Wie die Süddeutsche Zeitung am 27. Juli 2020 berichtete, protestierten mehr als sechzig Akademiker und Intellektuelle in einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie wenden sich gegen die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik. Sie schreiben: „Unsere Sorge gilt der drohenden Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel sowie dem inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs, der auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik zielt. Unsere Sorge ist besonders groß da, wo diese Tendenz mit politischer und finanzieller Unterstützung des Antisemitismusbeauftragten gefördert wird.“
Insbesondere die Schmähung des Historikers und Publizisten Reiner Bernstein macht ihnen Sorgen. Bernstein ist derzeit im rhetorischen Fadenkreuz des israelischen Spitzenbeamten Arye Sharuz Shalicar. Der veröffentlichte vor zwei Jahren das Buch „Der neu-deutsche Antisemit“ im Verlag Hentrich & Hentrich. Laut dem Brief an Merkel wird Bernstein in dem Buch als Antisemit beschrieben, obwohl er sich schon lange für eine gerechte Lösung des Nahost-Konfliktes einsetze.
Hier der offene Brief mit der Liste der Unterzeichner im Wortlaut:
24. Juli 2020
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,
mit diesem Schreiben wenden sich besorgte deutsche und israelische Bürgerinnen und Bürger an Sie. Unsere Sorge gilt der drohenden Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel sowie dem inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs, der auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik zielt. Unsere Sorge ist besonders groß da, wo diese Tendenz mit politischer und finanzieller Unterstützung des Antisemitismusbeauftragten gefördert wird.
Ein Beispiel, welches menschenverachtende Ausmaß solche Aktivitäten annehmen können, ist die Förderung der Publikation »Der neu-deutsche Antisemit« von Arye Sharuz Shalicar, laut Angaben des Verlags seit 2017 Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Ministerium für Nachrichtendienste im Büro des israelischen Ministerpräsidenten, und dessen anschließende Vortragsreise durch deutsche Städte. In diesem 2018 im Verlag Hentrich & Hentrich erschienenen Buch wird der Historiker und Publizist Dr. Reiner Bernstein als Antisemit geschmäht.
Seit Jahrzehnten setzt sich Reiner Bernstein unermüdlich für eine gerechte und gewaltfreie Lösung des Israel-Palästina Konflikts ein, z. B. im Rahmen der Genfer Friedensinitiative (2003). Dass gerade ein sorgfältig differenzierender Historiker auf diese Weise verunglimpft wird, zeigt paradigmatisch die zunehmend auch in Deutschland wirksame Strategie der israelischen Regierung, jegliche Kritik der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik als antiisraelisch und antisemitisch zu brandmarken.
Reiner Bernsteins Engagement, der, anders als von Shalicar behauptet, kein Jude ist, gründet in seiner historischen Verantwortung als Deutscher. Mit seiner ethischen Haltung steht er darüber hinaus in einer knapp hundertjährigen Tradition der Bemühungen um eine gerechte Lösung für den jüdisch-arabischen bzw. israelisch-palästinensischen Konflikt, wie sie bereits in den 1920er Jahren von Mitgliedern von Brit-Shalom (Friedensbund) entworfen wurde. Zu den Mitgliedern von Brit-Shalom gehörten auch Martin Buber und Gershom Scholem. Die Hoffnung auf Frieden blieb bis zur Ermordung Jitzchak Rabins ein zentrales Anliegen der israelischen Gesellschaft und Politik. Ermordet wurde Rabin von einem Einzeltäter, dessen politische Haltung seither immer wirkungsmächtiger geworden ist und heute wesentliche Züge der israelischen Regierungspolitik zu bestimmen scheint.
Wir fragen uns, welchen Kräften im heutigen Israel die Unterstützung der Bundesregierung gilt. Mit der Förderung zweifelhafter Publikationen, deren aggressiv-populistische Machart nicht faktengestützt ist, wird jedenfalls geduldet, dass Stimmen des Friedens und des Dialogs diffamiert und mundtot gemacht werden sollen. Frieden kann nur durch gegenseitigen Respekt erreicht werden.
Wo kritischer Dialog notwendiger denn je ist, schafft die missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs zunehmend auch in Deutschland eine Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst. In dieser Atmosphäre wundert es nicht, dass das Berliner Kammergericht Bernsteins Klage gegen seine Verleumdung zurückgewiesen hat. Mit der Unterstützung rechtspopulistischer israelischer Stimmen lenkt der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus die Aufmerksamkeit von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen ab, die jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich gefährden.
Mit der EU-Ratspräsidentschaft und dem Vorsitz im UN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommt Deutschland aktuell eine besondere Verantwortung zu. Wesenskern deutscher Staatsraison ist auch und vor allem die Verpflichtung gegenüber den universellen Menschenrechten und dem Völkerrecht. Die Sicherheit Israels kann nur im Einklang mit diesen dauerhaft sein.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihre Verantwortung im Sinn der Friedenskräfte wahrnehmen wird, die immer schon Teil der jüdischen Gemeinschaft waren und sind. Wir erwarten eine entschiedene Bekämpfung des Antisemitismus dort, wo er sich tatsächlich manifestiert. Wir erwarten den konsequenten Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, um im öffentlichen Diskurs kontrovers über die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts diskutieren zu können. Und wir erwarten nicht zuletzt eine entschlossene Initiative der Bundesregierung und der Europäischen Union, um die drohende, völkerrechtswidrige Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel zu verhindern und der israelischen und der palästinensischen Seite die Rückkehr an den Verhandlungstisch zu ermöglichen.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Katajun Amirpur, Köln Dr. Gabriele von Arnim, Berlin
Prof. Dr. Dieter Becker, Bielefeld
PD Dr. Johannes M. Becker, Marburg
Katja Behrens, Darmstadt
Prof. Dr. Wolfgang Benz, Berlin
Jörn Böhme, Berlin
Prof. Dr. Lorenz Böllinger, Bremen
Fred Breinersdorfer, Berlin
Prof. Dr. Micha Brumlik, Berlin
Prof. Dr. Jose Brunner, Tel Aviv
Prof. Dr. Naomi Chazan, Jerusalem
Prof. Dr. Johannes Feest, Bremen
Prof. Dr. Rivka Feldhay, Jerusalem
Prof. Dr. Josef Freise, Neuwied
Prof. Dr. Gideon Freudenthal, Jerusalem
Prof. Dr. Efrat Gal-Ed, Köln
Prof. Dr. Amos Goldberg, Jerusalem2
Offener Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel Dr. Ran HaCohen, Tel Aviv
Dr. Illana Hammerman, Jerusalem
Gert Heidenreich, Seefeld
Christoph Hein, Havelberg
Michal Kaiser-Livne, Berlin
Wolfgang Killinger, Gauting
Dr. Tanja Kinkel, München
Prof. Dr. Menachem Klein, Jerusalem
Dr. Annelen Kranefuss, Köln
Ursula Krechel, Berlin
Michael Krüger, München
Prof. Dr. Karin Kulow, Berlin
Dr. Ulrich Kusche, Göttingen
Andreas Lesser, München
Dr. Meir Margalit, Jerusalem
Prof. Dr. Thomas Metzinger, Mainz
Brian Michaels, Bonn
Edith Müller, Berlin
Sten Nadolny, Berlin
Norbert Niemann, München
Prof. Dr. Fania Oz-Salzberger, Haifa
Rainer Ratmann, Hünstetten
Prof. Dr. Klaus Reichert, Frankfurt
Edgar Reitz, München
Prof. Dr. Luise Reddemann, Köln
Anatol Regnier, München
Prof. Dr. Sebastian Scheerer, Hamburg
Dr. phil. habil. Claudia Schmölders, Berlin
Ingo Schulze, Berlin
Alexandra Senfft, Fuchstal
Prof. Dr. Galili Shahar, Tel Aviv
Volker Skierka, Hamburg
Dr. Tilman Spengler, München
Prof. Klaus Staeck, Heidelberg
Christian Sterzing, Edenkoben
Johano Strasser, Berg (Starnberger See)
Barbara Unmüssig, Berlin
Prof. Dr. Rolf Verleger, Lübeck
Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp, Köln
Dr. Ofer Waldman, Berlin / Kiryat Tivon
Hans Well, „Wellbappn“, Türkenfeld
Friedrich Wolf, Köln
Prof. Dr. Moshe Zimmermann, Jerusalem
Rainer Zimmer-Winkel, Berlin
Prof. Dr. Moshe Zuckermann, Tel Aviv
Nachträglich haben unterzeichnet:
Prof. Dr. Aleida Assmann, Konstanz
Prof. Dr. Jan Assmann, Konstanz
Prof. Dr. Gert Krell, Hofheim / Ts.
Stand 26. Juli 20203