Palästina und die deutsche Schuld

 

Mahnwache vor dem Dom

Der 20. Mai 2023 als Lehrstück: Der palästinensischen Leiderfahrung kann in Deutschland anscheinend nicht angemessen gedacht werden.

Einige jüdische Aktivisten aus Berlin hatten zu für Samstag, den 20. Mai, zu einer Kundgebung auf dem Oranienburger Platz in Berlin-Kreuzberg aufgerufen, um Solidarität mit Palästinensern und ihren Anliegen auszudrücken.

Sie erklärten, dass sie sich sorgen, wenn deren Gedenken an die „Nakba“ genannte Vertreibungen im Zuge des israelischen Gründungskrieges von deutscher Staatsseite unterbunden wird. Die Nakba verweist auf die Anfangszeit Israels und des Israel-Palästina-Konflikts.

Die Nakba

Einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staates rückten am 15. Mai 1948 reguläre Armeeeinheiten einer Allianz, die von den arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak gebildet worden war, in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein und griffen Israel an.

Im Zuge dieses ersten Nahostkriegs, der mit einem eindeutigen militärischen Sieg Israels endete, wurden 750.000 bis 800.000 palästinensische Araber, mehr als jeder zweite arabische Bewohner, Flüchtlinge. Lange hielten sich in Israel diverse Gründungsmythen über den Krieg, wie jener zum Beispiel, dass die Palästinenser alle freiwillig geflohen seien.

Neue Historiker in Israel

Ab 1987 zerpflückten die sogenannten Neuen Historiker in Israel wie Simha Flapan diese selbstlegitimatorischen Behauptungen. Historisch erwiesen ist, dass es zu systematischer Entrechtung und etlichen Massakern im Zuge des Gründungskrieges kam. Die Vorgeschichte des Krieges und der Nakba skizzierte in einer atemberaubenden Schrift der israelische Historiker Tom Segev „Es war einmal ein Palästina: Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels“.

Es ist ein Monumentalwerk aus dem Jahre 1999, das deutlich macht, dass in Palästina ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen Juden, Arabern und britischer Kolonialmacht besteht, das einen dauerhaften Konflikt um Land hervorrufen muss und tiefe Wunden bei Juden wie Palästinensern riss.

Berlin: Communities der Palästinenser

Berlin ist Migrationsstadt. Hier leben Nachfahren jener Araber, die 1948 vertrieben wurden. Aber auch Palästinenser, die im Zuge der darauffolgenden kriegerischen Konflikte wie dem Libanonkrieg in den 1980ern nach Deutschland migrierten. Man spricht von mehreren Migrationsgenerationen.

Die erste Generation bezeichnet jene nicht im Land geborenen Migrantinnen und Migranten und müsste nochmals in Bezug auf Palästinenser als die 1948er-, 1967er- und 1980er-Generationen ausdifferenziert werden. Angehörige der ersten Migrationsgeneration teilen verschiedene Generationserlebnisse. Was sie miteinander verbindet, ist, dass sie entweder Kinder von Betroffenen der Massenvertreibungen von 1947/48 sind, oder diese als Kinder selbst erlebt haben und damals nicht handlungsmächtig waren.

Laut der Politikwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi scheint für „PalästinenserInnen im Exil Palästinensischsein eine identitätskonstituierende Form angenommen zu haben, wobei die gewaltvolle Erfahrung von Missachtung erfahrener Gewalt und der Auslöschung von Identität nachwirkt“.

Allerdings konnten sich viele Palästinenserinnen und Palästinenser in Städten wie Berlin gegen alltäglichen und institutionellen Rassismus stabile Communities und Netzwerke schaffen. In arabischen Staaten blieb die Integration palästinensischer Araber in die Gesellschaften weitgehend aus. Als Staatenlose mussten diese jahrzehntelang, zuweilen bis heute, in Flüchtlingslagern leben.

Berlin: Magnet für jüdische und israelische Menschen

Berlin ist auf der anderen Seite ein Magnet für jüdische und israelische Menschen, die hier arbeiten, feiern und sich engagieren. Die eindeutig rechtsradikale Regierungskoalition in Israel und der sich beständig ausweitenden und zuspitzende Konflikt rund um die besetzten Gebiete, aber auch soziale Krisenphänomene wie Wohnungsnot und Lebensmittelteuerung, führen dazu, dass viele junge Israelis ihrem Land den Rücken kehren.

Dies wird in Zukunft Berlin noch diverser machen. Der Israel-Palästina-Konflikt ist mittlerweile aufgrund seiner Länge, seiner religiösen Aufladung und seiner langjährigen globalen Instrumentalisierung von allen möglichen Seiten mehr als ein Konflikt um Land.

Zuweilen hat er Züge eines Weltanschauungskriegs und eines Religionskrieges. Als solcher strahlt er aus – in französische Vorstädte, aber auch nach Deutschland von Berlin bis Gelsenkirchen.

„Jüdische Berliner*innen fordern das Recht auf Erinnerung“

Vor diesem Hintergrund kam der Demonstration unter dem Motto „Jüdische Berliner*innen fordern das Recht auf Erinnerung – auch für Palästinenser*innen“ eine besondere Bedeutung zu. Jede Stimme eines Juden oder Israeli, die sich gegen Besatzung ausspricht, unterläuft eine Freund-Feind-Scheidung, die nicht nur von Judenhassern und Antisemiten aller möglichen Couleur vorgenommen wird, die „Israel“ und „Juden“ synonym setzen, sondern auch von der vorgeblich anti-antisemitischen deutschen Israelsolidarisierern, die aus welcher Motivation auch immer meinen, man setze sich besonders tapfer für Juden ein, wenn man die Israelfahne schwenkt.

Tatsächlich gibt es ein krasses Auseinandertreten der Erinnerungsmöglichkeiten für Juden und für Palästinenser in Deutschland. Das kann nicht nur in der Monstrosität des Holocaust liegen, auch nicht daran, dass Deutsche Auschwitz verbrochen haben.

Der palästinensischen Leiderfahrung kann in Deutschland aus verqueren erinnerungspolitischen wie ebenso falscher Staatsräson anscheinend nicht angemessen gedacht werden. Das zeigt beispielsweise der Deutsche Evangelische Kirchentag der gegenüber einer Nakba-Ausstellung ein Verbot aussprach. Diese repressive Eindeutigkeit ist besonders vor dem Hintergrund einer tief ambivalenten Haltung der Evangelischen Kirche zum Israel-Palästina-Konflikt ein Novum.

In einem vom Antisemitismusforscher Wolfgang Benz geplanten Sammelband unter dem Titel „Erinnerungsverbot? Die Ausstellung ‚Al Nakba‘ im Visier der Gegenaufklärung“ wird das Verhalten des Evangelischen Kirchentags von dem Publizisten und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik als „aktives Verschweigen“ kritisiert.

Demonstrationsverbote

Aktives Verschweigen der Nakba soll auch auf deutschen Straßen mittels Demonstrationsverboten durchgesetzt werden. Bereits 2022 hagelte es eine ganze Reihe von hochrichterlich sanktionierten Verboten des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit.

Wegen des Verbots der für vergangenes Jahr geplanten Demonstrationen klagen der Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost – EJJP Deutschland“ zusammen mit dem Zusammenschluss „Palästina spricht“ gegen die Stadt Berlin.

Ihr Vorstandsmitglied Lili Sommerfeld sagte in einem Gespräch mit der Tageszeitung Junge Welt, es sei eine komplexe Debatte, wenn Versammlungsfreiheit, eine elementare Säule der Demokratie, gegen die Gesundheit einer ganzen Gesellschaft stehe, wie in den vergangenen Jahren in Bezug auf die Demonstrationen der Querdenker.

Wenn jedoch der Staat mit rassistischen Scheinargumenten, wie der „Emotionalität“ gewisser Gruppen, sowie dem Generalverdacht, dass palästinensische Selbstermächtigung immer zu Antisemitismus führt, mehrere Demos verbietet, dann bleibt diese Debatte aus. Der deutsche Schuldkomplex reicht hier der wachsenden Islamophobie und Xenophobie die Hand – und heraus kommt: antipalästinensischer Rassismus.

Lili Sommerfeld, Junge Welt

In diesem Sinne war der Samstag, der 20. Mai, ein Lehrstück.

Als einzige Demonstration zum Nakba-Komplex wurde lediglich die besagte Demonstration zugelassen, die von jüdischen Aktivist:innen angemeldet wurde – auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, nicht in Neukölln, wo viele Palästinenserinnen und Palästinenser leben und arbeiten.

Bunte Zusammenkunft

Es war eine bunte Zusammenkunft aus Queer-Aktivist:innen, jüdischen deutschen wie nicht-deutschen Linken, Palästinensern und mit ihnen sich solidarisch fühlenden Menschen mit Wurzeln im globalen Süden, Kommunistinnen und andere Sozialisten. Redebeiträge, die mit der Anrede „Liebe Genossinnen und Genossen, Liebe Freunde Palästinas“ begannen, brachten die Zusammensetzung der Kundgebung auf den Punkt.

Einige Redebeiträge sprachen dem deutschen Staat, immerhin und nach wie vor Rechtsnachfolger des „Dritten Reiches“ ab, das Erinnern steuern zu wollen. Viele Demonstrationsteilnehmer trugen Pullis oder Schilder, auf denen der Slogan steht „Free Palestine from German Guilt“.

In Redebeiträgen wurde deutlich gemacht, dass man als Teil einer solidarischen globalen Linken mit wenig bis keiner Berührung zur deutschen Verbrechensgeschichte an den Juden sich von deutscher Justiz und ausführenden Organen nicht vorschreiben lassen will, wie, mit wem und in welcher Sprache man sich einer Gewaltgeschichte erinnern will.

In einem sehr blumigen Redebeitrag einer jüngeren palästinensischen Aktivistin wurde deutlich, dass sich viele der hier versammelten Protagonistinnen und Protagonisten als Internationalistinnen und Internationalisten sehen:

Die Rede ging von „unseren Genoss*Innen aus Syrien, die gerade ganz besonders Schmerz und Einsamkeit erfahren, in einer Welt, die erneut die Verbrechen des Assad-Regimes normalisiert“, angesprochen waren auch „unsere Genoss*innen aus Ägypten, aus dem Libanon, aus der West-Sahara, aus Armenien, aus dem Sudan, aus Afghanistan, aus dem Jemen, aus Algerien, aus Armenien, aus dem Iran, aus Kurdistan, aus Südamerika, unsere Ealam Tamilischen und jüdischen Genoss*Innen, unsere Genoss*innen aus der ganzen Welt“.

Die Rednerin beteuerte: „Eure Stimme hier zu hören, ist das einzig wahre Zeichen der Solidarität in einem Land, das jeden Tag versucht, unsere zu ersticken.“ Die Rede war ein militantes, zuweilen polit-kitschiges Traktat „gegen den zionistischen Siedlerkolonialismus und seinen militärischen Apparat“. Der Redebeitrag der jungen Aktivistin endete mit der ins Deutsche übertragenden Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ (Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein“).

Als deutsche Linke noch Teil der globalen Revolte von 1968 waren, sprachen sie sich in ähnlicher Absicht für einen radikalen Antizionismus aus. Dieser reflektierte gerade auf die Verdrängung der deutschen Schuld und attackierte den wohlfeilen philosemitischen Habitus, den die deutschen Nachkriegseliten an den Tag legten.

Sie kritisierten Wiedergutmachungszahlungen des deutschen Staates und Rüstungsgeschäfte mit Israel als „Ablasshandel“ und „Abschlagszahlungen auf den Holocaust“, wie der linke 1970er-Jahre Aktivist Eike Geisel.

Niemand Geringeres als die jüdische deutsch-französische 1968er-Ikone Daniel Cohn-Bendit formulierte im Frühjahr 1969 bei einem Besuch in Israel im Geiste des auf globale Rätemacht tendierenden Internationalismus, den sich die Neue Linke angeeignet hatte: „Ich bin gegen den jüdischen Staat, gegen die arabischen Staaten, ich bin für einen sozialistischen und freien Nahen Osten, offen für alle, die in einer Gesellschaft leben wollen, die von Arbeiter- und Bauernräten regiert wird.“

der vollständige Artikel in Telepolis v. 27.05.2023

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