„Manchmal sprachlos – niemals mundtot!“ – Was war in München los?

Am Freitagabend (30. September) sollte in der Schwabinger Erlöserkirche ein Benefizkonzert zugunsten von Menschen in Gaza stattfinden. Es wurde wegen des Vorwurfs, es sei antisemitisch, vom Pfarrer Gerson Raabe, kurzfristig abgesagt. Geplant war ein Konzert des bekannten Pianisten Miachel Leslie im Gemeindesaal der Kirche unter dem Titel „Alle Menschen sind gleich“. Auf dem Programm standen Stücke von Bach und Beethoven. In den Pausen wollte der Schauspieler Christian Schneller die 30 Artikel der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vorlesen. Die Einnahmen des Konzerts sollte die Organisation Medico International in Palästina erhalten. Nirit Sommerfeld (sie ist israelisch-deutsche Schauspielerin, Musikerin und Autorin) wollte während des Abends die Arbeit von Medico International vorstellen.

Als Reaktion auf die Absage versammelten sich an dem Abend etwa 90 Menschen vor der Erlöserkirche zum Protest. Nirit Sommerfeld reagierte mit einer Kunstperformance und hatte auf Plakate „Manchmals sprachlos! Niemals mundtot! Gesicht zeigen!“ gemalt.

Nirit Sommerfeld kommentierte (auf ihrem Blog): : „Es sollte verhindert werden, dass vor allem ich mich zu der Situation in Israel/Palästina äußere. Darüber wird noch gesprochen werden müssen. Wichtig ist aber erst einmal: Endlich haben wir in München, vielleicht sogar in Deutschland eine öffentliche Diskussion zum Thema ‚Maulkorb für Israelkritiker‘. Dafür danke ich allen, die solidarisch hinter mir standen, Mails weiterleiteten, Kommentare und Protestbriefe schickten. […] Im Grunde wünsche ich mir jedoch, dass diese Diskussion sehr bald in den Hintergrund tritt zugunsten einer anderen, viel bedeutsameren Diskussion darüber, wie wir von Deutschland aus dazu beitragen können, in Israel ebenso die Menschen zu stärken, die sich sehnlichst einen Wandel in ihrem Lande wünschen. Einen Wandel der jüdischen Israelis ebenso zugute kommen würde wie ihren muslimischen, christlichen, palästinensischen und anderen nicht-jüdischen Mitbürgern im israelischen Kernland sowie den Palästinensern in der besetzten Westbank und dem Gazastreifen.“

Von den Münchner Medien hat vor allem die Süddeutsche Zeitung (am 30. September 2016) und zusätzlich in der Wochenendausgabe über den Vorfall ausführlich und sachlich berichtet. Die evangelische Kirche habe erst durch das Schreiben der Israelfreunde von dem politischen Inhalt des Programms und von der Teilnahme von Nirit Sommerfeld erfahren, so Pfarrer Raabe. „Um das Konzert zu retten, habe er sie überreden wollen, keine politische Rede zu halten“. Ihre Reaktion auf diesen Vorschlag wurde ebenfalls von der SZ abgedruckt: „Wie soll so ein Benefizkonzert unpolitisch sein? Man kann nicht Gaza in den Mund nehmen, ohne politisch zu werden.“

In München ist es in der letzten Zeit zu einigen und heftigen Auseinandersetzungen gekommen, wo eine im allgemeinen anonym bleibende Gruppe von unbedingten-Verteidigern-der israelischen-Besatzungspolitik israelkritische Veranstaltungen zu verhindern versuchten. Ausführliche Berichte darüber in der Plattform BIB Jetzt v. 29.09.16 (BIB Geschäftsführerin wird Redeverbot erteilt) und v. 03.10.16 (Beredtes Schweigen öffnet Plattform zum Gespräch).

Das „Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung (BIB)“ ist ein neuer Zusammenschluss von bundesweit bekannten Persönlichkeiten, zu deren Gründern nicht nur nur der jüngst verstorbene Dr Rupert Neudeck gehört, sondern u.a. auch Prof. Dr. Udo Steinbach, Prof. Dr. Rolf Verleger und der ehemalige wichtigste Mitarbeiter von Kanzler Helmut Kohl im Ministerrang Prof. Dr. h.c. Horst Teltschick (CDU).

Das BIB kommentierte den jüngsten Vorfall von Diskussionsverhinderung: „Die enorme Resonanz, hunderte von Solidaritätsbekundungen, auch Empörung über die Vorgänge in vielen Teilen der Gesellschaft zeigen uns: Über die Situation in Israel und Palästina muss endlich öffentlich debatiert werden (dürfen)! Wenn uns wirklich die besondere Verantwortung als Deutsche gegenüber Israel etwas bedeutet, wenn wir Antisemitismus Einhalt gebieten wollen, wenn uns Menschenrechte ebenso wichtig sind wie Freiheit, Demokratie und Sicherheit, dann müssen wir endlich aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Wir dürfen Israel als westlichen Partner nicht aus der Verantwortung entlassen, die der Staat gegenüber seinen seit bald 50 Jahren unter israelischer Militärregierung lebenden palästinensischen Einwohnern hat. Und die er im Übrigen auch seinen eigenen jüdischen Bürgern gegenüber hat, deren Sicherheit lediglich durch enorme militärische Überlegenheit – Israel gilt als viertgrößte Militärmacht der Welt – garantiert ist. Der Schaden, den die Besatzung innerisraelisch anrichtet, ist kaum ermesslich.“

Die Angelegenheit zieht immer weitere Kreise bundesweit und macht deutlicher als alles bisher, welche Hetze und Diffamierung unter dem Verdikt des Antisemitismusvorwurf in unserem Rechtsstaat möglich sind, aber auch, dass es noch überregionale Presseorgane wie die FR und die SZ  und Medien (wie auch neulich die ARD in der Tagesschau zur Wasserfrage oder vorige Woche die Doppelsendung auf arte über die Siedler) gibt, die sich nicht scheuen, sachlich korrekt und unbeeindruckt von politischer Einflußnahme von realen Abläufen hier und in Israel/Palästina zu berichten.
Sönke Hundt

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