Israels geplante Aneignung palästinensischer Gebiete ist eine grobe Verletzung des Völkerrechts. Es ist Zeit für eine deutliche Haltung dazu.
Von Hannes Alpen, Paul Pasch in IPG am 29.06.2020
In Israel tagt bis zum 1. Juli 2020 ein amerikanisch-israelisches Komitee, das über die palästinensischen Gebiete berät, die die israelische Regierung dann unilateral annektieren können soll. Dass die israelische Regierung daran ein grundsätzliches und sehr konkretes Interesse hat, hat sie in ihrem Koalitionsvertrag im Mai 2020 festgeschrieben. Es ist noch unklar, wann und in welchem Ausmaß Israel sich zu einem solchen Schritt entscheiden wird. Allerdings hat die Intention allein bereits eine verheerende Signalwirkung.
Eine unilaterale Annexion von Teilen der palästinensischen Gebiete, egal wie groß oder klein sie am Ende ausfällt, wäre nicht nur ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, sie würde auch der ohnehin schwindenden Aussicht auf eine friedliche Zweistaatenlösung erheblich zuwiderlaufen. Es gibt bereits massive Kritik an dem Vorhaben. Die israelische Linke befürchtet, eine unilaterale Annexion könne die israelische Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung zementieren und Israel seinen demokratischen Charakter verlieren.
Israelische Sicherheitsexperten sehen ein großes Sicherheitsrisiko für Israel und eine deutliche Verschlechterung der guten Beziehungen zu Jordanien und Ägypten. Auch international, mit Ausnahme der Trump-Administration, hagelt es Kritik, die bis zu klaren Sanktionsforderungen reicht. Ein offener Brief, initiiert von ehemaligen Knesset-Abgeordneten der sozialdemokratischen Familie, der die Worte des EU-Außenbeauftragten Josep Borell aufgreift, dass eine Annexion „nicht unangefochten“ bleiben könne, wurde europaweit von 1 080 Parlamentsabgeordneten unterschrieben.
In der deutschen Politik hält man sich traditionell mit Kritik an Israel zurück. In der Regel bringt man allein seine Sorgen zum Ausdruck, dies aber nur nach langen Vorreden und dem Betonen gemeinsamer Werte. Ob dies in der aktuellen Frage der richtige Weg ist, ist fraglich. Denn offensichtlich divergieren die Werte in puncto Annexion erheblich. Deutschland ist viel gelegen an der rechtsbasierten internationalen Ordnung. Eine unilaterale Annexion und auch die andauernde israelische Besatzung mit dem stetigen Siedlungsbau stehen in einem diametralen Verhältnis dazu. Auch aus Israel mehren sich die Stimmen, die für eine offenere Debatte in Deutschland werben. So schrieb der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, im Tagesspiegel, „Deutschland muss endlich den Mund aufmachen“. Am 1. Juli soll im Bundestag zu dem Thema diskutiert werden.
Deutschland ist viel gelegen an der rechtsbasierten internationalen Ordnung. Eine unilaterale Annexion und auch die andauernde israelische Besatzung mit dem stetigen Siedlungsbau stehen in einem diametralen Verhältnis dazu.
Für uns als Partner der Sozialdemokratie in der Konfliktregion ist nicht immer klar, ob die Schwere der Lage richtig eingeschätzt wird. Grundlage einer sozialdemokratischen Nahostpolitik sollte sein, für ein Leben in Freiheit, Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen einzutreten, die zwischen Jordanfluss und Mittelmeer leben. Dazu gehört, entschieden für ein Ende der seit 1967 andauernden israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete einzutreten. Es gibt schlichtweg keine guten Argumente für eine andauernde Besatzung.
Für eine solche Haltung und Politik finden sich Partner auf beiden Seiten, auch in der sozialdemokratischen Parteienfamilie. Ihre Stimmen gilt es zu hören und zu stärken. Die bestmögliche Umsetzung einer gerechten Friedensvision ist noch immer das Erreichen einer verhandelten Zweistaatenlösung. Dazu gehört auch die Einrichtung und Anerkennung eines lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite Israels.
Viele Staaten, darunter Deutschland, glauben, die Annerkennung des palästinensischen Staates könne erst das Ergebnis einer verhandelten Lösung mit Israel sein. Damit lassen diese Staaten das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser in der Hand Israels, das aktuell von einer Regierung angeführt wird, in der sich Mitglieder befinden, die das Existenzrecht eines palästinensischen Staates offen ablehnen. Die Anerkennung eines palästinensischen Staates könnte jedoch im Angesicht des Annexionsvorhabens der israelischen Regierung ein starkes Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung sein.
In der aktuellen Konfliktsituation ist diese Zweistaatenlösung in weite Ferne gerückt. Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, vor allem unter jungen Palästinensern, auf eine Einstaatenlösung hinzuarbeiten, also einen binationalen Staat mit gleichen Rechten für alle Bürgerinnen und Bürger. Dieses Szenario wird in Israel wenig Anklang finden, weil es den dezidiert jüdischen Charakter des Staates untergraben würde. Man würde also glauben, in israelischen Regierungskreisen bestünde größtmögliches Interesse an einer Zweistaatenlösung. Dies ist leider aktuell mitnichten der Fall. Stattdessen hat die rechtsnationale Siedlerbewegung immer größeren Anteil an der Regierung und arbeitet auf eine Einstaatenlösung hin, die den Palästinensern jedoch höchstens eine Teilautonomie einräumt, ohne gleiche Rechte.
Die bestmögliche Umsetzung einer gerechten Friedensvision ist noch immer das Erreichen einer verhandelten Zweistaatenlösung.
Es hat in der Vergangenheit bereits viele Versuche gegeben, eine gerechte Friedenslösung auf der Grundlage internationaler Parameter (UN-Sicherheitsratsresolutionen) zu erreichen. Das bisherige Scheitern dieser Versuche sollte allerdings nicht zu dem Schluss führen, man müsse jetzt einmal etwas Neues probieren und versuchen, nach dem Recht des Stärkeren und unter Mißachtung internationalen Rechts eine „Lösung“ zu erzwingen. Die Sozialdemokratie sollte daher unilateralen Schritten, die einer Zweistaatenlösung entgegenstehen, wie die geplante Annexion, entschieden entgegenwirken. Seine Sorgen zum Ausdruck zu bringen und es ansonsten bei einer bedingungslosen Unterstützung Israels zu belassen ist jetzt besonders kontraproduktiv.
Auch eine bedingungslose Unterstützung einer palästinensischen Selbstverwaltung sollte vor dem Hintergrund autoritärer Tendenzen geprüft werden. Zwar müssen sich die Palästinenser ihr Recht auf Selbstbestimmung und ein Leben in Frieden und Freiheit nicht erst verdienen. Die Sozialdemokratie sollte sich jedoch weiterhin für ein demokratisches und sozial gerechtes Palästina einsetzen, das selbstbestimmt und friedlich neben Israel existieren kann.
Die Sicherheit Israels hat für Deutschland und die deutsche Sozialdemokratie große Bedeutung. Daher sollte sie sich weiterhin deutlich dafür einsetzen. Hierbei sollte ein umfassendes Sicherheitsverständnis zur Anwendung kommen, das berücksichtigt, dass nur ein Ende der Besatzung und ein nachhaltiger Frieden mit den Palästinensern zu einem dauerhaften Frieden in der Region führen kann.
Deutschland befindet sich ab 1. Juli in einer besonders verantwortungsvollen internationalen Rolle. Es übernimmt sowohl die EU-Ratspräsidentschaft als auch den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Es sollte in diese Verantwortung mit einer deutlichen pro-Frieden- und pro-Menschenrechte-Haltung gehen und die Krisensituation dazu nutzen, einen Beitrag zu einer nachhaltigen Friedenslösung zu leisten.
Quelle: IPG (Internationale Politik und Gesellschaft) 29.06.2020