In Bremen findet am 9. November 2016 die Debatte in der Bürgerschaft über die Große Anfrage der Grünen und der SPD zum Thema „Ist Bremen antisemitisch?“ und die Antwort des Senats statt. Auch hier wurde ein Teil der Debatte ausgelöst durch den Jerusalem-Post-Journalisten Benjamin Weinthal, wenn auch die Reaktionen in der Stadt längst nicht den Grad an Hysterie erreicht haben wie in München. Hier zwei Briefe zu den dortigen Vorfällen aus der online-Zeitung „Der Semit“:
1. Brief von Franz Piwonka an den Oberbürgermeister von München
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
ich bin entsetzt und empört darüber, daß es in einer Demokratie möglich ist, daß durch Denunziation und Verunglimpfung alle israelkritischen Stimmen in der Öffentlichkeit zum Schweigen gebracht werden können. Ich bin noch viel mehr darüber entsetzt, daß jene, die sich dieser denunziatorischen Praktiken bedienen, nicht einen einzigen Beleg für Ihre schwerwiegenden Behauptungen vorweisen können, weder Herr Küppers, weder Frau Knobloch, weder Frau Meros, noch Herr Quaas. Ich empfehle Ihnen dringend, alle diese Schreiben unter diesem Blickwinkel noch einmal zu lesen. Die hemmungslose Denunziation, mit der systematisch Emotionen geschürt werden, soll dieses erbärmliche Vakuum gezielt kompensieren.
Diese Praktiken funktionieren normalerweise nur in totalitären System, wo bereits das Aussprechen des Vorwurfs, wie z.B. „Volksverräter“ oder „Konterrevolutionär“ zum Ausschalten des Denunzierten führt. Das funktionale Aquivalent dazu ist das denunziatorische Zauberwort„Antisemitismus“ , das in aller Regel unverzüglich zur Vernebelung eines rationalen Blicks führt. Dieses Wort ist zu einem Fetisch degeneriert, welches augenblicklich das limbische System in Alarmbereitschaft versetzt. Sobald die israelische Politik kritisiert wird, erschallt der Vorwurf wie ein Pawlowscher Reflex. So schreibt der SZ- Journalist Hilmar Klute: „ Der Antisemitismus-Vorwurf funktioniert wie ein Bewegungsmelder. Jemand muss nur ein paar Reizwörter kombinieren, schon bekommt er ihn frei Haus geliefert. Geht es eigentlich überhaupt noch um Israel? Oder geht es vielmehr darum, das böse alte Lieblingstier der Deut-schen an der Kette durch den Argumentationspark zu führen: eben jenen Antisemitismus, von dem ein Großteil der Publizisten, die derzeit das Vorgehen Israels verteidigen, mit der gewohnten Küchenpsychologie annimmt, dass er in jedem Deutschen schlummert und nur Anlässe wie den gegenwärtigen braucht, um sich loszureißen und auffällig zu werden“ ( 13.8. 2014, S. 10).
Erst vor einigen Tagen habe ich einem sog. Israelfreund geschrieben: „Das spezifische dieses denunziantentums besteht hier darin, daß die rechtmäßigkeit des antisemitismusvorwurfs sich keineswegs aus seiner richtigkeit speist, sondern vielmehr aus seiner bloßen schwere. Aus diesem grund hat übrigens adorno, den die antideutschen mißbrauchen, an einen äußerst sparsamen gebrauch des vorwurfs gemahnt. Qua ausruf legitimiert er sich selbst“. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte löst er solche enorm starke emotionale Reaktionen aus, die es quasi überflüssig machen, ihn überhaupt auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen. Die hemmungslose Inflation von Antisemitsmusvorwürfen trägt aus diesem Grund mittlerweile totalitäre Züge.
Ich engagiere mich seit sechs Jahren für das Recht auf Leben und Würde von Palästinensern, seitdem ich zum ersten Mal mit dem schreienden Unrecht konfrontiert wurde, das Palästinenser tagtäglich erleiden müssen. Daß ich davon 54 Jahre lang nichts erfahren habe, hat mich so erbost, daß ich mich für den Rest meines Lebens für diese Menschen einsetzen werde. Ich habe einen Vortrag von einem im Westjordanland tätigen Rechtsanwalt gehört, der palästinensische Kinder und Jugendliche vertritt und betreut, die in israelischen Gefängnissen systematisch mißhandelt und sogar gefoltert werden. Dazu gibt es auch einen Bericht der Organisation “Defence for Children International”, der von der EU gefördert wurde.
Das vor einigen Jahren erschienene Buch: Breaking the Silence: Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten“ gibt einen grauenhaften Einblick in den seit Jahrzehnten betriebenen systematischen Terror gegen die palästinensische Bevölkerung. Abraham Melzer, der in der israelischen Armee gedient hat, berichtete mir, daß auch er als Soldat diese Maßnahmen durchführen mußte. Auf die Frage an seinen Vorgesetzten, warum er das tun solle, antwortete dieser: „ damit sie endlich verschwinden“. Schauen Sie sich bitte das folgende Video an, das für dieses Grauen stellvertretend steht: damit Sie wissen, daß der Vorwurf der„antiisraelischen Hetze“ selbst eine aus Fanatismus geborene Denunziation und Verschleierung israelischer Realitäten darstellt.
Ich habe mit vielen Palästinensern gesprochen. Sie haben mich und meine Freunde angefleht, das unaufhörliche Unrecht, das sie erleiden müssen, „ in die Welt hinauszuschreien, weil die Welt uns vergessen hat“. Diesem Auftrag fühle ich mich verpflichtet. Vor dem Hintergrund, daß die Meinungsfreiheit zu den elementarsten Rechten eines jeden Bürgers gehört, vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die fragwürdigen Freunde Israels nicht einen einzigen Beleg für Ihre Vowürfe vorlegen können und vor dem Hintergund des unbeschreiblichen Leids der palästinensischen Bevölkerung bitte ich Sie inständig darum, diesem fortgesetzten denunziatorischen und inquisitorischen Treiben endlich ein Ende zu bereiten.
Ich beende mein Schreiben mit einem Zitat der jüdischen Menschenrechtsaktivistin und Gründerin der Menschenrechtsorganisation Machsom Watch, Frau Dr. Roni Hammermann: „Als Juedin habe ich ein historisches Gedaechtnis. Die Lehren aus dem Holocaust sind nicht nur eine Verpflichtung den Opfern des Nazismus gegenueber, es ist eine Verpflichtung zu einer Reihe von universalen ethischen Werten, in deren Namen wir den Antisemitismus ablehnen. Und einer dieser Werte ist die Verpflichtung nicht zu schweigen, wenn wir in unserem Umfeld Unrecht sichten. Angesichts von Unterdrueckung und Entrechtung darf ein moralischer Mensch nicht die Augen schliessen und schweigen. Und da ich 20 Minuten entfernt von dem Ort lebe, an dem taeglich und stuendlich Verletzungen von Menschenrechten stattfinden, darf ich nicht schweigen”. ( Auszug aus einem Vortrag, den sie mir zuschickte).
Mit freundlichen Grüßen
Franz Piwonka
2. Tabuisierung von Meinungsäußerung
Ein offener Brief zur Auseinandersetzung zwischen dem jüdischen Publizisten Abi Melzer und der Präsidentin der jüdischen Kultusgemeinde in München, Charlotte Knobloch. Veröffentlicht am 30. September 2016 von Abi Melzer
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
Sie wagen es, mich einen “für seine antisemitischen Äußerungen regelrecht berüchtigten Referenten“ zu bezeichnen. Nennen Sie mir einen einzigen Satz von mir, der antisemitisch ist, einen einzigen Satz.
Sie schämen sich nicht, die böse Beleidigung von Henryk M. Broder zu benutzen: „Abi Melzer und Hajo Meyer machen den Adolf“. Zu Hajo Meyer schrieb Broder er sei ein „Berufsüberlebender“ weil er es gewagt hat Auschwitz zu überleben und kein Zionist zu werden.
Broder macht uns allen seit Jahren den Joseph, und da dieser nicht so bekannt ist wie Adolf, muss man schon hinzufügen, den Joseph Goebbels. Das scheint Sie aber nicht zu berühren. Ein zionistischer Jude, der den Goebbels macht, ist für Sie allemal sympathischer, als ein aufrechter Jude, der Unrecht anprangert.
Und warum mache ich den Adolf? Weil ich Israels Politik kritisiere! Wie oft haben Sie schon gesagt, dass Kritik an Israel erlaubt sei. Gott sei Dank benötige ich Ihre Erlaubnis nicht. Das Grundgesetz erlaubt es mir. Sie würden es mir nie erlauben. Wie oft haben die Siedler, die Sie unterstützen, behauptet, dass die Regierung Israels „nicht legitim“ sei? Das freilich sage ich auch, nachdem die Regierung die Kontrolle über diese nationalistischen, rassistischen und kolonialistischen Siedler verloren hat. Ich darf an die Worte von Itzchak Rabin erinnern, der gesagt hat: „Wir geben Milliarden von Dollar aus für die Sicherheit von Siedlungen, die uns keine Sicherheit geben“. Die Illegalität wurde institutionalisiert, wie es die stellvertretende Generalstaatsanwältin Sasson gesagt hat.
Wo waren Sie, als die Siedler von Gusch Katif 2005 durch die Armee aus dem Gazastreifen vertrieben wurden und ihre illegalen Siedlungen mit gelben Judensternen verließen? War das nicht auch eine Delegitimierung und Verhöhnung des Holocaust? Dazu haben Sie geschwiegen, aber zu meiner Kritik springen Sie wie von der Tarantel gestochen auf und behaupten, ich sei ein Antisemit.
Wer sind Sie, dass Sie so etwas sagen dürfen? Eine ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, nicht mehr und nicht weniger, die ohne Herz und Seele hier lebt, denn ihr Herz ist ja in Israel, wie sie oft genug beteuert haben. Sie sind keine deutsche Jüdin, sondern eine Jüdin in Deutschland, die ihre jüdische Identität hervorhebt und die deutsche versteckt. Das weiß jeder. Es ist höchste Zeit für Sie, als Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in München, zurückzutreten, immerhin sind Sie schon mehr als 30 Jahre auf diesem Stuhl. Das ist kein Zeichen von Demokratie, wobei es wohl bei vielen jüdischen Gemeinden so ist, dass der Vorsitzende die Gemeinde als sein Eigentum betrachtet. Wollen Sie im Stuhl sterben und dann in Israel beerdigt werden?
Ja, ich stehe dazu: Der Antisemitismusvorwurf ist dank Ihnen und Broder zu Banalität degeneriert. Sie haben meinen Vortrag noch nicht gehört und wissen schon, „dass die Grenzen zwischen legitimer, sachlicher und inhaltlicher Kritik an Israels Politik eindeutig überschritten sind“. Sie verurteilen meinen Vortrag als „Agitation“, ohne zu wissen, was ich sagen wollte. Solches Vorgehen sind wir in der Regel von diktatorischen Regimen gewöhnt und als ich vor vielen Jahren dasselbe über einen Ihrer Vorgänger, Heinz Galinski, schrieb, hat er mich verklagt. Sein Pech war, dass das Gericht die Klage nicht annahm mit der Begründung: „Man muss nicht Melzers Meinung sein, aber er hat das Recht, seine Meinung zu sagen“. Es gibt doch noch anständige Richter in Deutschland.
Im aktuellen Webster´s Third New International Dictionary liest man über Antisemitismus: Antisemitismus sei “einst eine Ideologie“, die als “Rassismus” bezeichnet wurde. Heute wird er definiert als “Opposition zum Zionismus – Sympathie mit Gegnern des Staates Israel.” Das ist aus dem Antisemitismus geworden – dank ihnen und ihresgleichen.
Der Antisemitismus war einst ein Herrschaftsinstrument, mächtig und gefürchtet.Heute reicht er gerade noch für drittklassige Witze, wie sie Broder gerne erzählt: „Die Meinungen über Antisemitismus, sagt Moishe, sind wie die Meinungen darüber, wie gut meine Frau im Bett ist – die einen sagen so, die anderen sagen so.“ Damit ist der Antisemitismus endgültig auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet.
Aber wer kümmert sich noch um solche Greise wie Sie: Eitel, zynisch und selbstgefällig. Die jungen Leute heute haben andere Sorgen und Fragen, und Antisemitismus interessiert sie nicht so sehr. Gott sei Dank. Und neuere Untersuchungen ergeben, dass es unter den jungen Menschen zwischen 20 und 30 weniger Antisemitismus gibt. Antisemitismus ist etwas für Leute zwischen 60 und 70 und darüber. Also Ihre Generation.
Ein anderer jüdischer Greis, Claude Lanzmann, beschuldigte das Kempinski-Hotel in Berlin, antisemitisch zu sein, weil die Vorwahl von Israel nicht im Telefonverzeichnis des Hotels war. „Die Auferstehung des Nationalsozialismus bis hin zu Auschwitz“, schien ihm wieder möglich und Broder meinte dazu, dass Kempinski “das Palästina Referat des Reichsicherheitshauptamts“ sei. Es sei eben eine „Schweinerei, das in einem der wichtigsten Hotels in Berlin Israel ausgemerzt wird”. Dabei war allenfalls der „Rechner“ des Hotels antisemitisch, denn er hat ausgerechnet, dass die Vorwahl Israels weniger nachgefragt wird als die der andren 26 Staaten, die man aufgenommen hatte, weil man nicht alle 176 Vorwahlen in die Liste aufnehmen konnte. Der Rechner ist also ein Antisemit! Man möchte lachen, aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Auch angesichts des Unsinns, den Sie verzapfen.
Claude Lanzmann äußerte sich in der FAZ und beim Lesen hatte man den Eindruck, dass man die Hauszeitschrift eines Irrenhauses in der Hand hält. Das ist das von Ihnen repräsentierte Niveau des Antisemitismus heute, und darüber wird man noch reden dürfen, oder bestimmen Sie, wer reden darf und wer nicht? Eigentlich müssten Sie an vorderster Front stehen und für meine Rechte kämpfen. Aber Sie reden von „Delegitimierung Israels“.
Hat Thomas Mann Deutschland delegitimiert, als er seine geharnischte Kritik an den Nazis im Radio verbreitet hatte? Hat Carl von Ossietzky Deutschland delegitimiert, als er die Nazis in der Weltbühne scharf angriff und deshalb von ihnen später ermordet wurde? Hat Emil Zola Frankreich delegitimiert, als er seinen berühmten Aufruf „Jaccuse!“ zur Verteidigung von Alfred Dreifuss veröffentlichte? Haben in diesen Tagen unzählige türkische Intellektuelle, Journalisten und Autoren die Türkei delegitimiert, weil sie Erdogan kritisierten? Letztere haben dafür den Alternativen Nobelpreis erhalten, wie übrigens auch Felicia Langer. Delegitimieren Uri Avnery, Gideon Levy, Noam Chomsky, Erich Fried, Günther Grass und andere Israel, wenn sie über Israels falsche Politik schreiben? Für Sie ist diese Politik eine „Heilige Kuh”, über die man nicht reden darf und die immer richtig ist. Sie müssen endlich akzeptieren, dass es Menschen gibt, die anders denken, und es sind nicht immer die Schlechtesten.
Warum soll eine Kritik an Benjamin Netanjahu anders bewertet werden, als eine Kritik am türkischen Präsidenten Erdogan? Warum ist eine solche Kritik ein Zeichen von Antisemitismus? Es gibt darauf eine sehr einfache Antwort: weil der Antisemitismus der Zwillingsbruder des Zionismus ist. Sie sind wie Yin und Yang und ergänzen sich ideal. So wie für Erdogan der Putsch im August ein „Geschenk des Himmels“ war, so ist der Antisemitismus für Netanjahu und den Zionismus eine willkommene Hilfe für das Ziel, Juden nach Israel zu „vertreiben“. Nein, sie werden nicht vertrieben, aber ihre eigenen Vorstände und Präsidenten machen ihnen so viel Angst, dass sie von selbst kommen. Es ist eine vergleichbare Angst, wie sie 1947/1948 Palästinenser dazu gebracht hat, vor der zionistischen Aggression zu fliehen. In der zionistischen Propaganda heißt es: „Sie sind von selbst geflohen!“
Sie behaupten, ich sei ein Antisemit und unterstellen damit, dass ich mich selbst hasse, da ich Jude bin und Antisemitismus Judenhass bedeutet. Warum soll ich mich selbst hassen? Weil ich Israels Politik kritisiere? Oder kritisiere ich Israels Politik, weil ich mich selbst hasse?
Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen von Juden stehen dem Staat Israels und/oder seiner Politik kritisch bis feindlich gegenüber. Es sind besonders religiös-orthodoxe Juden, Chassidim, wie die Sattmers, die offen bekennen, anti-zionistisch zu sein, und auch liberale, linke Juden – alles Antisemiten? Oder vielleicht Ilan Pappe, Leiter des „European Centre for Palestine Studies“ an der Universität von Exeter, der ebenfalls Schwierigkeiten hatte, in München seinen Vortrag zu halten? Ist Pappe auch ein Antisemit?
Einst, gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es umgekehrt. Da versuchte Theodor Herzl seinen ersten Zionistenkongress in München stattfinden zu lassen und die Münchner Juden verweigerten ihm die Räumlichkeit. Damals waren gerade einmal 1 Prozent der deutschen Juden Zionisten. Das es später mehr wurden, darf man Adolf Hitler danken und der zumeist diskret verschwiegenen Tatsache, dass die zionistischen Juden keine Scheu hatten, mit den Nazis einen Vertrag abzuschließen über die Überführung jüdischen Kapitals und jüdischen Vermögens, Fabriken etc. nach Palästina. Der Vertrag hieß „Haavara“ und wurde gleich nach der Machtübernahme der Nazis ausgehandelt, als ob die Zionisten auf diese Machtübernahme gewartet hätten. Anlässlich der Unterzeichnung durch Juden und Nazis wurde eine Medaille in Gold geprägt, die auf der einen Seite einen Hakenkreuz und auf der anderen Seite einen Davidstern trägt. Juden, die in ein anderes Land auswandern wollten, durften ihr Vermögen nicht mitnehmen. Der Zionismus hat schon immer nicht-zionistische Juden benachteiligt und zum Teil ihren Tod, ihre Vernichtung billigend in Kauf genommen. Hanna Arendt hat darüber in Ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem – Die Banalität des Bösen“ geschrieben und wurde, wer hätte das gedacht, als jüdische Selbsthasserin diffamiert.
Ich bin in Israel aufgewachsen, habe dort die Schule besucht und in der Armee gedient. Haben Sie Vergleichbares für Israel getan? Können Sie Ähnliches vorweisen? Dass ich heute lebe, ist Glück oder Zufall, ich könnte auch tot sein, „gefallen“ wie manche meiner Freunde im Dienste der israelischen Aggression.
Ich spreche Hebräisch, eine Sprache, die Ihnen unbekannt ist. Wie kommen Sie dazu, mich in übelster Weise zu beleidigen und zu verleumden, nur weil ich bezüglich der Politik Israels, meines Staates – noch bin ich auch Israeli -, eine andere Meinung habe? Kennen Sie Israel überhaupt, wissen Sie wirklich, was dort vor sich geht? Ich meine nicht die Berichte, die Ihnen die israelische Propaganda zuflüstert und nicht den Blick auf Israel aus einem Zimmer im Luxus-Hotel. Ich bin in meiner Schulzeit und später in der Armee kreuz und quer durch das Land gewandert und gereist. Nicht in einem Touristenbus und mit einem Reiseführer, der von der „Hasbara“ geschult wurde. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, welches Unrecht man den Palästinensern angetan hat und noch immer täglich antut.
Wieso nennen Sie Palästinenser, die gewaltsam – ja, das dürfen sie nach dem Völkerrecht -, die gewaltsam um ihre Freiheit kämpfen, Terroristen? Waren denn die Kämpfer im Warschauer Ghetto auch Terroristen? Auch sie kämpften um ihre Freiheit. Die Kämpfer des Irgun, der Organisation von Menachem Begin, waren Terroristen, zumindest in den Augen der Briten, aber für die Israelis waren und sind sie Helden, so wie die Kämpfer der Hamas und der Fatah für die Palästinenser und alle anderen Araber Helden sind. So gesehen sind sie für sehr viel mehr Menschen Helden, als die Irgun-Terroristen.
Sie wollen verhindern, dass uns Räume überlassen werden. Städtische Räume, die uns allen gehören, und jedem Bürger dieses Staates zur Verfügung stehen sollten. Sie werden selbst der AfD geöffnet, denn immerhin gilt in diesem Land noch das Grundgesetz, oder sind Sie schon auf die israelische Verfassung eingeschworen, sodass Ihnen unser Grundgesetz gleichgültig ist. Ihre grundgesetzwidrige Verhinderung meines Vortrags und der vorauseilende Gehorsam (des Kulturreferats) der Stadt München bestärken mich in meiner Erfahrung, dass Deutschland eine Demokratie ohne Demokraten zu werden droht. Das kommt zum Ausdruck durch obrigkeitsstaatliche Beeinflussung der Medien, Absagen von Veranstaltungen, die nicht der merkelschen Staatsräson genehm sind – kurzum Behinderung der Meinungsfreiheit!
Geradezu peinlich sind die Unterwürfigkeit und der vorauseilende Gehorsam von Amtspersonen, Politikern und Medienleitern gegenüber der in Deutschland sehr aktiv und massiv auftretenden Israel-Lobby und ihrer wahllosen und zynischen Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs.
Es ist nach wie vor so, dass viele Deutsche sich nicht zu Israel äußern trauen, weil sie Angst haben, von Zionisten wie Ihnen diffamiert und diskreditiert zu werden. Ich finde das schockierend, und eigentlich sollten auch Sie dagegen protestieren. Ich finde im Gegenteil, dass Deutsche, die nichts zu tun haben mit der deutschen Vergangenheit, außer der Verantwortung dafür, dass sich so etwas nie wiederholen darf – dass solche Deutsche überall für die Einhaltung von Menschen- und Völkerrecht eintreten müssen. Sie werden sofort erwidern, dass sie es dürfen. Ja, Sie haben Recht, aber wenn sie es machen, dann kommen Leute wie Sie, wie Broder und Ihresgleichen und schwingen die „Antisemitismus-Keule“. Ich finde das unerträglich. Ich habe immer gegen Antisemitismus gekämpft, und ich werde es immer tun! Aber Israelkritik per se mit Antisemitismus gleichzusetzen, das ist falsch und führt in die Irre. Da mache ich nicht mit.
Alfred Grosser schrieb unlängst: „Die Anklage des Antisemitismus gegen den verstorbenen Rupert Neudeck, der in seinem Buch das Schicksal der Palästinenser thematisiert hat („Ich will nicht mehr schweigen – Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina“ – Melzer Verlag 2005) ist skandalös.“ Finden Sie nicht auch, dass er Recht hat?
Als Prof. Ted Hondrich 2003 in seinem „umstrittenen“ Buch den palästinensischen „Terror“ als moralisch berechtigten Widerstand bezeichnete, forderte der zionistische, jüdische Religionsphilosoph Prof. Micha Brumlik, das Verbot des Buch. Es sei – na klar – „antisemitisch“! Der Suhrkamp-Verlag folgte dieser Forderung innerhalb von 24 Stunden. Daraufhin habe ich das Buch neu übersetzen lassen, da Suhrkamp auf Druck der jüdischen Gemeinde nicht bereit war, mir die Übersetzung zu überlassen, und verlegt. Der Bayerische Rundfunk meinte dazu: „Das Verdienst des Buches besteht darin, dass es wichtige Fragen aufwirft, über die diskutiert werden muss. Abi Melzer hat sich um die Aufhebung der Zensur in Deutschland verdient gemacht. Ihm gebührt unser Respekt.“ Solange es solche Stimmen in Deutschland gibt/nicht mehr geben sollte, werde ich meine Kritik an der israelischen Politik äußern.
Letztendlich meine ich, dass wir beide zu unseren Quellen zurückkehren sollten. Ich, zu meinen jüdischen Quellen, zum alten Rabbi Hillel und Sie zu ihren christlich-katholischen Quellen. Die Tatsache, dass Sie schon Jahrzehnte einer jüdischen Gemeinde vorstehen, besagt ja nicht, dass sie Ahnung vom Judentum haben. Das was ich als Kind von meiner Mutter und meinem Vater an jüdischem Wissen, jüdischer Bildung, mitbekommen habe, werden Sie kaum nachholen können. Auch ihr Partner im Geiste, Henryk Broder, hat neulich in einem Interview Abraham mit Hiob verwechselt, was ein Licht auf seine jüdische Bildung warf. [In einem Artikel über Michel Friedman gebrauchte er auch die jiddisch-hebräische Redewendung „Be Esrat Ha-Schem“, nur wieder falsch, weil er offensichtlich die Redewendung nicht wirklich kennt. Be Esrat Ha-Schem bedeutet „mit der Hilfe Gottes“ und nicht, wie Broder schrieb: Im Esrat Ha-Schem. So macht es keinen Sinn.]
In einem aber hat Broder Recht gehabt, als er über Sie schrieb, dass Sie eine „überforderte Präsidentin“ seien und den Zustand des Zentralrats unter Ihnen als „erbärmlich“ bezeichnete. Der Zustand der jüdischen Gemeinde in München ist, wie man hört, auch erbärmlich, da Sie wie ein absoluter Sonnenkönig schalten und walten und sich obsessiv um unwichtige Sachen kümmern, aber wichtige, brennende Probleme liegen lassen. Immerhin haben Sie die Zeit gefunden, am Freitag, den 23. 9. 2016, noch eine infame und bösartige, zwei Seiten lange Mail an den Generalvikar Dr. Peter Beer im Erzbistum München und Freising zu schreiben und ihn (unter dem gewaltigen Druck ihrer Person und Ihrer Funktion dazu zu bringen) – mit dem Hinweis, dass der einladende Verein „Salam Shalom“ „antizionistisch“ sei – davon zu „überzeugen“, die am Tag zuvor von der Leitung des KKV-Hansa-Haus zugesagten Räume zu stornieren.
Aber selbst wenn, ist das ein Grund, gegen Artikel 5 des Grundgesetzes zu verstoßen bzw. die Kirche zu einem solchen Verstoß zu bewegen? Jürgen Gansel, Mdl, schrieb: „Am 19. Juli 1950 wurde die wahrscheinlich mächtigste, in jedem Fall aber verbal-aggressivste „Institution“ der jungen Bundesrepublik gegründet: der Zentralrat der Juden in Deutschland“. Im Namen war schon die Trennung zwischen Juden und Deutschen manifestiert, ansonsten würde die Institution „Zentralrat der jüdischen Deutschen“ heißen, oder zumindest „Zentralrat der deutschen Juden“. Schon damals hat sich der Zentralrat als verbohrter Verteidiger des israelischen Staates, als Dauerankläger der Deutschen verstanden. Die Anklage der Deutschen hat nachgelassen, aber bornierter Verteidiger israelischer Interessen ist der Zentralrat auch heute noch.
Rabbi Hillel sagte vor 2000 Jahren: „Tue deinem Nächsten nicht das an, was du nicht willst, dass man dir antut.“ Das ist das Wesen des Judentums. Darüber hat Rabbiner Leo Baeck ein Buch geschrieben, das nach dem Krieg im Verlag meines Vaters erschienen ist. Das ist mein Verständnis von Judentum.
Als ich vor vielen Jahren einmal Ihren Vorgänger Heinz Galinski kritisierte, meinte sein unmittelbarer Nachfolger, Ignaz Bubis, ich hätte nicht das Recht, Galinski zu kritisieren, denn, fragte er: „Was haben Sie schon für das Judentum getan?“Die Frage hat mich überrascht. Ich fand sie einigermaßen lächerlich. Benötigt man eine besondere Erlaubnis, um Politiker zu kritisieren, selbst wenn sie „Juden“ sind?
Das Judentum ist geprägt durch seine Propheten. Und was waren die Propheten anderes als Kritiker. Für mich bedeutet Judentum auch: alles zu hinterfragen und sich auf die Seite des Rechts und der Gerechtigkeit zu stellen. Für mich bedeutet Judentum: Kritik. Mein Vater und ich haben keine Häuser im Westend gebaut oder mit Grundstücken spekuliert. Mein Vater verlegte Martin Bubers „Jüdische Schriften“, und ich verlegte den „UN-Goldstone-Report“ und daneben noch eine Reihe jüdischer und israelischer Autoren wie Uri Avnery, Gideon Levy, Israel Shahak, Erich Fried u.v.a. Es ist mir aber bekannt, dass das bei den jüdischen Verbänden und besonders beim Zentralrat der Juden nicht zählt. Das Volk des Buches hält nichts von Büchern. Als mein Vater finanzielle Schwierigkeiten wegen seines Mammut-Projektes der Herausgabe sämtlicher Schriften von Ludwig Börne hatte, bat er den Zentralrat um Hilfe und schlug vor, dass der Zentralrat 100 Einheiten des fünfbändigen Werkes für jüdische Gemeinden in Deutschland kauft. Der Zentralrat hat aber nicht einen Finger gekrümmt, um zu helfen. Wenn der Zentralrat für jede Gemeinde eine einzige Kassette des 7000 Seiten Werkes gekauft hätte, wäre meinem Vater schon geholfen gewesen. Aber nicht einmal für die Bibliothek des Zentralrats wurde ein Exemplar bestellt. Geholfen hat damals die Stadt Frankfurt. Wie soll ich vor Leuten Respekt haben, die nicht wussten, wer Löw Baruch, genannt Ludwig Börne, war. Werner Nachmann, der damals ihr Vorgänger war, wurde kurz darauf gefeuert, weil er viele Millionen unterschlagen und gestohlen hat.
Sie diffamieren und beleidigen mich und sagen ich sei ein Antisemit, also ein Rassist. Was würden Sie davon halten, wenn ich dasselbe von Ihnen sagen würde. Sie sind vielleicht keine Antisemitin, aber offensichtlich eine Rassistin. Sie hassen keine Juden, Sie hassen Araber, also andere Semiten, nämlich Palästinenser. Und wer Palästinenser hasst, kann auch Juden hassen. Ich sehe da keinen Unterschied, zumal die Palästinenser die echten Semiten und auch die echten Juden sind, sie sind moslemische und zum Teil christliche Juden. Die v. a. europäischen Juden (ihrerseits) sind ja keine Semiten, sondern Nachkommen der Khasaren, und Sie sind ganz sicher keine Semitin, sondern eine Urbayerin aus katholischem Geschlecht. Sie sollten deshalb vorsichtiger mit all diesen ethnischen, religiösen und nationalen Begriffen umgehen und sie nicht rufmörderisch gegen andere Menschen instrumentalisieren.
Sie beleidigen nicht nur mich, sondern auch eine Unzahl braver deutscher Bürger, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen. Mit welchem Recht tun Sie das? Etwa weil die Bundeskanzlerin Angela Merkel das unglücklich falsche Wort geprägt hat, dass die Sicherheit Israels deutsche „Staatsräson“ sei? Altkanzler Schmidt nannte das „töricht“! Wenn nur die Sicherheit Israels Deutschland angeht, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Sicherheit der Palästinenser die Deutschen anscheinend nichts angeht. Gottseidank gibt es in diesem Land genug Menschen, die das anders sehen. Mit diesem verunglückten Satz hat sie nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen, und Leute wie Sie freuen sich offensichtlich, wenn im nächsten Krieg „unsere Soldaten“ wieder siegen.
Warum fordern Sie Angela Merkel nicht auf, endlich den Satz zu korrigieren und zu sagen: „Ein gerechter Frieden im Nahen Osten ist deutsche Staatsräson.“
Merkel hat sich vorbildlich um die Flüchtlinge bemüht und ihre Aussage: „Wir schaffen das!“ wird in die Geschichtsbücher eingehen. Im Nahostkonflikt allerdings hat sie eine historische Chance verpasst, vermittelnd einzugreifen und beide Seiten zur „Räson“ zu bringen.
Und was macht Ihr Nachfolger im Amt des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster? Er gießt gleichfalls Öl ins Feuer und warnt vor den moslemischen Flüchtlingen, weil sie seiner Meinung nach den „arabischen“ Antisemitismus nach Deutschland mitbringen. Er fordert von den Flüchtlingen den „Nachweis“, dass sie keine Antisemiten sind und Israel respektieren. [Lächerlicher kann sich der Zentralrat nicht mehr zeigen. Das erinnert an den Witz: „Jankele wird vorgeworfen, dass seine Schwester eine Hure ist. Er beteuert, dass er keine Schwester hat. Es hilft nicht. Die Schwester, die er nicht hat, ist eine Hure“.]
Die Obsession mit der Sie gegen Bürgerrechte, gegen das Grundgesetz und für eine umstrittene Politik des rechtsnationalen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu eintreten, ist unerträglich und im Grunde genommen dumm, denn damit gewinnen Sie gewiss keine Freunde. Sie behaupten mein Vortrag sei eine „offensichtlich antijüdische Propaganda-Veranstaltung“ und eine „Stärkung des Antisemitismus in München“. Ich frage mich warum Sie nicht die Wahrheit sagen, dass ich nämlich ein gnadenloser und unerbittlicher Gegner der israelischen Politik bin. Man muss kein Antisemit sein, um Israels Politik zu kritisieren. Es reichen ein gesunder Menschenverstand und eine liberale demokratische Gesinnung. Warum Sie immer die Antisemitismus-Keule schwingen, um jeden Kritiker niederzumachen, ist mir unbegreiflich. Warum wollen Sie nicht eine offene und ehrliche Debatte zulassen. Das ist allerdings eine rhetorische Frage, denn die Antwort liegt auf der Hand: Sie und alle, die hinter Ihnen stehen, bis hin zu Benjamin Netanjahu haben Angst vor einer ehrlichen und offenen Debatte, vor einer offenen Aussprache, haben Angst vor der Wahrheit, denn Sie wissen sehr genau, dass Israel dem palästinensischen Volk großes Unrecht angetan hat, indem es den Palästinensern ihre Heimat gestohlen hat. Selbst David Ben-Gurion wusste das und schrieb in seinen Memoiren, dass die Palästinenser „uns das nie verzeihen und vergessen werden“. Deshalb haben Sie sich gegen die Nakba-Ausstellung gewehrt und, Gott sei Dank, verloren. Im Inneren ihres Herzens wissen auch die Israelis, dass sie den Palästinensern Unrecht getan haben, und dieses Wissen, dieses schlechte Gewissen, kann Verständnis und Reue hervorrufen, es kann aber auch Hass und Abwehr erzeugen. Wie sagte es Ihr Protegé Henryk M. Broder: „Die Deutschen werden den Juden den Holocaust nie verzeihen“. Und zum Nahost-Konflikt schrieb er in der Jüdischen Allgemeine, als Sie Vorsitzende waren und somit Herausgeberin dieses ominösen Blattes: „Es stimmt, Israelis sind Täter. Aber Täter sein macht Spaß“. Die Israelis werden den Palästinensern nie verzeihen, dass sie Täter werden mussten.
Ich habe mich schon vor langer Zeit auf die Seite des Rechts und der Gerechtigkeit geschlagen. Sie müssen weiter damit leben, dass Sie Unrecht rechtfertigen und verteidigen.
Mit freundlichen Grüßen
Abi Melzer
Ein nicht-zionistischer Jude