Wie ehrlich ist die Kritik an der Documenta in Deutschland? Wie konsequent der Geist der Kritik an der russischen Invasion in die Ukraine? Und was hat das mit Israel zu tun?
Es ist nicht ausgemacht, wann der Documenta-Skandal in Deutschland verblassen wird. Zu überlegen ist gleichwohl jetzt schon, was an ihm so deutsch ist. Der Skandal hat in Deutschland stattgefunden, weil die Documenta ein in Deutschland stattfindendes Kunstereignis ist. Aber gemessen daran, dass in ihr schon immer Exponate aus der ganzen Welt ausgestellt werden, ist auffällig, dass in keinem anderen Land eine der deutschen vergleichbare erregte Reaktion zu verzeichnen war. Nicht einmal in Israel, wo der Eklat kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Bemerkenswert ist vor allem eins: Als man am Riesenbild zwei antisemitische Motive ausgemacht hatte, meinte man sofort, reagieren und das Gemälde abhängen zu sollen, um dann die gesamte Ausstellung politisch zu desavouieren. Der Staatspräsident, der Bundeskanzler, das Parlament, diverse Parlamentarier und die Medien meldeten sich zu Wort, allen voran der Zentralrat der Juden in Deutschland, in Deutschland lebende Juden und sogar einige in Deutschland weilende Israelis.
Und es stellt sich die Frage, warum man sich vom Zentralrat und “den Juden” zu solch einer heftiger Reaktion animieren lässt, mithin den “israelbezogenen Antisemitismus” (obligatorisch) mit einbezieht, ohne zugleich zu fragen, was sich gerade in Israel an übelstem Rassismus, an zur offiziellen Politik geformter Xenophobie und an Hasstiraden gegen israelische Palästinenser in alltäglicher Praxis abspielt, an der sich die hohe Politik, die Medien und als gängige Routine auch “die Straße” beteiligt. Es handelt sich dabei nicht um Ausnahmen, sondern um Erscheinungen und Vorkomnisse, die längst schon zur Matrix der politischen Kultur Israels geronnen sind.
Allein schon die israelische Parteienlandschaft spricht da Bände. Es sind in Israel Meinungen, Polemiken und rhetorische Aggressionen aus dem Munde von populären Politikern zu hören, die in anderen westlichen Ländern (mithin in Deutschland) den sie aussprechenden Politiker sehr bald zum Rücktritt zwingen würden. Wieso kommt das im deutschen Polit- und Kulturdiskurs nie zur Sprache, und wenn es kommt, darf man davon ausgehen, dass derjenige, der es zur Sprache bringt, automatisch als Antisemit verleumdet wird. Nichts ist effektiver, als die Thematisierung des israelischen Rassismus mit dem Antisemitismus-Vorwurf abzuschmettern. Darauf hat man sich im Deutschlands politischer Kultur nachgerade spezialisiert.
In den deutschen Medien herrscht zur Zeit eine fast konsensuelle Verurteilung der russischen Invasion in die Ukraine. Ungeachtet dessen, was es an der russischen Aggression tatsächlich zu kritisieren gilt, fällt doch auf, wie engagiert die diesbezüglichen Kritiker sich geben (man ahnt, dass es dabei auch um gewisse historische Kompensationen gegenüber den Russen gehen mag). Zu fragen ist gleichwohl, mit nicht minderer aktuellen Dringlichkeit, wieso ist in den deutschen Medien die Barbarei der israelischen Okkupation in den palästinensischen Gebieten, die schon Jahrzehnte währende Knechtung der Palästinenser, ihre Schikanierung, Diskriminierung und militärische Unterdrückung, die oft genug auch die Tötung von Zivilisten zeitigt, weitgehend ausgespart. Wieso hat der deutsche Diskurs offenbar beschlossen, dieses “Thema” unberührt zu lassen? Die Unsäglichkeit der Lebenspraxis in den besetzten Gebieten, die von israelischen Juden permanent begangenen Kriegsverbrechen und die staatsoffizielle brutale Übertretung des Völker- und Menschenrechts zu ignorieren?
Die Antwort in beiden Fällen – der Asymmetrie im Vergleich beim Documenta-Eklat und bei der russischen Invasion in der Ukraine – liegt auf der Hand. Die Wirksamkeit des von der israelischen Propaganda in Gang gesetzten und von der deutschen Befindlichkeit dankbar aufgenommenen und gestählten Antisemitismus-Vorwurfs leistet ganze Arbeit. Nicht nur sind die in Deutschland lebenden Juden (trotz ihres Gejammers) geschützter als irgendwo sonst in der westlichen Welt (sogar die AfD hat sich schon ihres Schutzes angenommen), sondern auch der Verbrechen begehende Staat Israel darf sich (trotz des perfiden Antisemitismus-Gejammers der israelischen Hasbara) bei den Deutschen gut aufgehoben wähnen. Seine Sicherheit ist schon längst zur deutschen Staatsraison avanciert, seine inhumane Innen- und Außenpolitik ist in Deutschland immunisiert.
Es gibt den unsäglichen deutschen Begriff der “Wiedergutmachung”. Was Deutsche im 20. Jahrhundert an Juden verbrochen haben, ist nie mehr “wiedergutzumachen”. Aber wenn man in Deutschland meint, mit dem perfiden Antisemitismus-Vorwurf “Juden” und den Staat Israel “schützen” zu sollen, dann sollte man sich klarmachen, dass diese “Wiedergutmachung” nichts anderes ist, als der verlängerte Arm Hitlers. Die Frage ist, wie lange sich diese Politik gewordene Befindlichkeit halten wird. Je länger sie fortwährt und sich in solchen Eklats wie dem Documenta-Skandal manifestiert, muss man sich ernsthaft fragen, was genau die “Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit” gezeitigt hat. Something went awfully wrong.