Prof. Dr. Norman Paech: „Völkermord, Terrorismus und Völkerrecht in Gaza“

Prof. Dr. Norman Paech hielt diesen Vortrag am 20. November in Essen und hat ihn für die Veröffentlichung in BIP Aktuell angepasst und aktualisiert. In seinem Vortrag erörtert er die Rolle Israels, der USA, Deutschlands und der Hamas, die Rolle des Terrorismus und die des Völkerrechts, insbesondere das Recht von Befreiungsbewegungen auf bewaffneten Widerstand.

Seit nunmehr gut zwölf Monaten herrscht in Gaza ein Inferno, welches mit dem Wort Krieg zu harmlos beschrieben wird. Hier wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Völkermord verübt, den wir nach 1945 nicht mehr für möglich gehalten haben. Sie alle kennen die grauenerregenden Details, die uns täglich über Radio und Fernsehen geliefert werden, obwohl sie bei Weitem nicht die Realität abbilden, Teile verharmlosen oder verschweigen und nicht einmal das kritische Niveau der israelischen Presse erreichen. Die Anzahl der Opfer steigt täglich, selbst ausgewiesene Flucht- und Sicherheitszonen sind nicht vor gezielten Angriffen sicher. Dies alles, vom 7. Oktober 2023 bis zum heutigen Tag, kann man unter dem Begriff Terrorismus versuchen zu erfassen. Aber ist er überhaupt geeignet, das zu erfassen, was derzeit im Gazastreifen geschieht?

Die israelischen Streitkräfte griffen zwischen Oktober und Januar das Kamal-Adwan-Krankenhaus im nördlichen Gazastreifen an, belagerten das Krankenhaus, töteten Patienten und Personal und verhafteten und folterten den Leiter des Krankenhauses, Dr. Husam Abu Safia. Quelle: 2024, Euroemed.

Wir müssen deshalb nach den Gründen, dem Hintergrund der Kriegsziele und ihrer Motive für die vollkommen aus den Normen geratene Kriegswut fragen. Das mag dann einigen Aufschluss für die völkerrechtliche Bewertung des Terrorismus zu geben
Betrachten wir also die Intention und Strategie der Hauptbeteiligten Israel, USA und Hamas.

1.Israel

Netanjahu spricht offen aus, was er will, und man sollte ihn wörtlich nehmen: die Vernichtung der Hamas und die Säuberung des Gazastreifens, was immer es kostet.
Das ist die Vollstreckung des expansiven und aggressiven Zionismus, wie er bei Ben Gurion schon angelegt und von Wladimir Zeev Jabotinsky weiter in die jüdische Gesellschaft gepflanzt wurde. Ob Schamir, Scharon, Olmert oder Netanjahu, sie alle sind Exponenten dieses scharfen, auf Expansion, Landraub und Vertreibung zielenden Zionismus nach dem alten Schlachtruf von Ben Gurion. „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Was 1948/49 mit der Staatsgründung Israels für die palästinensische Bevölkerung zur Nakba–Katastrophe wurde, war nur der Auftakt einer Vision, die der Zionismus nie aus den Augen verloren hat. Wer drohte, sie zu vergessen oder zu verleugnen – wie Rabin – wurde ermordet. Die Radikalität dieser Ideologie scheute nie vor Krieg und militärischer Gewalt zurück, da ihr mit ihrer militärischen Überlegenheit der Sieg immer sicher war. Allerdings werden das Ausmaß und die Unbedingtheit dieser Radikalität erst jetzt in Gaza deutlich, wo die politische und militärische Führung die Schwelle zum Völkermord überschritten hat.

Auch der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson macht sich keine Illusionen über die historische Tiefe dieser Politik. In seinen Worten: „Der Völkermord, den Sie heute erleben, ist also eine ausdrückliche Politik, und das war die Politik der Vorväter, der Gründer Israels. Die Idee eines Landes ohne Menschen war ein Land ohne Araber, ein Land ohne nicht-jüdische Menschen. Das war es, was es wirklich bedeutete. Sie sollten noch vor der offiziellen Gründung Israels, der ersten Nakba, dem arabischen Holocaust, vertrieben werden. Und die beiden israelischen Premierminister Menachem Begin und Yitzhak Shamir waren Mitglieder der Stern-Bande von Terroristen. Die Terroristen wurden zu den Herrschern Israels …“

In einem Weißbuch, das mehr als eine Woche nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde, präsentierte das „Institut für nationale Sicherheit und zionistische Strategie“ „einen Plan für die Umsiedlung und endgültige Eingliederung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens in Ägypten“, der auf der „einzigartigen und seltenen Gelegenheit zur Evakuierung des gesamten Gazastreifens“ basiert (siehe BIP-Aktuell #279). Das Dokument beginnt mit der Feststellung, dass im benachbarten Ägypten zehn Millionen Wohnungen leer stehen, die „sofort“ mit Palästinensern besetzt werden könnten. „Der nachhaltige Plan stimmt gut mit den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Staates Israel, Ägyptens, der USA und Saudi-Arabiens überein.“ Der Autor schlägt zudem vor, dass Israel diese Grundstücke für fünf bis acht Milliarden Dollar kauft, die gerade einmal 1 bis 1,5 Prozent des israelischen BIP entsprechen. Der Plan lebt fort in dem, was von dem ehemaligen Generalstabschef Giora Eiland als „Generalsplan“ jetzt an die Öffentlichkeit gekommen ist (siehe BIP-Aktuell #323).

Im Jahr 2004 legte der israelische Demograph Arnon Sofer von der Universität Haifa der Regierung von Ariel Scharon detaillierte Pläne für die Isolierung des Gazastreifens vor. Die Pläne umfassten den vollständigen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gebiet und den Aufbau eines strengen Überwachungs- und Sicherheitssystems, das gewährleistet, dass niemand und nichts ohne israelische Genehmigung ein- oder ausreisen kann. So geschah es dann auch: Scharon ließ 2005 die Armee abziehen und evakuierte die Siedler. 2006, nach dem Wahlsieg der Hamas, verhängte er eine totale Blockade über den Gazastreifen. Sofer prophezeite ein ständiges Blutbad:
„Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgeriegelten Gazastreifen leben, wird das eine menschliche Katastrophe sein. Diese Menschen werden zu noch größeren Tieren werden, als sie es heute sind … Der Druck an der Grenze wird furchtbar sein. Es wird ein schrecklicher Krieg werden. Wenn wir also am Leben bleiben wollen, werden wir töten, töten und töten müssen. Den ganzen Tag, jeden Tag.“

Prophetische Worte, die Israel keine 20 Jahre später in die Realität umsetzen sollte.
Unabhängig von den ideologischen Triebkräften spielt natürlich die Überlebensstrategie Netanjahus eine Rolle. Es gab immer Stimmen, die vermuteten, dass Netanjahu den Krieg bis zu den US-Wahlen hinziehen werde und in dem möglichen neuen Präsidenten Trump seinen Rettungsanker sah – er hat dieses Ziel nun erreicht, die zionistische Lobby, nicht nur in Israel jubelt.

2. USA

Schauen wir auf die USA. Sie sind für Netanjahu und Israel seit Jahrzehnten der stärkste Verbündete und Schutzschild, so wie Israel für die USA der wichtigste Pfeiler im Mittleren Osten ist. Das liegt nicht nur an der jüdischen und evangelikalen Lobby in Washington, sondern vor allem an den nach wie vor in der Region liegenden reichen Ölvorkommen. Die strategische Position eines unbedingt loyalen und abhängigen Partners im arabischen Umfeld ist zudem besonders wichtig in der sich stetig aufbauenden Konfrontation zur Volksrepublik China. Die Dominanz im Nahen Osten ist einer der Fixpunkte US-amerikanischer Außenpolitik seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Noch einmal Michael Hudson in einem kürzlichen Interview zum Gaza-Krieg:
„Was Sie heute sehen, ist also nicht nur das Werk eines einzelnen Mannes, von Benjamin Netanjahu. Es ist das Werk des Teams, das Präsident Biden zusammengestellt hat. Es ist das Team von Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater, dem Außenminister Antony Blinken und dem ganzen tiefen Staat, der ganzen Neokongruppe hinter ihnen, Victoria Nuland und allen anderen. Sie alle sind selbst ernannte Zionisten. Und sie haben diesen Plan für die Beherrschung des Nahen Ostens durch Amerika Jahrzehnt für Jahrzehnt durchgespielt.“

Hudson meint sogar, dass die israelische Strategie der Besatzung und Kriegsführung auf den US-amerikanischen Praktiken und Erfahrungen im Vietnam-Krieg aufbaut. Ich will darauf hier nicht weiter eingehen. Ich stimme aber der Quintessenz seiner Analyse zu, dass die israelische Besatzungspolitik auf der gemeinsamen Strategie mit den USA beruht, den palästinensischen Faktor in der Region auszuschalten. Über die Methoden und Praktiken mag es, wie der Dissens über die Rafah-Offensive und die Säuberung des Nordens des Gazastreifens zwischen den Präsidenten Biden und Netanjahu zeigt, Meinungsverschiedenheiten geben – im gemeinsamen Ziel ihrer Politik sind sie sich aber einig.

Quelle (mit der freundlichen Genehmigung von Autor und BIP-Aktuell #331. BIP ist der wöchentliche Newsletter des Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) e.V. https://bip-jetzt.de/

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