Israel-Palästina: Wer hat Recht? – Auszug aus einem Kommentar des israelischen Journalisten Gideon Levy in der Tageszeitung Haaretz (9. Oktober 2015):
Durch den Dunst von Selbstgerechtigkeit, Medienpropaganda, Hetze, Ablenkung, Gehirnwäsche und Opferstilisierung der letzten Tage, dringt die einfache Frage mit voller Kraft wieder nach vorn: Wer hat recht? Israel hat kein begründetes Argument mehr in seinem Arsenal, das ein anständiger Mensch akzeptieren könnte. Selbst Mahatma Gandhi würde verstehen, warum Palästinenser zur Gewalt greifen. Selbst jene, die vor Gewalt zurückschrecken, die sie für unmoralisch und zwecklos halten, werden verstehen müssen, warum sie hin und wieder ausbricht. Die Frage ist doch, warum bricht sie nicht viel öfter aus?
Von der Frage, wer damit begann, bis zur Frage, wer daran schuld ist, wird der Finger zu Recht immer auf Israel zeigen – und nur auf Israel. Nicht, dass die Palästinenser ohne Schuld wären, aber Israel trägt die Hauptschuld. Solange Israel sich dieser Schuld nicht entledigt, hat es keine Grundlage, irgend etwas von den Palästinensern zu fordern. Alles andere ist verlogene Propaganda.
Die langjährige palästinensische Aktivistin Hanan Ashrawi schrieb vor kurzem: »Die Palästinenser sind das einzige Volk auf Erden, das die Sicherheit der Besatzer garantiert, während Israel das einzige Land ist, das Schutz vor seinen Opfern fordert.« Und wie können wir darauf antworten? (…)
Zu den 100 Jahren der Enteignung und den 50 Jahren der Unterdrückung müssen die letzten Jahre hinzugezählt werden, Jahre, geprägt von unerträglicher israelischer Arroganz, die wieder einmal vor unseren Augen explodiert. Es waren Jahre, in denen Israel dachte, es könne alles tun ohne einen Preis dafür zu zahlen. (…) Es dachte, Soldaten könnten fast jede Woche einen kleinen Jungen oder Teenager umbringen – und die Palästinenser würden stillhalten. Es dachte, militärische und politische Führer könnten diese Verbrechen stützen und niemand würde strafrechtlich verfolgt werden. Es dachte, Häuser könnten abgerissen und Hirten vertrieben werden – und die Palästinenser würden es demütig hinnehmen. Es dachte, der Siedlermob könnte Schäden anrichten, Brände legen und so tun, als gehöre ihm das Eigentum der Palästinenser – und die Palästinenser würden es gebeugten Hauptes ertragen.
Israel dachte, seine Soldaten könnten jede Nacht palästinensische Häuser stürmen und die Bewohner terrorisieren, demütigen und verhaften. Es dachte, Hunderte könnten ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden; der Sicherheitsdienst Shin Bet könnte Verdächtigte mit Methoden foltern, die direkt aus der Hölle kommen;
Israel dachte, es könnte Hungerstreikende und befreite Gefangene grundlos wieder verhaften, alle zwei oder drei Jahre Gaza zerstören – und Gaza würde sich ergeben und die Westbank ruhig bleiben; die israelische Öffentlichkeit würde im besten Fall jubelnd applaudieren, im schlimmsten noch mehr palästinensisches Blut fordern, mit einer Gier, die schwer zu verstehen ist – und die Palästinenser würden vergeben.
Dies könnte noch viele Jahre so weitergehen. Warum? Weil Israel stärker ist als je zuvor, der Westen teilnahmslos zusieht und Israel wie nie zuvor wie einen tollwütigen Hund gewähren lässt. Währenddessen sind die Palästinenser schwach, entzweit, isoliert und bluten wie nie zuvor seit der Nakba. (…)
Das ist der Hintergrund – wenn junge Leute Siedler töten, Brandbomben auf Soldaten werfen und Steine auf Israelis. Man braucht schon ein hohes Maß an Abgestumpftheit, Ignoranz, Nationalismus und Arroganz – oder alles gleichzeitig –, um dies zu ignorieren.
Übersetzung: Doris Pumphrey
Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Junge Welt vom 20.10.2015, Seite 8 /