Eine Revolution hat gerade in Israel stattgefunden, als Geschäfte begannen, einen Preis für Plastiktüten zu verlangen. Wenn die Vorstellung, 10 Agorot [2,6 Cent] bezahlen zu müssen, das Land in einen Haufen Umweltschützer verwandeln kann, was mag erst geschehen, wenn auch die Siedlungen sie im Geldbeutel treffen würden?
Der Schaden, den sie verursachen, ist enorm. Sie vergehen nicht in Jahrhunderten. Sie verbreiten sich, werden vom Winde verweht, verschmutzen weite Flächen. Sie verunreinigen in der Tat die ganze Gegend und töten sogar (Tiere). Die Israelis wissen dies seit Langem, krümmten allerdings nie einen Finger, um sich dieses ärgerlichen Problems zu entledigen – das die Umwelt zunehmend belastete. Die Israelis verdrängten, verleugneten und ignorierten das sich verschlimmernde Problem im Glauben, dass es auf diese Weise von selbst verschwinden würde. Tat es aber nicht. Es wurde immer größer. Die Plastiktüten werden kaum wiederverwendet, außer um Hundekot einzusammeln; und die Israelis verbrauchen jährlich 2,7 Milliarden davon – 325 Tüten pro Person.
Und dann wurde ein Gesetz verabschiedet. 10 Agorot (2,6 Cent) für eine Tüte. Und simsalabim – waren sie verschwunden. Drei Wochen sind vergangen, und in den Supermärkten keine Tüten mehr. Der eine Million Schekel teure Jeep auf dem Parkplatz, und sein Besitzer spart 10 Agorot. Plötzlich fanden sich Alternativen: Großmutters Stoffbeutel, Rolltaschen, wiederverwendbare Tüten – die sich auch noch als praktisch erwiesen. Wie konnten wir nur mit diesen giftigen Tüten so lange leben? Wie konnten wir sie hundertfach verbrauchen – blind für die Schäden.
Zehn Agorot machten den Unterschied aus. Für 10 Agorot veränderten wir die Wirklichkeit, so dass sie kaum wiederzuerkennen ist. Für 10 Agorot retteten wir die Welt. Für 10 Agorot erwachten die Israelis aus ihrer Apathie und wurden zu Umweltschützern. Die 10-Agorot-Revolution. Tausend Werbekampagnen hätten dieses Resultat nicht erreicht. Die Schlussfolgerung: Geh den Leuten an den Geldbeutel.
Der Schaden, den sie anrichten, ist enorm. Sie verschwinden nicht in Jahrzehnten. Sie breiten sich aus und vergiften die Umwelt, und sie töten (Menschen). Die Siedlungen.
Die meisten Israelis wissen das, aber es ist ihnen egal. Sie sind sich des nicht wieder gut zu machenden Schadens bewußt – aber es entlockt ihnen ein Gähnen. Ja zu den Siedlungen, nein zu den Siedlungen – was soll‘s? Wer geht schon jemals hin? Aber die Siedlungen verdienen ihr eigenes 10-Agorot-Gesetz. Was bei den Plastiktüten funktionierte, wird auch in diesem Fall funktionieren.
Solch ein Gesetz wird allerdings nicht verabschiedet werden in Israel. Die Siedler sind zu mächtig. Aber wenn die Welt es verabschiedet und die Israelis zur Kasse gebeten werden für die Siedlungen – wird der Weckruf sofort ertönen. Wir bezahlen bereits einen gewaltigen Preis für diese Gier nach Land – an Blut, Geld und moralischem Ansehen in der Welt. Aber die wenigsten sind bereit, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, von Verbrechen und Strafe zuzugeben. Es gibt auch Leute, die diesen Zusammenhang vernebeln und zum Verschwinden bringen. Wie bei den Plastiktüten ist alles, was es braucht, einen ehrlichen Preis. Die Israelis sind nicht willens, ihn zu bezahlen.
Der Tag, an dem die Mehrheit weiß, dass sie für die Siedlungen zu zahlen hat, wird der Anfang vom Ende für diese sein. Der Tag, an dem der Schaden spürbar ist, durch Ausgrenzung und ökonomische Sanktionen, wird der Tag des Weckrufs sein. Deswegen sind Boykotte und Sanktionen so notwendig für Israel. Deswegen kann die BDS-Bewegung Israel immer noch retten – ohne dies natürlich zu beabsichtigen. Es entbehrt nicht der Ironie: Das „Legal Forum for a Democratic Zionist Israel“ [„Legales Forum für ein demokratisches zionistisches Israel“] schrieb einen erstaunlichen Brief an Supermarkt-Ketten, in dem es behauptete, das Plastiktüten-Gesetz gelte nicht für die Siedlungen. Möglicherweise haben die Siedler begriffen, wie gefährlich der Erfolg des Gesetzes für sie ist.
Man beachte, was 10 Agorot zuwege bringen können, und bedenke, was bei wirklichen Sanktionen, die jeder Israeli zu spüren bekommt, geschehen mag? Was passieren wird, wenn die Flughäfen Charles de Gaulle, JFK und Heathrow für Israelis ohne Visum versperrt sind? Und IKEA, Zara und McDonald‘s ihre Niederlassungen hier schliessen. Was passiert, wenn Hyundai- und Kia-Autos in Israel nicht mehr verkauft werden und es klar ist, dass dies wegen der Siedlungen geschieht?
Ohne derartige Sanktionen wird sich nichts ändern – genau so, wie sich bei den Plastiktüten nichts änderte ohne Sanktionen. So wie bei den Tüten wird uns das Ergebnis angenehm überraschen. Wie bei den Tüten werden wir uns plötzlich fragen, warum wir nicht früher daran gedacht haben. Und wie bei den Tüten werden wir plötzlich verstehen, wie gut und sicher es ohne sie geht.
Ohne Plastiktüten und Siedlungen, die unser Leben vergiftet und unsere Zukunft gefährdet haben.
(Übersetzung: Jürgen Jung).
Gideon Levy (* 1953 in Tel Aviv) ist ein bekannter israelischer Journalist. Er gilt als scharfer Kritiker der israelischen Besatzungspolitik in Palästina.
Levy studierte Politikwissenschaft in Tel Aviv und war 1978-82 Mitarbeiter von Schimon Peres. Seit 1982 schreibt er für die linksgerichtete Tageszeitung Haaretz. Seit 1988 veröffentlicht er dort die Kolumne Twilight Zone über die Lebensverhältnisse der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten. Da Levy internationale Boykotte gegen Israel befürwortet, werfen ihm Kritiker eine antiisraelische Haltung vor sowie die Unterstützung radikaler Kräfte unter den Palästinensern.
Quellen: The Settlements as Plastic Bags. In: Haaretz v. 2901.2017
Der Semit v. 04.02.2017