Rolf Verleger schreibt an die Anti-Antisemitismus-Aktivisten in Freiburg

Rolf Verleger am 13. September 2016 im Lagerhaus Schildstraße

Am 10. November 2016 hielt Prof. Dr. Rolf Verleger, den wir mit seiner sanften und klugen Art hier in Bremen anlässlich der Taz-Veranstaltung („Ist Bremen eine Hochburg des Antisemitismus?“ am 13.09.16 im Lagerhaus Schildstraße) kennen gelernt haben, in Freiburg im Rahmen des Café Palestine einen Vortrag. Die Veranstaltung war gut besucht. Zwei junge Männer, anonym bleibend, legten Flugblätter aus verschwanden schnell wieder. Das Flugblatt wurde veröffentlicht auf der Facebook-Seite des „Referats gegen Antisemitismus“ der Universität Freiburg, das wiederum in Zusammenarbeit mit der Amnesty-International-Südbaden-Hochschulgruppe, der Amadeu-Antonio-Stiftung und der DIG Freiburg „Aktionstage gegen Antisemitismus“ veranstaltet. In dem verteilten Flugblatt wird tatsächlich gefordert, einem jüdischen Professor Redeverbot zu verteilen. Einiges haben wir in Bremen ja auch schon erlebt, so weit ist es aber (bisher) bei uns nicht gekommen.

Rolf Verleger hat den jungen Leuten einen bewegenden Brief geschrieben und sie zur Diskussion aufgefordert.

„Freiburg, 12. November 2016

Sehr geehrte Herren,

Am 10.11. hielt ich im Rahmen des Café Palestine Freiburg in einem Hörsaal der Universität Freiburg einen Vortrag zum Thema „Ist der Einsatz für Menschenrechte in Palästina antisemitisch?“ Vor der Veranstaltung haben Sie per Flugblatt ein Redeverbot für mich an der Universität Freiburg gefordert.
Sie taten das zwanzig Minuten vor Veranstaltungsbeginn, als es noch leer war: Sie, zwei junge Männer, höflich und zurückhaltend, fast schüchtern, verteilten einen knallharten Text, anonym, ohne Namen der Verfasser. (S. Wortlaut im Anhang). Sie warteten aber nicht die Wirkung ab, sondern schauten, dass sie lieber weder unerkannt wegkamen.

Das hat mich sehr verblüfft. Das ist eigenartiges Verhalten. So als ob der Veranstalterin Frau Dr. Weber oder mir ein Geheimdienst zur Verfügung stünde, der Ihnen schaden könnte.

Ich habe mich gefragt, was Ihre Vorbilder für Ihre Aktivitäten sind. Ein mögliches Vorbild könnten für Sie die Geschwister Scholl sein: Auch sie wollten ihre Flugblätter gegen Unrecht sprechen lassen, sie wollten laut und deutlich ihre Stimme für Menschlichkeit erheben. Und sie wollten anonym bleiben, weil sie wussten, dass es sonst nicht gut für sie ausgehen würde. Daher scheint es mir möglich, dass Sie sich an diesen Helden des Widerstands gegen Unmenschlichkeit orientieren. In diesem Fall könnten Sie auch die Befürchtung haben, dass Sie – wie die Geschwister Scholl – Opfer Ihres Engagements werden könnten: die Scholls wegen ihres Eintretens für die Opfer der Nazis wurden selbst Opfer der Nazis, und Sie könnten vielleicht wegen ihres kompromisslosen Eintretens für Israel den Palästinensern und ihren Freunden zum Opfer fallen. Denn Sie halten diese Leute für mordlustig („mordlustige Antisemiten“ schreiben Sie) und – so befürchten Sie – es droht ein neuer „eliminatorischer“, „mörderischer“, „vernichtungsorientierter Antisemitismus“. So werden Sie vielleicht zu Helden für eine gerechte Sache. Das, so male ich mir aus, ist Ihre Sichtweise: Mich sehen Sie als einen Befürworter des „eliminatorischen Antisemitismus“ und vielleicht auch persönlich als einen mordlustiger Antisemiten: eine Gefahr für Israel und für Sie als Israelfreunde. Sie dagegen warnen und mahnen: Einen solchen potentiell gefährlichen Mann sollte man nicht reden lassen, im Interesse der eigenen Selbsterhaltung.

Das sind ungefähr meine Fantasien darüber, wie Sie sich selbst sehen. Meine eigene Sichtweise von Ihrer Aktivität ist aber eine völlig andere. Das ergibt sich so aus meiner Familiengeschichte.

Kennen oder kannten Sie Ihre Großväter? Ich kannte meine nicht. Der eine starb schon 1926 und liegt in Berlin-Weißensee, der andere starb in Auschwitz; wann genau, weiß man nicht.

Kennen oder kannten Sie Ihre Großmütter? Ich kannte meine nicht. Die eine ging 1942 in Theresienstadt zugrunde, die andere wurde, 42-jährig, direkt nach der Ankunft des Deportationszuges in Estland erschossen, denn sie hatte ihren gelben Stern in Berlin abgemacht, um zur Friseuse zu gehen; daher war sie eine Kriminelle und wurde in Estland in einer Sanddüne verscharrt.

Haben Sie Onkel und Tanten? Mein Vater hatte sieben Geschwister. Das Nazi-Regime überlebten nur er und ein Bruder.

Hat Ihr Vater eine Tätowierung? Mein Vater hatte eine, nämlich die Auschwitznummer am Arm. Seine erste Frau und ihre gemeinsamen drei Söhne hatten wahrscheinlich keine: Sie kamen in Auschwitz gleich ins Gas. Daher heiratete 1948 mein Vater meine viel jüngere Mutter: Er wollte noch einmal jüdische Kinder haben. So bin ich aufgewachsen, als Kind der Hoffnung und des Neuanfangs.

Was wissen Sie vom Judentum? Uns Kindern haben dies unsere Eltern vermittelt. In der chassidischen Tradition meines Vaters: Gottes Gebote befolgen, in der Hoffnung auf Erlösung und Befreiung. In der deutsch-jüdischen Tradition meiner Mutter: Judentum als Religion der tätigen Moral. In beiden Traditionen sind Juden deswegen Gottes auserwähltes Volk, insofern sie der Welt ein Vorbild an Moral und Gesetzestreue geben sollen und dies auch wollen. Manchmal in meinem Leben bin ich aus den engen Grenzen der Tradition ausgebrochen, aber Ich habe mich auch immer wieder für meine jüdische Gemeinschaft engagiert, habe die Gemeinde Lübeck mitgegründet, war Landesverbandsvorsitzender in Schleswig-Holstein und Delegierter im Zentralrat.

Nichts von meinen jüdischen Werten findet sich wieder im Verhalten der israelischen Regierung. Man hat den Palästinensern ihr Land geraubt, fantasiert sich als ewiges Opfer und leitet daraus die Rechtfertigung ab, Völkerrecht und Menschenrechte außer Kraft zu setzen, völlig außerhalb der jüdischen Tradition.
Sie wissen vielleicht, dass vor der Auslöschung des europäischen Judentums durch die Nazis und ihre Helfer der Zionismus eine Minderheitenposition im Judentum war. Gegen den Zionismus waren viele Strömungen: die Religiösen, die Bürgerlichen, die sozialistischen Bundisten, die allgemeinen Sozialisten. Wussten Sie dass das einzige jüdische Mitglied im britischen Kabinett 1917, Lord Edwin Montague, strikt gegen die Balfour-Deklaration war? Sind das alles „eliminatorische Antisemiten“, weil sie die Idee eines separaten jüdischen Staates fernab der eigentlichen Heimat der europäischen Juden für eine sehr schlechte Idee hielten? Kennen Sie den Bundisten Marek Edelman, überlebender Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto? Wissen Sie, was er von den Zionisten hielt?

Sie wissen vielleicht auch, dass Ihr unfreiwilliges Vorbild Heidegger (s. unten) seine junge Studentin Hannah Arendt anbetete. Wissen Sie, was diese kluge Frau 1945 über den Schwenk der zionistischen Mehrheit hin zur Unterstützung eines „jüdischen Staates“ geschrieben hat? Sie können es in meinem Buch nachlesen.

Wissen Sie, dass Hannah Arendt, Albert Einstein und andere hellsichtige amerikanische Juden 1948 in einem gemeinsamen Leserbrief an die New York Times dagegen protestierten, dass Menachem Begin, der Kommandeur des Massakers von Deir Yassin, kurz nach diesem Verbrechen die USA besuchte? Sie nannten ihn einen „Terroristen“ und forderten eine Einreiseverbot.
Montague, Edelman, Arendt, Einstein – nach Ihrer Logik alles Antisemiten!

Und nun können Sie vielleicht meine Sichtweise ansatzweise nachvollziehen: Dass mir junge Leute an der Universität Freiburg das Rederecht nehmen wollen, das erinnert mich fatal daran, was an der Universität Freiburg unter dem Rektorat Heidegger und seinen Nachfolgern vor 80 Jahren geschah: „Juden raus!“ Sie sind in meinen Augen nicht die Geschwister Scholl, weiß Gott nicht. Sondern eher Kinder im Geiste derjenigen, die damals die Universität judenrein machten.

Vielleicht finden Sie eine neutrale Person außerhalb Ihres Zirkels, die Ihnen erklären kann, dass Sie sich bei mir entschuldigen sollten.

Mit freundlichen, über die Vielfältigkeit des menschlichen Geistes immer noch verwunderten Grüßen
Rolf Verleger

Prof. Dr. Rolf Verleger ist Vorsitzender des Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung.

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