Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel

Lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten! (Jesaja 1,17)
Hintergrund
Wenn wir in diesem Monat in Bethlehem im besetzten Palästina zusammenkommen, leiden wir noch immer unter einem hundert Jahre währenden Unrecht und unter der Unterdrückung, die dem palästinensischen Volk seither zugefügt wurde. Alles begann mit der ungerechten und gesetzwidrigen Balfour-Deklaration und wurde dann intensiviert durch die Nakba und den Zustrom von Flüchtlingen; dem folgte die israelische Besetzung der Westbank einschließlich Jerusalems und des Gazastreifens, und danach wurde unser Volk und unser Land zerstückelt durch eine Politik der Isolierung und des Landraubes sowie durch den Bau von rein jüdischen Siedlungen und durch die Errichtung der Apartheid-Mauer.

Wir leiden also immer noch wegen einer einzigen politischen Deklaration eines westlichen Imperiums, einer Deklaration, die überdies auf einer unlauteren theologischen Prämisse basierte. Sogar einige Kirchen und einige christliche Führungspersönlichkeiten unterstützten die Errichtung eines Kolonialstaates in unserem Land und ignorierten dabei völlig, ja entmenschlichten jene Nation, nämlich unser Volk, das schon seit Jahrhunderten hier gelebt hatte und nun den Preis für Gräueltaten, die in Europa begangen wurden, bezahlen musste.

Auch jetzt, hundert Jahre später, nachdem Tausende ihr Leben verloren haben, nachdem Städte und Dörfer ausradiert, wenn auch nicht aus unserem Gedächtnis gelöscht sind, nachdem Millionen fliehen mussten und tausende Wohnhäuser zerstört wurden und nach wie vor Gefangene in Haft gehalten werden, dauert unsere Nakba (Katastrophe) immer noch an. Hundert Jahre sind vergangen – und noch immer gibt es keine Gerechtigkeit in unserem Land! Diskriminierung und Ungleichheit, militärische Besetzung und systematische Unterdrückung sind die Regel. Heute befinden wir uns in einer Sackgasse und haben einen toten Punkt erreicht. Trotz aller Versprechungen, trotz endloser Gipfelkonferenzen, trotz UN-Resolutionen und trotz Aufrufen religiöser und weltlicher Führer sehnen sich die Palästinenser immer noch nach Freiheit und Unabhängigkeit und verlangen nach Gerechtigkeit und Gleichheit. Menschlich gesprochen haben wir, wie der emeritierte lateinische Patriarch Sabbah vor Kurzem sagte, „die Stunde des Unmöglichen“ erreicht.

Kann es sein, dass wir „diese Stunde des Unmöglichen“ deswegen erreicht haben, weil die Dinge von Anfang an – nämlich schon vor hundert Jahren – auf einer ungerechten Prämisse aufgebaut wurden? Können wir etwas anderes erwarten, als dass solch eine ungerechte Erklärung nichts anderes als Zwist und Zerstörung erzeugt?

Heute ist aber auch Gelegenheit, an den „Aufruf von Amman“ (Amman Call) vor zehn Jahren zu erinnern. Wir sind denen dankbar, die damals in „Solidarität, die keinen Aufwand scheut“, zu uns standen und für Wahrheit und Gerechtigkeit eintraten. Wir sind aber auch besorgt darüber, dass in den letzten zehn Jahren die reale Situation sich verschlechtert hat und immer noch schlimmer wird.

Wie andere Initiativen, die sich für ein Ende der Besatzung einsetzen, hat auch der Aufruf von Amman seine Ziele, nämlich einen gerechten Frieden aufzubauen und zu gestalten, nicht erreicht, und wir müssen uns heute fragen – warum?

Was uns ebenso Sorge macht, ist Israels systematischer Angriff auf den kreativen palästinensischen Widerstand, aber auch auf unsere weltweiten Partner, die mit derselben Methode Israel dazu drängen, die Besatzung zu beenden. Viele neue Gesetze wurden in Israel und weltweit erlassen, um diesem kreativen und gewaltlosen Widerstand auf gesetzwidrige Weise entgegen zu wirken und alle Friedensbemühungen zu stoppen. Das ist nicht nur ein Angriff auf die Gewissens- und Redefreiheit, sondern zugleich ein Angriff auf unser Recht und unsere Pflicht, dem Bösen mit Gutem zu widerstehen. Israel versucht jetzt sogar, Pilger am Besuch Bethlehems zu hindern.

Bethlehem – die Stadt Immanuels!
Während wir dankbar sind für die „Solidarität, die keinen Aufwand scheut“, wie es im Aufruf von Amman formuliert wurde, und die von vielen Kirchen rings um den Globus praktiziert wird, sind wir besorgt darüber, dass einige Kirchen in den letzten zehn Jahren ihre Positionen infolge des manipulativen Drucks, der auf sie ausgeübt wurde, aufgeweicht haben. Viele verstecken sich noch immer hinter dem Deckmantel der politischen Neutralität, um ihre Partner im interreligiösen Dialog ja nicht zu kränken.

Zum Schluss sei betont: Wir kommen hier in der Region in einem Umfeld von Religionskriegen und religiöser Verfolgung zusammen. Religiöser Extremismus nimmt zu, und religiöse Minderheiten mussten bereits einen hohen und schmerzhaften Preis zahlen. Wir danken Euch für Eure Bemühungen um die Flüchtlinge und für Euer Bestreben, die Konflikte in unserer Region zu beenden. Ebenso danken wir Euch für Eure Unterstützung verfolgter Christen in Ländern wie Irak und Syrien.

Unser Aufruf
„Gott segnet, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6)
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden um meinetwillen.“ (Matthäus 5,10-11)
Nun, in dieser „Stunde des Unmöglichen“, sagen wir sehr ungern „Wir haben es Euch doch gesagt!“, bereits vor acht Jahren, als wir den damaligen Zeitpunkt zu einem Kairos-Moment erklärten. Wir stehen vor dem Unmöglichen, aber wir haben dennoch die Hoffnung nicht aufgegeben, weil wir als Jünger des Auferstandenen ein Volk der Hoffnung sind. Aber wir brauchen Euch jetzt, und wir brauchen Euch mehr denn je. Wir brauchen Eure „Solidarität, die keinen Aufwand scheut“. Wir brauchen tapfere Frauen und Männer, die bereit sind, ganz vorne an der Front zu stehen. Dies ist nicht die Zeit für Christen der oberflächlichen Diplomatie. Wir bitten Euch dringend, unseren Ruf zu hören und Euch das Folgende zu Eigen zu machen:

  1. dass Ihr die Dinge so nennt, wie sie sind: Bezeichnet Israel als einen Apartheidstaat im Sinne des internationalen Rechts. Dies stimmt überein mit dem, was eine Persönlichkeit wie Desmond Tutu sagt und was die Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien der Vereinten Nationen (UNESCWA) so ausdrückt: „Israel wird für schuldig befunden, ein Apartheid-Regime auf dem Rücken des palästinensischen Volkes zu errichten“. Uns beunruhigt die Tatsache, dass sowohl Staaten wie auch Kirchen mit Israel so umgehen, als wäre die Situation ganz normal, und dass sie dabei die Realität der Besatzung, die Diskriminierung und den täglichen Tod im Land außer Acht lassen. So wie die Kirchen sich einst vereinigt haben, um der Apartheid in Südafrika ein Ende zu bereiten – wobei der Weltrat der Kirchen eine mutige, entschieden prophetische und führende Rolle übernahm –, so erwarten wir heute von Euch dasselbe;
  2. dass Ihr die Balfour-Deklaration unmissverständlich als ungerecht verurteilt und vom Vereinigten Königreich verlangt, dass es das palästinensische Volk dafür um Entschuldigung bittet und für die Verluste entschädigt. Wir bitten die Kirchen und die Christen darum, die Palästinenser in ihrer Forderung nach Gerechtigkeit zu unterstützen. Immerhin war es diese infame Erklärung, die den Grundstein für das Konzept eines ethno-religiösen Staates legte. Und genau darunter leidet unsere Region heute;
  3. dass Ihr eine klare und theologisch eindeutige Haltung gegenüber jeder Theologie oder christlichen Gruppierung einnehmt, welche die Besatzung oder das Vorrecht einer Nation über die andere durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk oder einen heiligen Bund rechtfertigt. Wir bitten Euch, dass Ihr die Theologie, die Euch durch das Kairos Palästina-Dokument nahegelegt wird, annehmt und lebt und dass Ihr Konferenzen organisiert, um das Bewusstsein dafür zu stärken;
  4. dass Ihr eine klare Haltung gegenüber religiösem Extremismus einnehmt und gegenüber jedem Versuch, in unserem Land oder unserer Region einen religiösen Staat zu errichten. Wir bitten Euch, uns in unserem Kampf gegen den Nährboden des Extremismus zu unterstützen und unseren Rat zu suchen, wenn Ihr selbst gegen religiösen Extremismus vorgeht, damit unser Ansehen hier nicht gefährdet oder beschädigt wird;
  5. dass Ihr auf eure religiösen Dialogpartner erneut zugeht und sie damit herausfordert, dass Ihr Euch von der Partnerschaft wenn nötig zurückziehen könntet, falls zur Besatzung und zum Unrecht in Palästina und Israel keine eindeutige Position eingenommen wird;
  6. dass Ihr als Reaktion auf die jüngsten Versuche Israels Kampagnen organisiert, um leitenden Persönlichkeiten der Kirche und Pilgern zu ermöglichen, Bethlehem und andere palästinensische Städte auf unserer Seite der Mauer zu besuchen, und ihr dabei mit palästinensischen Tourismus- und Pilger-Agenturen zusammenarbeitet. Wir bitten Euch, dass Ihr Euch öffentlich dagegen wendet, wann immer Israel oder andere christliche Gruppen Pilger zu entmutigen versuchen, palästinensische Orte zu besuchen;
  7. dass Ihr unser Recht und unsere Pflicht verteidigt, kreativ und gewaltlos der Besatzung Widerstand entgegen zu setzen. Wir bitten, dass Ihr Euch für ökonomische Mittel zum Druck auf Israel aussprecht, damit es die Besatzung beendet, und dass Ihr auch den sportlichen, kulturellen und akademischen Austausch als Mittel benutzt, um Israel zur Einhaltung des internationalen Rechts und der UN-Resolutionen und damit zur Beendigung der Besatzung, der Apartheid und Diskriminierungen zu drängen und den Flüchtlingen eine Rückkehr in ihre Heimat und auf ihr angestammtes Land zu ermöglichen. Dies ist unser letztes friedliches Mittel. Als Reaktion auf Israels Kampf gegen BDS bitten wir Euch darum, diese Maßnahmen zu intensivieren;
  8. dass Ihr zum Schutz palästinensischer Christen Lobby-Gruppen bildet. Wir bitten, dass Ihr öffentlich und in Übereinstimmung mit den Gesetzen diejenigen christlichen Organisationen zur Rechenschaft zieht, die unsere Arbeit und unsere Legitimität in Misskredit bringen.

Wir schlagen deshalb als Angelegenheit von höchster Dringlichkeit vor, dass Ihr innerhalb des Weltrats der Kirchen ein strategisches Programm in Anlehnung an das „Programm zur Bekämpfung des Rassismus“ kreiert, damit aktive Programme zur Förderung von Gerechtigkeit und Frieden in Palästina und Israel mit Nachdruck propagiert, unterstützt und entwickelt werden. Überdies schlagen wir vor, für die Aufrechterhaltung der Präsenz der palästinensischen Christen zu sorgen, und zwar durch Unterstützung ihrer Organisationen, ihrer kirchlichen Arbeit und ihrer
friedlichen Anstrengungen.

Als treue Zeugen anerkennen, bekräftigen und verharren wir in der beständigen prophetischen Tradition, besonders derjenigen, die mit dem Aufruf von Amman begann und im Kairos Palästina-Dokument erneut artikuliert wurde. Wir sind uns völlig bewusst, welchem Druck führende kirchliche Persönlichkeiten hierzulande und im Ausland ausgesetzt sind, damit sie nicht die Wahrheit aussprechen. Aber genau deswegen schreiben wir diesen Aufruf.

Die Dinge sind mehr als dringend. Wir stehen am Rande eines katastrophalen Zusammenbruchs. Der gegenwärtige Status Quo ist unhaltbar. Dies könnte unsere letzte Chance sein, einen gerechten Frieden zu erreichen. Und dies könnte für die christliche Gemeinschaft in Palästina die letzte Möglichkeit sein, die Präsenz der Christen in diesem Land zu erhalten. Unsere einzige Hoffnung als Christen beruht auf der Tatsache, dass in Jerusalem, der Stadt Gottes, die auch unsere Stadt ist, sich
ein leeres Grab befindet, und dass Jesus Christus, der über Sünde und Tod triumphiert, uns und der gesamten Menschheit neues Leben gebracht hat.

„Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“ (2. Kor. 4,8-9)
12. Juni 2017

Quelle: https://www.oikoumene.org/de/press-centre/news/christian-organizations-in-palestine-release-open-letter
[Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Sören Widmann & Irene Idarous]

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