Charlotte Wiedemann: „Das Trauma von 1948“. Wie sich palästinensische und jüdische Israelis an die Nakba erinnern

Es gab eine Zeit frischer, klarer Erinnerung, so klar wie der Himmel des Wintertags in der Novelle „Ein arabisches Dorf“. Sie erschien in Israel 1949, kaum ein Jahr nach der Staatsgründung.

Auszüge: „Wir sind gekommen und haben geschossen, niedergebrannt, gesprengt, verdrängt, vertrieben und verbannt. Wagen, Transporte. Woran erinnert dich das … Juden werden umgebracht. Europa. Jetzt sind wir die Herren. – Mit Hurra werden wir Wohnraum schaffen und Einwanderer eingliedern. Man wird die Felder pflügen und säen und abernten, ja wird Großes leisten. Es lebe das hebräische Chisa! Wer würde noch auf den Gedanken kommen, dass es einmal ein Chirbet Chisa gegeben hat, dass wir vertrieben und auch geerbt haben. – Meine Eingeweide schrien. Lüge schrie es in mir. Noch nie hat ein Maschinengewehr, Marke Spandau, irgendein Recht geschaffen. – In meinem Inneren stürzte etwas mit betäubender Wucht zusammen.“

Ein schmales Büchlein, geschrieben aus Sicht eines jungen Beteiligten an den Ereignissen des Jahres 1948. Der Verfasser S. Yishar, eigentlich Yiz­har Smilanski, war kein Außenseiter; als preisgekrönter Schriftsteller gehörte er später lange der Knesset an. Anspielungen auf den Holocaust, auf die Verflochtenheit von Genozid, Staatsgründung und der Entwurzelung eines anderen Volks fanden sich damals bei einer Reihe von Dichtern und Poeten, der Prominenteste war Abba Kovner, polnischer Partisan, Schoah-Überlebender, später Zeuge im Eichmann-Prozess.2 Und vereinzelt weigerten sich jüdische Ankömmlinge aus Europa, Überlebende auch sie, in Häuser zu ziehen, wo die Teller jener anderen Geflohenen noch auf dem Tisch standen.

Zu wissen, dass es in Israel eine Zeit gab, in der klar und humanistisch die eigene Beteiligung am Inhumanen benannt wurde, war mir eine Hilfe, als ich mich auf die Suche nach verscharrter Erinnerung und verscharrter Humanität machte.

Al-Nakba, Arabisch für Katastrophe, bezeichnet das erzwungene Ende angestammter palästinensischer Existenz in jenen drei Viertel des historischen Palästinas, die zu Israel wurden. Konkret: Flucht und Vertreibung von 750 000 Männern, Frauen und Kindern zwischen Herbst 1947 und Frühling 1949. Nur im geringeren Maße war dies eine desaströse Folge des Angriffs seitens der arabischen Nachbarstaaten; vielmehr galt es, für das junge Israel strategisch zu erkämpfen, was der Teilungsplan der Vereinten Nationen gar nicht vorsah: eine eindeutige, machtvolle und haltbare jüdische Mehrheit im künftigen Staat (siehe den nebenstehenden Kasten).

Was später geschah, in weniger als einem Jahrzehnt, war ein doppeltes Auslöschen von Erinnerung: an den Akt der Vertreibungen und an die vorherige Existenz der Vertriebenen. Ich spreche darüber mit dem Holocaust-Historiker Omer Bartov, geboren 1954. „Als Kinder spielten wir in der Nähe sogenannter verlassener Dörfer, und wir fragten niemals: Wohin gingen die Araber? Warum sind sie nicht da?“ Der Staat war, wie selbstverständlich, ein Staat mit jüdischer Mehrheit, „und ich hatte lange keine Ahnung, wie diese Mehrheit zustande gekommen war“.

Es habe damals zwei dominante Verneinungen gegeben: Nie über ein europäisches Gestern sprechen und nie über das Palästina, das es vorher gab. „Mit uns begann die Geschichte. Menschen wie ich galten als erste Generation von Einheimischen, während die Araber als die viel länger Einheimischen entnormalisiert wurden.“ Der Historiker erforscht in Israel die Biografien von Juden und Palästinensern seiner Generation und welche Bindung sie jeweils an das Land besaßen. Das palästinensische Einheimischsein zu bestreiten, sagt er, sei zur israelischen Staatsräson geworden.

Meine Suche nach dem Ausradierten beginnt in Tel Aviv: Die Stadt steht auf sechs zerstörten, getilgten palästinensischen Ortschaften – die Universität auf den Ruinen des Dorfs asch-Schaich Muwannis. Erhalten nur das Wohnhaus des Bürgermeisters, vom Fakultätsclub stillschweigend zum eleganten Restaurant umgebaut; kecke Verleugnung selbst an einer Stätte des Wissens. Im Ben-Gurion-Haus laufen Schwarz-Weiß- Film-Ausschnitte vom Unabhängigkeitskrieg, ohne Ton. Nichts von Vertreibungen, keine Kolonnen Flüchtender mit barfüßigen Kindern und gebeugten Alten. Meine Fantasie versucht, Szenen aus der Novelle „Ein arabisches Dorf“ in die Filmausschnitte hineinzukopieren. Damit praktiziere ich, noch ohne es zu wissen, die Methode der Organisation Zochrot: Was gelöscht wurde, wieder einfügen in die Bilder.

Zochrot bedeutet: Wir erinnern, und zwar in der weiblichen Form – so drückt sich der Wunsch aus, ein Geschichtsbild zu fördern, das nicht auf männlichen, kriegerischen Narrativen beruht, sondern auf Empathie und Inklusion. Dafür werden die Spuren palästinensischen Lebens wieder sichtbar gemacht. Eine iNakba-App zeigt auf einer digitalen Landkarte mehr als 500 entvölkerte Ortschaften; tippt man darauf, klappt zu jeder ein kleines Archiv auf, Ergebnis langjähriger Nachforschungen.

Ich schließe mich einer der regulären Touren von Zochrot an. Von Tel Aviv geht es nach Osten, über ein Gewirr von Stadtautobahnen zum „Jarkon Nationalpark“. In einer seltsamen Dialektik von Entwurzelung und Aufforstung wurden die Stätten der Vertreibung vielerorts mit schnellwachsendem Gehölz bepflanzt. Die jüdische Diaspora in aller Welt füllte Sammelbüchsen, damit in Israel der Wald wachse, wissend oder unwissend impliziert in das Begrünen der Amnesie.

Es ist Schabbat, im Park herrscht eine Atmosphäre heiteren Picknicks mit Gesängen und rauchendem Grillfleisch. Unsere Gruppe mit ihren Schildern, Landkarten und großformatigen Fotos wirkt wie von einem anderen Stern.

Die Tour wird von einer Jüdin und einer Palästinenserin gemeinsam geleitet; sie haben die Geschichte des verschwundenen Dorfs Al-Mirr rekonstruiert. Die Mutter von Rose Amer, der Palästinenserin, wurde hier geboren. Rose hält ihren Vortrag auf Arabisch, obwohl sie fließend He­bräisch spricht. Die Dominanz des Hebräischen schaffe in gemischten Gruppen stets eine nie zu überwindende Kluft. „Kolonialismus ist auch Kultur. Ich spreche jetzt zu Juden Arabisch als Ermutigung, das zu lernen.“ Die drei Dutzend Zuhörer warten geduldig auf die konsekutive Übersetzung ins Hebräische.

Um eine Rückkehr der Bewohner zu vereiteln, wurde Al-Mirr wie die meisten entvölkerten Dörfer planiert, samt dem Friedhof; nichts lässt ihn erahnen. „Meine Mutter“, sagt Rose, „kam einmal her, um den Atem der Vorfahren zu spüren. Und sie sah das hier.“ Beklommen schauen wir zu, wie sie im Waldboden die Konturen des einstigen Gräberfelds markiert. Die Tour verbindet Geschichtsunterricht mit Elementen von Erinnerungskultur. Als Rose später die arabischen Namen der ehemaligen Landbesitzer, auf deren Boden wir stehen, verliest – say their names auch hier ein Ritual des Bezeugens –, mögen sich jüdische Israelis für einen Moment als Gäste im eigenen Land empfinden. Eigen, was heißt das?

Die Ruine einer Wassermühle für Getreide: Sie stamme aus dem Altertum, informiert das Faltblatt der Parkverwaltung, und sei benannt worden nach einem Al-Mirr, das es „einst“ gegeben habe. Der Ort, wo Roses Mutter zur Welt kam, entrückt in eine neblige Ferne, die niemanden berührt. Rasch wird nun der Schutzzaun um die Ruine geöffnet und mit geübten Hammerschlägen ein Schild in den Boden gerammt, es holt Al-Mirr zurück in die jüngste Zeitgeschichte. Solche Hinweise stellen Mitstreiter von Zochrot regelmäßig auf, lange stehen bleiben sie nie.

Manchmal zertrampelt ein Passant das Holzschild mit solcher Heftigkeit, als kämen Wut und Abwehr von weit her – aus der tiefsitzenden Furcht, an das zu rühren, was der deutsch-jüdische Essayist Benjamin Korn Israels Geburtstrauma nennt: Um ihrem Exil ein Ende zu machen, hätten Juden ein anderes Volk vertrieben, das seinerseits zurückwolle. „Dieses Trauma ist so stark und reicht so tief, dass es geleugnet werden muss.“3
Quelle: Le Monde diplomatique v. 12.01.2023
der vollständige Artikel hier: https://monde-diplomatique.de/artikel/!5906053

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