Schwere Übergriffe der Palästinensischen Polizei bei Demonstrationen in Ramallah

(PN) 18.06.2018 – Bei der Demonstration in Ramallah am vergangenen Mittwoch ist es zu erheblich schwereren Übergriffen der Palästinensischen Polizei gekommen, als zunächst bekannt wurde. Es häufen sich inzwischen Zeugenaussagen, nach denen Polizisten in Zivil und Uniform im Auftrag der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) brutal nicht nur auf Demonstranten, sondern auch auf Journalisten und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen eingeprügelten, diese beschimpften und verhafteten. Die Demonstranten hatten die Aufhebung der Sanktionen gegen Gaza verlangt. Die Autonomiebehörde hatte die Demonstration im Vorfeld verboten.

Schwerbewaffnete Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde riegeln den Manara Platz in Ramallah vor Demonstranten ab. (Foto: screengrab)

Nachdem am Sonntag vergangener Woche eine ähnliche Demonstration friedlich verlief, hatten die Veranstalter angekündigt, am Mittwoch erneut in Ramallah gegen die durch den Palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas im April 2017 verhängten Sanktionen gegen Gaza zu demonstrieren (PN berichtete). Die Palästinensische Autonomiebehörde verbot daraufhin am Dienstagabend Demonstrationen mit der Begründung, sie könnten Familien bei der Vorbereitung des bevorstehenden Eid al-Fitr Festes stören. Eine Erklärung, die wenig glaubwürdig wirkte.

Die Veranstalter der Demonstration, die „Bewegung für die Aufhebung von Sanktionen gegen Gaza“, ein Zusammenschluss von Akademikern, Journalisten, Autoren, Künstlern aber auch Aktivisten, Gefangenen und Bürgern der Westbank, beschlossen, die Proteste dennoch durchzuführen. Am Mittwochabend trafen sich daraufhin erneut Tausende in der Innenstadt von Ramallah und forderten von der Palästinensischen Autonomiebehörde die Aufhebung der Sanktionen gegen Gaza. „Mit unserem Blut verteidigen wir Dich, Gaza“, riefen sie, und „Belagert nicht Gaza … Warum sind wir unter dem Kugelhagel der Armee?“.

Die Polizeikräfte reagierten mit äußerster Härte auf die nicht genehmigte Demonstration, trieben mit Tränengas und Blendgranaten die friedlich marschierenden Demonstranten auseinander, schlugen mit Knüppeln auf Teilnehmer ein und verhafteten nach Angaben der Al-Dameer Stiftung und des Roten Halbmonds mindestens 56 Palästinenser. Darüber hinaus attackierten sie Journalisten und hinderten sie daran, Fotos und Videoaufnahmen zu machen, konfiszierten Kameras und zwangen Medienvertreter, ihre Aufnahmespeicher zu löschen, um jegliches Bildmaterial über die Demonstration und ihre Auflösung zu vernichten. Zahlreiche Verletzte mussten in Krankenhäuser gebracht werden, etliche wurden dort, wie andere zuvor auf der Straße, von Polizeikräften der PA verhaftet.
Vertreter von Amnesty International wurde verhaftet und geschlagen

Zu den willkürlich Verhafteten gehörte auch der Vertreter von Amnesty International, Laith Abu Zeyad, der entsandt worden war, um für die Menschenrechtsorganisation den Verlauf der Demonstration zu beobachten. Gegenüber dem Samidoun Netzwerk für Solidarität mit Palästinensischen Gefangenen äußerte er sich jetzt über das, was ihm und anderen am Mittwochabend geschehen ist. Er habe gleich zu Beginn der Demonstration gesehen, wie Männer in Zivilkleidung, die vermutlich den Sicherheitskräften angehörten, einen Demonstranten schnappten und ihn wegschleppten, während sie auf ihn einprügelten. Sie hätten ihn geschlagen und getreten, während sie ihn in Richtung Manara Platz zerrten.

„Als ich das sah, nahm ich mein Handy und begann zu filmen“, so Zeyad in seiner Zeugenaussage. „Aber 10 oder 20 Sekunden nachdem ich zu filmen begonnen hatte, wurde ich von einem Mann in Zivil attackiert, der mich gegen das Metallgitter eines abgesperrten Geschäfts presste. Er drückte mich mit beiden Händen dagegen, dann fing er an, mich mit beiden Händen zu würgen. Er schrie mich an, warum ich filmte. Er identifizierte sich mir gegenüber nicht und gab mir auch keine Gelegenheit, zu antworten.“

Ein Kollege von Zeyad versuchte zu erklären, dass sie Mitarbeiter von Amnesty International seien und die Aufgabe hätten, die Demonstration zu dokumentieren. Sie hätten nichts getan. „Daraufhin nahm er mich mit dem rechten Arm in den Schwitzkasten“, so Zeyad weiter, „und zog mich Richtung Manara. Ich versuchte, mich zu wehren, aber da kam ein weiterer Mann in Zivil, der mich schubste, und dann fühlte ich einen Schlag im Nacken. Der erste Mann hielt mich wirklich eng im Schwitzkasten, und ich kriegte keine Luft und versuchte ihm zu erklären, dass ich noch gar nichts gefilmt hatte, und dass ich für eine internationale Organisation arbeite und nicht atmen könne.“

Aber die beiden Männer reagierten nicht, sondern schleppten den Amnesty Vertreter weiter, bis sie zum Eingang eines Parkplatzes kamen, der von Sicherheitskräften in Uniform und in Zivil abgesperrt war. Die Polizisten ließen sie durch, und Zeyad wurde zu einem Bereich gebracht, wo zwei Minibusse der Polizei und ein Polizeikombi parkten.

„Er drückte mich mit meinem Gesicht seitlich verdreht auf die Front des Kombi und schlug weiter, schlug mir ins Gesicht und auf den Oberkörper, mindestens vier harte Schläge und zahlreiche Ohrfeigen und ich flehte ihn an, aufzuhören, und versuchte erneut zu erklären, dass ich für Amnesty International arbeite. Daraufhin zog er mir mein Handy aus der Seitentasche und gab es einem Polizisten.“

Zeyad wurde in einen der Minibusse gestoßen, der sich langsam mit weiteren verhafteten Demonstranten füllte. Dann wurde er wieder herausgeholt und in den nächsten Bus geschoben, wo das Ganze von vorne losging. Demonstranten, die in den Bus kamen, wurden vorher draußen sichtbar für alle von mehreren Beamten geschlagen und getreten. Ein 21jähriger, den Zeyad erkannte, Haitham Siyaj, dem das Hemd ausgezogen worden war, wurde von vier Polizeibeamten mit Knüppeln niedergeschlagen während eine Frau schrie, sie sollten ihn in Ruhe lassen. „Sie stießen die Frau weg und brachten den jungen Mann zum Bus. Dort warfen sie ihn auf den Boden, sodass er auf dem Gesicht landete, und zwei uniformierte Polizisten begannen, mit Knüppeln auf seinen Rücken zu schlagen. Das war der Moment, in dem wir anderen Verhafteten losschrieen, sie sollten aufhören zu schlagen. Die Polizisten gaben dem Mann daraufhin sein Hemd wieder, und ich konnte den Schmerz in seinem Gesicht sehen.“

Der Vertreter von Amnesty berichtet in seiner Zeugenaussage auch von einem 17jährigen Imbissverkäufer, der an seinem Verkaufsstand arbeitete und gegrillte Maiskolben verkaufte, als er von Polizisten angegriffen und verhaftet wurde. Auch ein Journalist aus Amerika war unter den Verhafteten. „Immer und immer wieder sagte er dem Polizisten, er sei ein amerikanischer Journalist, und zeigte ihnen seinen Pass. Aber der Polizist sagte: ‚Ist mir egal‘, und nahm ihm mit Gewalt den Pass ab.“

Die Verhafteten wurden anschließend in Gebäude der Nationalen Sicherheitskräfte der PA in el-Bireh gefahren. Dort wurden die Festgenommenen mit ausländischen Pässen und jene mit israelischen Identitätsdokumenten nach und nach wieder freigelassen. Die Verhafteten mit palästinensischen Identitätsdokumenten dagegen wurden festgehalten und durften weder telefonieren noch eine Anwalt informieren.

Nachdem Zeyads Vorgesetzter eintraf und nochmals bestätigte, dass dieser für Amnesty International arbeitete, wurde Zeyad in ein Zimmer des Militärgeheimdienstes gebracht und dort von 15 Männern umringt. Man fragte ihn, ob er früher schon von der PA Polizei oder Israel verhaftet wurde, ob sicherheitstechnisch gegen ihn etwas vorläge. „Ein Polizist fragte mich nach meinem Gehalt und ob ich jemanden von den Demonstranten kenne. Ich erklärte, dass ich zur Dokumentation der Demonstration dort war und willkürlich verhaftet wurde, und schilderte die Prügel, die ich bekommen hatte. Aber er kommentierte das nicht. Dann wollte er wissen, ob ich etwas gefilmt hätte. Ich sagte, ich sei gar nicht dazu gekommen, da ich sofort angegriffen worden sei. Auf dem Tisch lagen zahlreiche Handys, und er fragte mich, ob meines dabei sei. Als ich auf meines zeigte, gab er einem Mann in Zivil die Anweisung, mit mir nach draußen zu gehen und mein Handy zu durchsuchen. Draußen musste ich dann mein Handy entsperren und die Foto-Galerie öffnen. Als er die wenigen Sekunden sah, die ich gefilmt hatte, löschte er die Aufnahme und gab mir dann das Handy zurück.“
„Was machst Du hier in der Straße, du Hure?“

Einem Menschenrechtsaktivisten aus Haifa, der mit dem Bus nach Ramallah gekommen war, um die Demonstration zu dokumentieren, erging es nicht anders. Gegenüber dem israelischen Newsblog שיחה מקומית (Ortsgespräch) berichtete Rami Younis, wie gleich zu Beginn der Demonstration gegen halb zehn Uhr Abends Polizeikräfte plötzlich in eine der Zufahrtsstraßen zum Manara-Platz stürmten und mit Blendgranaten und Tränengas gegen die Menschen vorgingen. „Ich nahm mein Handy, um zu dokumentieren, was da geschah“, erzählte Younis, „aber vermummte Sicherheitskräfte rannten mit erhobenen Maschinengewehren auf mich zu. Ich erstarrte, aber fotografierte weiter. Ein Polizist griff sich einen Mann, der neben mir stand, und verhaftete ihn. Und dann, aus dem Nichts, fühlte ich plötzlich einen schmerzhaften Schlag in den Rücken, der mich nach vorne warf. Der Polizist, der mich von hinten getreten hatte, rief einen Kollegen dazu, und beide stürzten sich auf mich, bevor ich wusste, wie mir geschah. Dann konfiszierten sie mein Telefon und die von anderen um mich herum, egal, ob diese fotografierten oder nicht. Auf meine wiederholten Bitten, mir mein Handy zurückzugeben, reagierten sie nur mit Flüchen und Geschrei.“

Die Situation eskalierte rasend schnell. Große Einheiten Palästinensischer Sicherheitskräfte liefen durch die Straßen und attackierten mit Blendgranaten und Tränengas selbst kleine Gruppen von Menschen. „Aus jeder Gruppe von Demonstranten griffen sie sich mindestens eine Person heraus – manche attackierten sie mit Geräten, die mich an Elektroschocker für Rinder erinnerten.“

Younis schildert weiter, wie eine Gruppe von jungen Männern aus dem Flüchtlingscamp Jalazun, die bisher mitdemonstriert hatten, urplötzlich ausscherte, Baseballkappen aufsetzte und gemeinsam mit den Sicherheitskräften begann, Demonstranten festzunehmen. Es handelte sich um Undercoveragenten der Fatah, die nun, von allen Seiten und ohne Vorwarnung anfingen, die Demonstranten zu prügeln und festzunehmen. „Die Polizei forderte uns auf, zu verschwinden, aber man wusste gar nicht, wohin. Völlig schockiert stand ich, wie erstarrt, während um mich herum das Chaos überhand nahm. Eine Frau wurde vor meinen Augen fürchterlich verprügelt und keiner der Hunderten von Umstehenden traute sich, einzuschreiten. Andere wurden von den jungen Männern verhaftet und wie Vieh weggeschleppt. Die Polizei nahm Dutzende fest und warf viele zu Boden. In einer Nachbarstraße sah ich kurz darauf eine Gruppe junger Frauen vorbeilaufen. Eine sang für Gaza – nicht gegen Abbas oder Fatah, sondern für Gaza. Innerhalb von Sekunden wurden sie mit Blendgranaten beschossen. Eine Freundin, die ich Augenblicke später traf, erzählte unter Tränen, dass ein Polizist sie angeschrieen habe: „Was machst Du hier in der Straße, du Hure? Verschwinde hier sofort!“ – Daraufhin beschloss ich, dass ich genug hatte.“

Younis ging von Polizeistation zu Polizeistation, in der Hoffnung, sein Handy wiederzubekommen. Gegen zwei Uhr nachts und noch immer mit Schmerzen vom Tritt in den Rücken, sah er sich mit aggressiven Polizisten konfrontiert, die ihr brutales Vorgehen rechtfertigten. „Die Demonstranten wurden bezahlt“, bekam er zu hören, oder „Das war eine Hamas-Demonstration“. Argumente, die man in dieser Form auch von Israel kennt. Gegen drei Uhr nachts fand er endlich sein Handy in einer Polizeistation, in der noch zahlreiche Verhaftete auf ihre Entlassung warteten.
Amnesty protestiert und fordert unabhängige Untersuchung

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat scharf gegen die Verhaftung ihres Mitarbeiters und die brutalen Angriffe auf friedliche Demonstranten protestiert. „Die Palästinensische Autonomiebehörde in der Westbank hat eine dunkle Seite von Gewalt und Kontrollverlust offenbart, als ihre Sicherheitskräfte einen brutalen Angriff auf Demonstranten starteten, die friedlich gegen Gaza-Sanktionen protestierten. Palästinensische Sicherheitsbeamte, viele in Zivil, überfielen und verhafteten Dutzende von Demonstranten und Zuschauern und schlugen sie während der Haft. Darunter auch den Amnesty International Mitarbeiter Laith Abu Zayed, der vor Ort den Verlauf der Demonstration beobachten sollte. Laith Abu Zayed verbrachte etliche Stunden in Polizeigewahrsam und wurde massiv geschlagen. Als er freigelassen wurde, konnte er sich an 18 weitere Verhaftete erinnern, die genauso behandelt worden waren.“

Amnesty International spricht von einem „massiven Ausdruck exzessiver Gewalt“ durch die Palästinensischen Sicherheitskräfte und verlangt eine umfassende, unabhängige Untersuchung der Übergriffe und dass die Schuldigen dafür zur Verantwortung gezogen werden.

„Der Staat Palästina ist Vertragspartner der wichtigen internationalen Menschenrechtsabkommen, die Behörden haben deshalb im Rahmen des international geltenden Rechts die Pflicht, Menschenrechte zu wahren. Dazu gehört auch das Recht einer Person auf Sicherheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit. Und die Behörden haben die Pflicht, Verletzungen zu untersuchen und abzustellen. Die internationale Gemeinschaft muss von der Palästinensischen Autonomiebehörde verlangen, dass diese Rechte respektiert und die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem muss die Weltgemeinschaft dringend ihre Sicherheitspartnerschaft und Unterstützung für die Palästinensischen Sicherheitskräfte überprüfen, um sicherzustellen, dass durch sie keine Menschenrechtsverletzungen begünstigt werden.“

Die palästinensische Zeitung Hafd berichtet unterdessen aus Sicherheitskreisen der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Polizei sei von Präsident Abbas angewiesen gewesen, keine Protestmärsche zur Autonomiebehörde oder zur PLO-Zentrale zuzulassen, damit „nicht der Eindruck entsteht, die palästinensische Bevölkerung sei gegen die Organisation oder die palästinensische Regierung“.

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Palästina Nachrichten v 18.06.2018

Klartext: Schuss ins Knie

von PN

von Jens M. Lucke

 

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Ein Gedanke zu „Schwere Übergriffe der Palästinensischen Polizei bei Demonstrationen in Ramallah

  1. Wofür steht Abbas? Im Beitrag ist zu lesen: „Nachdem Abbas aber den starken Vertreter der Palästinenser gegeben hat, der mit der Weltmacht USA nicht mehr spricht, kann er nun nicht mitansehen, wie seine Autorität innerhalb der Palästinensischen Gebiete in Frage gestellt wird. Das scheint die Überlegung gewesen zu sein, die Anlass für die massiven Übergriffe auf friedliche Demonstranten war.“ Abbas, tut mir leid, wirkt auf mich NICHT wie ein starker Vertreter des palästinensischen Volkes, sondern wie eine von außen lenkbare Marionette, die sich mit aller Macht als Präsidenten-Darsteller behauptet.

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