B’Tselem: Israels Militärgerichte für Kinder dienen nur der Besatzung

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat zu der gestrigen Verurteilung der 17jährigen Ahed Tamimi durch ein israelisches Militärgericht Stellung genommen. Das Mädchen war für eine Ohrfeige, die sie einem Soldaten verabreichte, von einem israelischen Militärgericht gestern zu acht Monaten Haft verurteilt worden. Dieses Ergebnis, so B’Tselem, zeige einmal mehr, dass die Jugendmilitärgerichte Israels nur einen Zweck hätten: nicht die palästinensischen Kinder, sondern die Besatzungsmacht zu schützen.

Ahed Tamimi im israelischen Militärgericht Ofer im Februar 2018. (Foto: screengrab)Das Urteil, das im Wege einer Vereinbarung aller gerichtlich beteiligten Parteien zustande kam, war mit Spannung erwartet worden. Seit ihrer Verhaftung mitten in der Nacht am 19. Dezember 2017 war die damals 16jährige, die Ende Januar ihren 17. Geburtstag im Militärgefängnis erleben musste, zu einer weltweiten Ikone des palästinensischen Widerstands geworden.

Nur eine Stunde, nachdem am 15. Dezember ein israelischer Soldat ihrem 15jährigen Cousin Mohammed Tamimi in den Kopf geschossen hatte – wofür sich der Soldat bis heute nicht verantworten muss – drangen zwei israelische Soldaten auf das Grundstück der Familie Tamimi ein. Die durch die lebensgefährliche Verletzung ihres Cousins aufgebrachte Ahed versuchte daraufhin, die Soldaten vom Grundstück zu vertreiben und ohrfeigte sie. Ihre Mutter Nariman streamte die Auseinandersetzung live über Facebook. Die Soldaten verließen daraufhin das Grundstück.

Zunächst geschah nichts. Doch als das Video des Vorgangs wenige Tage später im israelischen Fernsehen gezeigt wurde, brach kollektive Empörung aus. Die Armee fühlte sich zutiefst erniedrigt, dass ein 16jähriges Mädchen öffentlich einen Soldaten geohrfeigt hatte und fand dafür Rückendeckung führender israelischer Prominenter. Die israelische Kulturministerin, Miri Regev, nannte das Mädchen eine „Terroristin“ und orientierte sich damit an der Einstellung der Netanyahu-Regierung, wonach jeder Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Besetzung der palästinensischen Gebiete als ein Kapitalverbrechen anzusehen ist. Der Vorgang sei eine Schande, so Regev. Von jetzt ab müssten Soldaten berechtigt sein, „in einem solchen Fall sofort zurückzuschießen“. Der rechte Bildungsminister Naftali Bennett verlangte eine „lebenslange Haftstrafe“ wegen der Ohrfeige. Und ein prominenter israelischer Fernsehjournalist verkündete öffentlich, man sollte das Mädchen „bei einer späteren Gelegenheit in der Dunkelheit, ohne Zeugen und Kameras einen Preis bezahlen lassen“. Ob er damit nur Prügel oder gar Schlimmeres meinte, ließ er vielsagend offen.

Vier Tage nach der Ohrfeige sah sich die israelische Armee angesichts dieser öffentlichen Empörung gezwungen, ihr Image wiederherzustellen. Nachts gegen vier Uhr drang ein große Gruppe israelischer Soldaten in das Haus der Tamimis ein und holte das 16jährige Mädchen aus dem Bett. Die Hände mit Handschellen auf den Rücken gebunden, zerrten die Soldaten es aus dem Haus und filmten den Verhaftungsvorgang. Das Video stellte die Armee danach triumphierend ins Netz.

Als Aheds Mutter am Morgen zur Polizei ging, um zu erfahren, wohin man ihre Tochter gebracht hatte, wurde sie ebenfalls verhaftet. Das Streamen des Videos über Facebook wurde ihr als „Anstachelung zur Unruhe“ zum Vorwurf gemacht. Einen Tag später verhaftete die Armee Aheds Cousine Nour, die an der Ohrfeigen-Auseinandersetzung ebenfalls beteiligt war. Während die Cousine nach 16 Tagen entlassen wurde, blieben Mutter und Tochter bis heute in Militärhaft.
Das Militärgericht schließt die Öffentlichkeit aus

Nach einer beispiellosen weltweiten Welle der Solidarität mit Ahed Tamimi, war das gestrige Urteil mit Spannung erwartet worden. Das nicht zuletzt, weil im Februar ein Militärrichter bei der ersten Verhandlung entschied, das Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Prozessbeobachter, Journalisten und anwesende Diplomaten wurden aus dem Gerichtssaal geworfen, und das Gericht begründete dies mit dem „schutzwürdigen Interesse der Jugendlichen“. Doch weder die Jugendliche, noch ihre Eltern wollten diesen Schutz und bestanden auf Öffentlichkeit. Diesen Montag lehnte dennoch auch ein Berufungsrichter ab und beharrte darauf, dass das Militärverfahren nichtöffentlich geführt werde – „zum Schutze der Minderjährigen“. Die Anwältin von Ahed Tamimi kommentierte dies verbittert mit den Worten: „Das Gericht entscheidet, was gut für das Gericht ist, nicht, was gut für Ahed ist.“

Der Wunsch des israelischen Militärs, sich aus der peinlichen Lage, in die man sich mit der Verhaftung des Mädchens gebracht hatte, möglichst rasch und geräuschlos wieder zu befreien, wurde in der nichtöffentlichen Verhandlung gestern deutlich. Von den ursprünglich auf die Schnelle von der Militärstaatsanwaltschaft im Januar konstruierten 12 Vorwürfen ließ das Militärgericht überraschend acht fallen. Was blieb waren vier Anklagen wegen Übergriffen, darunter auch die besagte Ohrfeige, die alles ausgelöst hatte. Dafür verhängte das Gericht acht Monate Haft. Auch die Mutter wurde zu acht Monaten Haft verurteilt, wobei bei beiden die drei Monate Untersuchungshaft angerechnet wurden. Außerdem einigte man sich auf eine Geldstrafe von umgerechnet rund Eintausend Euro für Ahed und rund 1.500 Euro für die Mutter. Die Cousine wurde zu den 16 Tagen Haft verurteilt, die sie bereits abgesessen hatte, plus umgerechnet rund 500 Euro Geldstrafe.

Ahed Tamimis Rechtsanwältin, Gaby Lasky, gab sich kritisch. „Die Tatsache, dass für die gerichtliche Vereinbarung alle Anklagepunkte fallengelassen wurden, auf deren Basis man die Inhaftierung des Mädchens bis zum Urteil gerechtfertigt hatte, beweist, dass die Verhaftung von Tamimi mitten in der Nacht und das Verfahren gegen sie nur dazu dienten, eine offene Rechnung zu begleichen.“

Auch das Mädchen selbst hatte zu dem Ergebnis ein klares Urteil. Noch im Gerichtssaal kommentierte die 17jährige Ahed nüchtern: „Unter der Besatzung gibt es keine Gerechtigkeit.“ Dann wurde sie von Gerichtsdienern abgeführt.
B’Tselem kritisiert Israels Jugendmilitärgerichte

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem bewertete in einer Presseerklärung die gerichtliche Vereinbarung ebenfalls kritisch. „Fast alle palästinensischen Minderjährigen willigen in solche gerichtlichen Vereinbarungen ein, da ihnen die israelischen Militärgerichte aufgrund ihrer Haftpraxis praktisch keine Wahl lassen. Aus der Haft heraus können sich die Minderjährigen nur schlecht im Verfahren wehren, und für den seltenen Fall, dass sie freigesprochen werden, ist die Dauer der Untersuchungshaft oft länger, als es bei einer Verurteilung der Fall gewesen wäre.“

B’Tselem verweist darauf, dass der Fall von Ahed Tamimi nur deshalb herausragend war, weil er eine derartige weltweite Aufmerksamkeit erfuhr. „Doch im Prinzip ist der Fall nicht anders, als der von hunderten ähnlicher Fälle jedes Jahr.“ Nach Angaben der israelischen Gefängnisbehörde (IPS) gegenüber B’Tselem befanden sich am 28 Februar 2018 insgesamt 356 palästinensische Kinder in israelischer Gefangenschaft: 95 von ihnen verbüßten eine Haftstrafe, 257 befanden sich in Untersuchungshaft und vier saßen in Administrativhaft.

In einem neuen, auf Englisch herausgegebenen Report mit dem Titel: „Jugendliche in Gefahr: Wie die Rechte palästinensischer Minderjähriger durch israelische Militärgerichte verletzt werden“ kommt die Menschenrechtsorganisation zu dem Ergebnis, dass die von Israel mit viel Werbeaufwand propagierten neuen Jugendmilitärgerichte wenig mit den schutzwürdigen Interessen von Minderjährigen zu tun haben. Im Ergebnis, so B’Tselem, bestehe ihre Aufgabe darin, die Minderjährigen dazu zu bringen, Vereinbarungen zu unterzeichnen, wie jene, die Ahed Tamimi unterschrieb.

„Während Israel vorgibt, sich für die Rechte verhafteter palästinensischer Minderjähriger einzusetzen, ist das Gegenteil wahr“, urteilt die israelische Menschenrechtsorganisation. „Die Rechte der Minderjährigen werden routinemäßig und systematisch vom Moment ihrer Inhaftierung an verletzt.“

Der Ablauf des Verfahrens gegen ein 16jähriges Mädchen, das eine Ohrfeige austeilte, dafür drei Monate in Militärhaft festgehalten und zur Unterzeichnung einer gerichtlichen Vereinbarung mit einer achtmonatigen Haftstrafe veranlasst wurde, wirkt da wie eine Bestätigung.

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Palästina Nachrichten v. 22.03.2018

 

 

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