­künf­ti­gen pa­läs­ti­nen­si­schen Staa­tes in zahl­rei­chen in­ter­na­tio­na­len Er­klä­run­gen an­er­kannt wor­den.

Die notwendige Schlussfolgerung: „Da­mit aber stellt der Bau is­rae­li­scher Sied­lun­gen im be­setz­ten Ge­biet ei­nen Bruch des Völ­ker­rechts dar, auf den die EU re­agie­ren muss.

Wenn die Be­hand­lung Is­ra­els au­ßer­ge­wöhn­lich ist, dann eher, weil der Staat sich be­son­de­rer Un­ter­stüt­zung durch die EU und vie­ler ih­rer Mit­glied­staa­ten er­freut. Da­zu ge­hört ne­ben der Be­tei­li­gung Is­ra­els am eu­ro­päi­schen For­schungs­rah­men­pro­gramm Ho­ri­zon 2020 auch ein bei­spiels­wei­se um­fas­sen­des Frei­han­dels­ab­kom­men. Das heißt, wäh­rend die in der West­bank her­ge­stell­ten Wa­ren künf­tig ein ent­spre­chen­des La­bel tra­gen müs­sen, ge­nie­ßen die in Is­ra­el pro­du­zier­ten pri­vi­le­gier­ten Zu­gang zum eu­ro­päi­schen Markt. Auch im Nach­gang zu dem EuGH-Ur­teil er­klär­te die EU, ent­schie­den ge­gen je­den Boy­kott is­rae­li­scher Pro­duk­te ein­zu­tre­ten. Das La­be­ling scheint aus die­ser Per­spek­ti­ve die mil­dest mög­li­che Form der öko­no­mi­schen Sank­tio­nie­rung ei­ner in ih­rer kon­kre­ten Form völ­ker­rechts­wid­ri­gen Be­sat­zungs­herr­schaft zu sein.

Das al­les heißt nicht, dass man die Kenn­zeich­nung nicht ab­leh­nen kann. Aber die Ent­schei­dung soll­te sich nicht auf fal­sche Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen stüt­zen.“

Die Au­to­rin ist Po­li­tik­wis­sen­schaft­le­rin und Mei­nungs­for­sche­rin so­wie Fel­low der is­rae­li­schen Denk­fa­brik Mit­vim – The Is­rae­li In­sti­tu­te for Re­gio­nal For­eign Po­li­cies.

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