„Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Kennzeichnung von Siedlungsprodukten aus dem Westjordanland hat sowohl in Israel als auch in Deutschland zu heftiger Kritik geführt. Die Richter hatten entschieden, dass in von Israel besetzten Gebieten produzierte Güter beim Verkauf in Europa als solche ausgezeichnet werden müssten.
Knessetsprecher Juli Edelstein nannte die Entscheidung heuchlerisch, Außenminister Israel Katz sprach von einem moralischen Bankrott. Der früheren Justizministerin Aylet Shaked zufolge trage das Urteil den ‚Gestank des Antisemitismus‘, und die stellvertretende Außenministerin Zipi Hotovely erklärte, die Siedlungen seien integraler Bestandteil Israels, es gebe keinen Unterschied zwischen einem Produkt aus dem Westjordanland und Tel Aviv. Auch wenn die israelische Politik die im Sechstagekrieg eroberten Gebiete als besetzt, aber nicht annektiert behandelt, gab Hotovely damit die politische Haltung ihrer Regierung wieder, die der Gründung eines palästinensischen Staates wiederholt eine kategorische Absage erteilt hat.
Erstaunlicher waren die Reaktionen aus Deutschland, vor allem von Akteuren, die weiterhin einer Zwei-Staaten-Lösung verpflichtet sind. Der ehemalige Grünenpolitiker Volker Beck beklagte, die Europäische Kommission (!) wende Völkerrecht offenbar nur an, wenn es um Israel gehe und nicht im Falle der Westsahara. Diese Anwendung doppelter Standards sei antisemitisch. Der Antisemtismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein äußerte sich ähnlich, und auch in verschiedenen Zeitungen war von einer Diskriminierung Israels zu lesen unter Verweis auf ähnliche Fälle wie die Krim oder Nordzypern, in denen keine Kennzeichnung erfolge.“
Dahlia Scheindlin allerdings weist auf etwas hin, was von Beck und anderen unerwähnt geblieben ist. Auf in Nordzypern hergestellte Produkte erhebe die EU so hohe Zölle, dass sie einem Einfuhrverbot gleichkämen. Auch nach 2004 seien diese Restriktionen kaum gemildert worden. Für Waren aus der russisch besetzten Krim bestehe sogar ein vollkommenes Einfuhrembargo. Zudem habe die EU gegen Russland umfangreiche Sanktionen verhängt, nicht nur gegen Güter von der Krim, sondern auch gegen den Energie- und Sicherheitssektor. Rund 170 Personen würden einem Einreiseverbot in die Europäische Union unterliegen und das Land habe seinen Platz in den G8 verloren.
„Das Vorgehen ist also deutlich härter als gegenüber dem jüdischen Staat.“ So die israelische Autorin. Und: „Bezüglich der Westsahara hat der EuGH wiederholt, zuletzt im vergangenen Jahr, geurteilt, dass das besetzte Gebiet von sämtlichen Handelsverträgen mit der EU ausgeschlossen sein muss. Analog verfahren auch die Vereinigten Staaten.“
Vollkommen anders gelagert sei die Frage Tibets. Kein einziger EU-Mitgliedstaat sähe das Territorium als besetzt an. Vielmehr gelte Tibet als integraler Bestandteil der Volksrepublik China. Darin unterscheide sich Europa nicht von Israel oder einem beliebigen anderen Land, die alle die tibetische Unabhängigkeit nicht anerkennen. Selbst der Dalai Lama hat die Forderung nach der Unabhängigkeit seines Landes 1979 fallengelassen. Es gäbe Grund genug, diese Haltung zu kritisieren. Als Beispiel für die Diskriminierung Israels durch die EU tauge sie indes nicht.
Die Entscheidung des EuGH reflektiere die völkerrechtliche Norm, die sich seit 1945 nach und nach durchgesetzt habe und der zufolge die gewaltsame, einseitige Verschiebung von Grenzen unzulässig sei. Israel argumentiere zwar, beim Westjordanland handele es sich um umstrittenes, nicht besetztes Gebiet, weil es nie einen palästinensischen Staat gegeben habe und Jordanien seit 1988 keinen Anspruch mehr darauf erhebe. Einschlägige Urteile würden jedoch zeigen, dass die völkerrechtliche Norm auch in diesen Fällen Gültigkeit habe. Zudem sei das Existenzrecht eines zukünftigen palästinensischen Staates in zahlreichen internationalen Erklärungen anerkannt worden.
Die notwendige Schlussfolgerung: „Damit aber stellt der Bau israelischer Siedlungen im besetzten Gebiet einen Bruch des Völkerrechts dar, auf den die EU reagieren muss.
Wenn die Behandlung Israels außergewöhnlich ist, dann eher, weil der Staat sich besonderer Unterstützung durch die EU und vieler ihrer Mitgliedstaaten erfreut. Dazu gehört neben der Beteiligung Israels am europäischen Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 auch ein beispielsweise umfassendes Freihandelsabkommen. Das heißt, während die in der Westbank hergestellten Waren künftig ein entsprechendes Label tragen müssen, genießen die in Israel produzierten privilegierten Zugang zum europäischen Markt. Auch im Nachgang zu dem EuGH-Urteil erklärte die EU, entschieden gegen jeden Boykott israelischer Produkte einzutreten. Das Labeling scheint aus dieser Perspektive die mildest mögliche Form der ökonomischen Sanktionierung einer in ihrer konkreten Form völkerrechtswidrigen Besatzungsherrschaft zu sein.
Das alles heißt nicht, dass man die Kennzeichnung nicht ablehnen kann. Aber die Entscheidung sollte sich nicht auf falsche Tatsachenbehauptungen stützen.“
Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und Meinungsforscherin sowie Fellow der israelischen Denkfabrik Mitvim – The Israeli Institute for Regional Foreign Policies.