Moshe Zuckermann: „Offene Lügen“

Am 23. Juni kommt Moshe Zuckermann, allerdings nur über Zoom, auf Einladung der Palästinensischen Gemeinde und der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft zu uns. Nähere Infos hier. Sein Thema: Die Auswirkungen der Kriege in Gaza und im Iran auf die Entwicklungen innerhalb der israelischen Gesellschaft. Zur Vorbereitung hier ein Auszug aus einem Artikel vom 14.06.2025 von Zuckermann aus dem Overton-Magazin.


 

 

Israels politische Kultur ist in den letzten Jahren bedenklich deterioriert. Die offene Lüge ist zum Normalfall mutiert.

Dass in der Politik gelogen wird, ist nicht neu. Die Lüge liegt in ihrem Wesen. Da es in der Politik stets um Machtakkumulation und die Etablierung von Herrschaft geht  (das ist ihre Grundvoraussetzung), diese aber immer schon auf Manipulation, nicht selten aber auch auf Gewaltanwendung basieren, dürfen die Protagonisten der politischen Praxis das nicht offen zugeben. Sie sind darauf angewiesen, sich Ideologisches zurechtzubasteln, zu rationalisieren, zu rechtfertigen, zu lügen, um ja nicht als Lügner dazustehen. […]

Klassisch geworden ist in dieser Hinsicht das Diktum der derzeitigen Verkehrsministerin Miri Regev, die vor Jahren (damals noch Kulturministerin) in einer Kabinettssitzung, in der es um eine “Reform” der öffentlich-rechtlichen Medien ging, unverhohlen fragte: “Was nützen uns die öffentlich-rechtlichen Medien, wenn wir sie nicht beherrschen können?” In ihrer damaligen Funktion entgegnete sie bei einem Treffen mit Theaterregisseuren, die sich beklagten, von ihr finanziell beschnitten zu werden, wenn sie von ihrer politischen Linie abwichen, dass sie das tun dürfe, weil sie 30 Mandate hinter sich weiß, die Theaterleute aber keine.

Gleichen Geistes, wenn auch nicht ganz so direkt, gebärdete sich die ehemalige israelische Justizministerin Ayelet Shaked, als sie sich 2019 in einem Wahlkampfspot mit einem Flakon, auf dem “Faschismus” stand, parfümierte und keck dazu hauchte: “Für mich riecht es nach Demokratie.” Zwar handelte es sich um ein Wahlkampf-Gimmick, das gleichwohl einen Wahrheitskern enthielt, den man allzu leicht zu übersehen geneigt war: Die Gleichsetzung von Faschismus und Demokratie war Programm. Und darin liegt in der Tat eine der Prämissen für die Hinnehmbarkeit der sich als Wahrheit gebenden Lüge; sie fußt im Ressentiment der Masse gegenüber den Eliten, welches manipulativen Populismus bereitwillig in “Demokratie” umdeutet.

Bereits im Jahr 2012 bekundete Regev in einem Fernsehinterview, sie sei “glücklich, Faschistin zu sein”. Heute würde das in Israel kaum jemanden ernsthaft aus der Fassung bringen. “Verräter” sind Linke, und wenn Faschisten sie bekämpfen, dann sind Faschisten eben auf der “richtigen Seite”. Man darf sich das aber nicht als einen symmetrischen Gesinnungskampf vorstellen. Linke kommen in Israel so gut wie gar nicht mehr zu Wort. Und seit dem für “Justizreform” ausgegebenen (2023 versuchten) Staatstreich, der nur zeitweilig durch den Krieg unterbrochen worden ist und zur Zeit wieder Urständ feiert, sind sie endgültig verstummt.

In dieser Woche hat man im Kabinett beschlossen, ein umstrittenes Gesetz, mit dem die Entlassung der Generalstaatsanwältin Israels, Gali Baharav-Miara, ins Werk gesetzt werden soll, und das vom israelischen Obersten Gerichtshof gekippt werden könnte, von vornherein zu immunisieren: Nahezu alle anwesenden Minister deklarierten nacheinander, einen negativen Beschluss des Obersten Gerichtshofes zu ignorieren bzw. gar nicht erst zur Debatte zuzulassen. Da können sich liberale JournalistInnen noch so darüber echauffieren – das Wahlvolk der Regierungskoalition findet das “klasse”.

Und so suhlt sich Israels politische Kultur in einem Sumpf von ideologischen Verzerrungen, Halbwahrheiten, vor allem aber zunehmend unverhohlen artikulierten Lügen. Den Spruch, “die einzige Demokratie im Nahen Osten” zu sein, schenkt man sich inzwischen dankenswerterweise, seitdem Demokratie auch bei den Gesinnungsbrüdern Netanjahus (vor allem dem mächtigen in Übersee) keine allzu begehrenswerte politische Ware mehr darstellt. Man liebt, verehrt, um nicht zu sagen: vergöttert, das israelische Militär, will aber nicht mehr “die moralischste Armee in der Welt” sein. Über 53.000 Tote in Gaza, eine Anhäufung von unzähligen Kriegsverbrechen und auch der Vorwurf des Völkermordes sind halt doch zu viel, selbst für den noch so ideologisch kontaminierten Common sense. Man behilft sich stattdessen mit der totalen Dehumanisierung der Gaza-Bewohner; es gebe da keine Unbeteiligte, auch keine Kinder, Frauen und alte Menschen – alles Terroristen der Tendenz nach, und daher auch nicht der geringsten Empathie würdig. Und wenn es dennoch internationale Kritik hagelt, dann handelt es sich stets darum, daß “alle Welt gegen uns ist” bzw. – besonders beliebt und allzeit abrufbar – um Antisemitismus.

Die größte Lüge seit dem 7. Oktober ist aber, dass Israel um seine Existenz kämpft. Die Existenz Israels war durch die Hamas nie bedroht. Wie denn auch? Man sieht ja, was Hamas sich für die von ihr regierte Bevölkerung im Gazastreifen eingehandelt hat. Eine damit verschwisterte Lüge ist, dass der Krieg nicht zu seinem Ende kommen darf, solange die Hamas noch existiert und die von ihr gefangenen israelischen Geiseln nicht befreit worden sind. […]

Was aber der fortwährende Krieg vor allem garantiert, ist die Verhinderung der Ausrufung einer staatlichen Untersuchungskommission über das Desaster des 7. Oktobers. In dieser Hinsicht hat sich die Lügenpraxis bis ins Absurde gesteigert. Denn die Untersuchungskommission würde zutage fördern, dass es Netanjahus jahrelange Politik war, die Hamas (mit Katar-Geldern) gegen die PLO zu fördern. Stattdessen betreibt Netanjahu bereits seit Beginn des Krieges eine Kampagne gegen das Militär und die Geheimdienste: Sie allein seien Schuld am Fiasko des 7. Oktober; man habe ihn nicht gewarnt, die nahe Bedrohung nicht angezeigt, ihn (konspirativ) im Dunkeln über die Gefahr belassen.

Selbst, wenn es stimmte, müsste der Premierminister schon längst seinen Abschied genommen haben, denn es zeugt nicht von allzu großer Kontrolleffizienz der ihm unterstellten Organe und Institutionen, wenn er nichts von der nahenden Katastrophe, die er ja letztlich selbst mitverursacht hat, wusste. Aber der Begriff der (ministeriellen) Verantwortung ist Netanjahu völlig fremd. Er hat seinen Anteil an der Verantwortung für das größte Unglück, das Israel seit seinem Bestehen widerfahren ist, bis heute nicht zugegeben, geschweige denn, übernommen.

Wie aber kann es sein, dass Benjamin Netanjahu trotz seines offensichtlichen Versagens und der nicht zur Ruhe gelangenden Lügenpraxis noch immer im Amt ist? Es ist ziemlich klar, dass ein Staatsführer in Frankreich, England oder Deutschland mit nur einem Bruchteil dessen, was Netanjahu innen- und außenpolitisch verbrochen hat, keinen Monat im Amt bleiben würde. Das würden die Medien, die öffentliche Meinung, die Opposition und selbst die eigene Partei nicht hinnehmen können. Es gibt selbst in der politischen Lüge einen gewissen Code, der zwar nichts mit Moral, eher etwas mit Interessen (im Hinblick auf künftige Wahlen), aber auf jeden Fall mit dem Bewusstsein davon, was zivilgesellschaftlich geht oder eben nicht geht, zu tun hat. Davon kann in Israel schon seit längerem nicht die Rede sein.

Wie ist das zu erklären? Ein Indiz für die Antwort findet sich im statistischen Ergebnis einer von der Hebräischen Universität geführten Untersuchung, demzufolge 64% der gesamten israelischen Bevölkerung der Meinung sind, dass die Berichterstattung über Gaza ausgewogen sei und keiner Erweiterung im Hinblick auf die dortige humanitäre Lage bedürfe. Einen größeren Selbstbetrug kann man sich kaum vorstellen. Denn von allem, was sich über die Kriegsberichterstattung in den israelischen Medien sagen lässt, gehört Ausgewogenheit ganz gewiss zum Allerletzten. Das Gegenteil ist der Fall: Je mehr sich die Verwüstungsorgie der IDF steigerte und die humanitäre Krise ins Katastrophische überging, verschanzte sich das Gros der israelischen Bevölkerung in Larmoyanz und Selbstviktimisierung, machte sich mithin blind für die horrende Leiderfahrung der Gaza-Bevölkerung.

Die Politiker sind an der von ihren perfiden Sprachrohren in den Medien amplifizierten Hetze beteiligt und sahnen ab, was sie für ihre Lügengenpraxis brauchen – die verlogene Attitüde der Bevölkerung, die die barbarische Politpraxis gewähren lässt bzw. aktiv unterstützt und verfestigt, weil sich beide, Politiker und Bevölkerung, gegenseitig ideologisch effizient ergänzen. Die offene Lüge ist längst zum normalisierten Standard erhoben worden. 

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. 2018 wurde er emeritiert.
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