Erstaunliches über Antisemitismus in der FAZ

In der eher konservativ orientierten gutbürgerlichen FAZ erschien am 19.1.2020 ein sehr differenzierter Artikel über Antisemitismusdefinitionen sowie dem damit einhergehenden Versuch, den Inhalt des Begriffs „Antisemitismus“ so auszuweiten, dass er auch die Kritik an der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzungspolitik mit einschließt.

Der Autor Christian Meier arbeitet in seinem Artikel heraus, daß Antisemitismusvorwürfe „Munition im Meinungskampf“ sind und dass Antisemitismus niemals statisch sei. Das Ressentiment passe sich an und aktualisiere seine Motive. Es füge sich geschmeidig in Diskurse ein, die von der Globalisierung bis zur Lage im Nahen Osten reichten.

Er schreibt: „Vorurteile gegenüber und Hass auf Juden hat es schon vor der Moderne gegeben, sie sind sogar sehr alt – und waren vor allem religiös geprägt. Seit dem 19. Jahrhundert haben sie sich jedoch verändert, sind in Wechselwirkung mit geistigen Strömungen wie dem Nationalismus oder der Rassenkunde getreten. Schließlich gab es ein ausformuliertes pseudowissenschaftliches Theoriegebäude, das ganz dem herrschenden Ungeist der Zeit entsprach. In Deutschland wurde es zum Regierungsprogramm, mit katastrophalen Folgen. Nach dem Holocaust hat der Antisemitismus weitere Wandlungen durchgemacht. Bis heute. Das antisemitische Ressentiment passt sich an, es aktualisiert seine Motive und fügt sich geschmeidig in Diskurse ein, die von der Globalisierung bis zur Lage im Nahen Osten reichen. In seinen unterschiedlichen Gewändern lässt sich der Antisemitismus fast überall entdecken, am Stammtisch ebenso wie an manchem noblen Rednerpult. Im Internet sowieso. Und auf den Straßen. Der Leiter der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) sprach vergangenes Jahr vom „antisemitischen Grundrauschen“, das für Juden den Alltag in der Stadt präge.“

Seit dem Angriff in Halle erhöhe sich die Besorgnis! Lange Zeit waren antisemitische Vorfälle und Einstellungen in Deutschland nicht dauerhaft öffentliches Thema. Das zumindest hat sich geändert. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Würdenträger warnt und mahnt, an dem nicht neue Strategien beschlossen oder schärfere Maßnahmen gefordert werden. Denn kaum ein Tag vergeht auch ohne antisemitische Übergriffe – der dramatischste im vergangenen Jahr war der Angriff auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober, dem zwei Menschen zum Opfer fielen, während viele weitere knapp mit dem Leben davonkamen. Wenn in der kommenden Woche an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren erinnert wird, dann geschieht das auch im Zeichen einer erhöhten Besorgnis.“

Und: „aller Forschung zum Trotz tun sich selbst Fachleute oft schwer, den gegenwärtigen Antisemitismus auf Anhieb bündig zu definieren. Sie sagen dann etwa, jede Erklärung„zerrinne“, sprechen von Antisemitismus als einem „Chamäleon“ oder vergleichen ihn mit einem sich stetig verändernden „Virus“. Der Grund ist seine Vielgestaltigkeit und der Umstand, dass Antisemitismus heute oft getarnt auftritt.“

Die Signale, die aus dem politischen Raum kommen, stünden oft völlig im Gegensatz dazu.

Antisemitismus ist Antisemitismus ist Antisemitismus“, sagte Israels Staatspräsident Reuven Rivlin Anfang November bei einem Treffen mit den Antisemitismusbeauftragten verschiedener Länder. „Grauzonen“ gebe es nicht. Rivlins Einwurf war auf die Frage gemünzt, ob etwa Boykottaufrufe gegen Israel als antisemitisch zu werten seien, und er sprach damit einen zentralen Punkt vieler Debatten an. Schon seit einigen Jahren zeigt sich eine zunehmende Aufladung des Themas mit dem Nahostkonflikt. Daneben haben die Einwanderung aus dem islamischen Kulturkreis nach Europa und der Aufschwung von Parteien am rechten Rand die gegenwärtigen Erscheinungsformen des Antisemitismus beeinflusst.“

All dies habe „zu einer unübersichtlichen und teilweise vergifteten Debatte beigetragen. Alarmismus und (als Reaktion darauf) Verharmlosung sind zwei regelmäßig erhobene Vorwürfe. Oft werden Dinge vereinfacht, andere verunklart. Regelmäßig kursieren Angaben und Zahlen, die zu interpretieren schwierig ist. Was soll beispielsweise davon zu halten sein, wenn es in Medienberichten heißt, „jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch“?“

Christian Meier konstatiert, dass die Forschung seit langem daran arbeite, die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung zu ermitteln. Sie habe dazu ein differenziertes Instrumentarium entwickelt. So habe die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 einen Rückgang des Anteils von Menschen mit „geschlossen antisemitischem“ Weltbild von 9,3 Prozent im Jahr 2012 auf 4,4 Prozent im Jahr 2018 verzeichnet. Aufgrund der hohen sozialen Ächtung antisemitischer Äußerungen in Deutschland würden die Autoren allerdings von einem großen „Dunkelfeld“ ausgehen.

Was aber wird da genau gemessen? In den Fragebögen ermitteln die Forscher die Meinung zu verschieden eingestuften Aussagen. Als Zeichen für einenprimären oder traditionellen Antisemitismus gilt die Zustimmung zu Sätzen, die sich direkt gegen Juden richten. Zum Beispiel Juden haben zu viel Einfluss oder Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind„.

Wesentlich weiter verbreitet sei allerdings der „sekundäre“ Antisemitismus, der oft der Schuldabwehr diene. Er trete zutage in Aussagen wie ‚Reparationsforderungen an Deutschland nützen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten.

Da die Leipziger Studie autoritäre und rechtsextreme Einstellungen insgesamt ermittelt, ist es möglich, die betroffene Personengruppe genauer zu charakterisieren: So neigen Menschen mit antisemitischen Einstellungen oft zu Feindseligkeit gegenüber Muslimen oder Sinti und Roma; sie weisen eine leicht höhere Gewaltbereitschaft auf; und sie tendieren zu (extrem) rechten politischen Einstellungen. In Krisenzeiten steigt die Anfälligkeit für antisemitische Ressentiments; deutlich war das während der Finanzkrise zwischen 2008 und 2012. Auch deswegen gehen die Autoren davon aus, dass das Potential für Antisemitismus in Deutschland unverändert hoch ist. Betroffen sind ihnen zufolge insbesondere Menschen, die sich den Umbrüchen der Zeit hilflos ausgeliefert fühlen; diese Menschen neigten auch dazu, die AfD zu wählen. Dass auch ein starker Zusammenhang zwischen der Neigung zu Verschwörungsdenken und antisemitischen Einstellungen besteht, verweist auf einen wichtigen Umstand für die Abgrenzung des Phänomens. Denn Antisemitismus ist nicht einfach ein Vorurteil. Das sei„ein zu schwacher Begriff und zu oberflächlich, um Antisemitismus als Phänomen wirklich zu begreifen“, sagt Stefanie Schüler-Springorum, die Direktorin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. In seiner festen Ausprägung, so die Historikerin, komme Antisemitismus als „Verschwörungstheorie“ daher. Er gilt dabei nicht der einzelnen jüdischen Person, sondern dem (imaginierten) jüdischen Kollektiv. Bei dem Sozialphilosophen Moishe Postone heißt es: „Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfassbare internationale Verschwörung.“ Aus diesem Grund ist Antisemitismus auch etwas anderes als Rassismus: Während bei letzterem bestimmte Gruppen „nach unten“ abgewertet werden, zielt ersterer in eine andere Richtung: auf eine fremde Gefahr. Beide treten aber oft zusammen auf.

Antisemitismus kann sich auf vielerlei Arten äußern – trotz oder gerade wegen des Tabus des offen artikulierten Antisemitismus, das in vielen Ländern herrscht. Dass festgefügte antisemitische Einstellungen der Autoritarismus-Studie zufolge abgenommen haben, widerspricht insofern nicht dem weitverbreiteten Eindruck von einer Zunahme des Antisemitismus in den vergangenen Jahren und einem Anstieg entsprechender Straftaten. Strittig ist vor allem, in welchem Maße die steigende Zahl registrierter Übergriffe auf arabisch-muslimische Zuwanderung zurückgeht – und welche Rolle der Islam dabei spielt. Bei Muslimen lassen sich, genau wie bei Christen, religiöse Traditionen gegen Juden in Stellung bringen. In Interviews, die der Politologe David Ranan mit Muslimen in Deutschland führte, trat denn auch eine große Bandbreite an Vorurteilen und Verschwörungstheorien über Juden zutage – die jedoch meist nicht auf den Koran, sondern auf Israel zurückgriffen. Zudem konnten die meisten Interviewpartner kaum die Begriffe„Jude“, „Israeli“ und „Zionist“ auseinanderhalten. Ranan glaubt deshalb, man müsse unterscheiden zwischen vom Nahostkonflikt stammenden antijüdischen Einstellungen und dem „echten“ Antisemitismus von Islamisten.“

Da auch das Thema BDS Gegenstand einer lebhaften Debatte und heftiger politischer Einflussnahme ist, stellt der Autor der FAZ die abschließenden Frage, ob die BDS-Bewegung antisemitisch sei und bezieht hier auch eindeutig Stellung: Es kommt dabei„, so Christian Meier, „häufig zu paranoiden Diffamierungen‚. Die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat ein finanziell gut ausgestattetes Ministerium eingerichtet, das sich dafür einsetzt, dass Kritik an Israel und an der Besatzung möglichst oft als antisemitisch gebrandmarkt wird. Währenddessen versuchen manche Unterstützer der palästinensischen Sache, Israel als koloniales Apartheid-Projekt darzustellen. Die BDS-Bewegung wirbt für Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen, um zu erreichen, dass Israel den Palästinensern ihre historischen Rechte zugesteht. Dass sie antisemitisch sein soll, weist die Bewegung von sich, duldet aber offenbar antisemitische Umtriebe in ihren – heterogenen – Reihen.

Ihre Kritiker sagen dieser Bewegung darüber hinaus nach, dass sie ganz grundsätzlich antisemitisch sei, unter anderem weil sie Israels Existenzrecht als jüdischer Staat infrage stelle. Dieser Vorwurf ist allerdings die Folge einer mangelnden Unterscheidung: Im Kontext des Nahostkonflikts – der ein politisch-territorialer Konflikt ist – ist eine gegen Israel gerichtete Haltung ohne antisemitische Motive durchaus denkbar. Sie kann antisemitisch sein; ob das so ist, lässt sich aber nur durch eine Analyse des Einzelfalls ermitteln. Eine solche Analyse steht und fällt freilich mit der Messlatte, die angelegt wird. Auch dieses Feld ist sehr umstritten.

So gibt es eine bestimmte Antisemitismusdefinition, die zuletzt immer weitere Verbreitung fand: die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Sie wurde 2016 von der zwischenstaatlichen Organisation verabschiedet und seither von mehreren Organisationen und Ländern übernommen, unter anderem von Deutschland. Das Dokument besteht aus einer kurzen Definition, gefolgt von einer Reihe von Erläuterungen und Beispielen. Verschiedentlich wurde Kritik daran geäußert. Der Soziologe Peter Ullrich schrieb kürzlich ein ganzes Gutachten, in dem er die immense Vagheit der IHRA-Definition bemängelte. Diese beginnt mit der Formulierung, Antisemitismus sei eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass auf Juden äußern kann.

An den Beispielen wird kritisiert, dass sieben von elf einen Bezug zu Israel haben. Dort ist als Beispiel für Antisemitismus etwa zu finden: Das Anlegen doppelter Standards, indem man von ihm (Israel) ein Verhalten fordert, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird. Phänomene wie christlicher Antisemitismus oder Weltmachtphantasien seien in der Liste dagegen unterbelichtet, kritisiert etwa Schüler-Springorum. Selbst manche Personen, die am Zustandekommen des Dokuments beteiligt waren, sagen heute, die Beispiele seien als alltagstaugliche Hilfestellungen gedacht gewesen, nicht als umfassende Definition. Dennoch wird die „Arbeitsdefinition“ als solche benutzt – und wird so zur Munition im Meinungskampf um Legitimierung und Delegitimierung politischer Positionen. Diese Auseinandersetzungen haben längst auch Deutschland erreicht. Selbst manche Institutionen, die nur indirekt in Kontakt mit der BDS-Bewegung geraten sind, werden mit Antisemitismus-Vorwürfen belegt. Diese Art von paranoider Diffamierung – so der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik – ist das Ergebnis eines schlichten Antisemitismusbegriffs, dem ein Verständnis für die Komplexität des Themas fehlt.“

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