Das Ausmaß des Tötens sowie das Auftreten von Krankheiten und Todesfällen aufgrund des Mangels an grundlegenden sanitären Bedingungen, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung erfordern eine dringende öffentliche Debatte in Israel
Von Liat Kozma und Wiessam Abu Ahmad/ Haaretz, 28. Mai 2024
(Originaltext in englischer Sprache: https://www.haaretz.com/opinion/2024-05-28/ty-article/.premium/rising-fatality-numbers-in-gaza-are-in-all-probability-higher-than-reported/0000018f-bab5-de04-a58f-bab5ea1d0000; Achtung Paywall)
Die Zahl der Todesopfer im Gaza-Streifen in den letzten sieben Monaten ist erschreckend. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten wurden mehr als 34.000 Menschen getötet und über 77.000 verwundet, weitere 11.000 sind unter den Trümmern ihrer Häuser eingeschlossen und gelten als vermisst.
Aber das ist nur ein Teil des Gesamtbildes. Wir glauben, dass die Morbiditäts- und Todesfallzahlen in Gaza tatsächlich höher sind. Unsere Schlussfolgerung stützt sich auf Vergleiche mit den Problemen der öffentlichen Gesundheit in den Flüchtlingslagern unmittelbar nach dem Krieg von 1948 und auf unsere Kenntnisse epidemiologischer Daten im Allgemeinen. Wir sind der Meinung, dass das Ausmaß des Tötens sowie die Häufigkeit von Krankheiten und Todesfällen aufgrund mangelnder sanitärer Bedingungen, Nahrungsmittel und medizinischer Versorgung eine dringende öffentliche Debatte in Israel erfordern sollten.
Hilfsorganisationen schätzen, dass alle durch Wasser übertragenen Krankheiten im Gazastreifen bereits weit verbreitet sind.
Bei der Lektüre historischer Dokumente ergeben sich einige wichtige Parallelen, aber auch Unterschiede, die sich meist zum Nachteil der heutigen Situation auswirken. Damals wie heute mussten Hunderttausende von Menschen ihre Häuser verlassen, ohne die Möglichkeit, zurückzukehren.
Im Jahr 1948 wurden etwa 700.000 Flüchtlinge auf das Westjordanland, den Gazastreifen und die arabischen Länder verteilt. Im Westjordanland nahmen 400.000 Einwohner 300.000 Flüchtlinge auf, während die 80.000 Einwohner des Gazastreifens dreimal so viele Flüchtlinge aufnahmen. Im gegenwärtigen Krieg haben die Belagerung des Gazastreifens und die Schließung der Grenze zu Ägypten über den Winter rund 1,5 Millionen Menschen nach Rafah gezwungen, ein Gebiet, das normalerweise nur ein Zehntel dieser Bevölkerungszahl hat. Die Menschen wurden so dicht zusammengedrängt, dass die Auswirkungen lebensbedrohlich sind.
In den Jahren 1948 und 1949 bemühten sich die internationalen humanitären Organisationen, das zu verhindern, was als Gefahr für das Leben aller Menschen in der Region angesehen wurde, nicht nur für die Flüchtlinge. Eine Art der Intervention war die Verhinderung einer Hungersnot durch die Bereitstellung von Mehl, Öl, Zucker und Trockenobst sowie Milch für Kinder (finanziert von UNICEF). Diese protein- und vitaminarmen Produkte galten als ausreichend für den kurzen Zeitraum, bis die Konfliktparteien zu einer Einigung gelangten, was bekanntlich dann nicht der Fall war.
Doch wie das Internationale Rote Kreuz feststellte, wurden die Lebensmittellieferungen in den Gazastreifen bereits am 7. Oktober drastisch und ohne Präzedenzfall im Vergleich zu früheren Kampfhandlungen gekürzt. Zusätzlich sorgte die Zerstörung der wenigen landwirtschaftlichen Nutzflächen dafür, dass die Menschen im Gazastreifen keine lokalen Alternativen hatten bzw. haben.
Was zu Beginn des Krieges zu steigenden Lebensmittelpreisen und Armut führte, hat sich in den folgenden Monaten zu einer regelrechten Hungersnot entwickelt, zunächst im nördlichen Gazastreifen und inzwischen für über 2 Millionen Menschen. Es gibt Berichte von Familien, die sich von Viehfutter, Insekten und normalerweise ungenießbaren Pflanzen ernähren – schlechte Nahrung, die für den menschlichen Verzehr ungeeignet ist. Es kommen nicht genügend Hilfslieferungen an, sodass der Bedarf an Lebensmitteln und Grunderzeugnissen bei weitem nicht gedeckt werden kann. Der Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft ist ineffizient, manchmal sogar tödlich, und ein Teil der Hilfsgüter landet im Meer.
Da es kein Aufsichtssystem gibt und die polizeilichen Behörden in Gaza zerstört sind, beschlagnahmen Banden die Hilfspakete und verkaufen sie zu einem hohen Preis an die Bedürftigen. So erreichen die Lebensmittel noch immer nicht die hungernde Bevölkerung und die Zahl der Hungertoten steigt.
Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten leiden rund 31 Prozent der Kinder unter 2 Jahren im nördlichen Gazastreifen und rund 10 Prozent in Rafah an schwerer Unterernährung. Die Zahl der Hungertoten ist noch nicht bekannt, aber es ist klar, dass viele Menschen irreversible Schäden erleiden. Menschen, die sich monatelang von Unkraut und Viehfutter ernähren, werden nicht lange überleben.
Die zweite Intervention im Jahr 1948 war die Erkenntnis, dass ohne sauberes Wasser und angemessene sanitäre Bedingungen durch Wasser und Insekten übertragene Epidemien für alle Menschen in der Region tödlich sein würden. Aus diesem Grund bemühten sich die Organisationen um die Bereitstellung von Trinkwasser und Impfstoffen, verhängten Quarantänen bei Krankheitsausbrüchen und versprühten häufig Pestizide. Letzteres erwies sich auf lange Sicht als giftig, bewahrte aber kurzfristig die Flüchtlingslager vor tödlichen Epidemien.
Heute jedoch ist sauberes Wasser für die meisten BewohnerInnen des Gazastreifens praktisch nicht mehr verfügbar. Hilfsorganisationen schätzen, dass alle durch Wasser übertragenen Krankheiten in Gaza bereits weit verbreitet sind. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation könnte die Zahl der Menschen, die an vermeidbaren Krankheiten erkranken, bald die Zahl derer übersteigen, die den militärischen Angriffen zum Opfer fallen. Der Mangel an sauberem Wasser und medizinischer Versorgung kann zum Ausbruch von tödlichen, durch Wasser übertragenen Krankheiten, sogar Cholera, führen.
Die WHO-Sprecherin Margaret Harris erklärte gegenüber The Guardian, dass bereits Anfang November die Durchfallrate bei Kindern in den Lagern im Gazastreifen mehr als das Hundertfache des normalen Wertes betrug. Ohne verfügbare Behandlung kann dies zu Dehydrierung und sogar zum Tod führen; schwerer Durchfall ist weltweit die zweithäufigste Todesursache bei Kindern unter 5 Jahren. Auch Infektionen der oberen Atemwege, Windpocken und schmerzhafte Hautkrankheiten sind auf dem Vormarsch.
Darüber hinaus sind Gebiete mit einer großen Anzahl von Leichen und verstreuten Körperteilen ein ideales Umfeld für Bakterien und den Ausbruch von Krankheiten über Luft, Wasser, Lebensmittel und Tiere. Bei einer hohen Bevölkerungsdichte ist es praktisch unmöglich, Quarantäne zu verhängen oder Pestizide zu versprühen, und ohne eine angemessene sanitäre Infrastruktur ist es auch unmöglich, durch Wasser übertragene Krankheiten zu bekämpfen.
Eine dritte Maßnahme im Jahr 1948 war die Einrichtung von Kliniken und Krankenhäusern. Die Hilfsorganisationen erweiterten bestehende Krankenhäuser, errichteten neue und eröffneten Kliniken in Lagern und Flüchtlingszentren. Nichts von alledem findet heute statt. Der Beschuss und die lange Belagerung haben das Gesundheitssystem des Gazastreifens völlig zerstört. In den Krankenhäusern, die noch teilweise funktionsfähig sind, herrscht ein großer Mangel an medizinischer Ausrüstung und Medikamenten.
Bereits vor einem halben Jahr wurde über Kaiserschnitte und Amputationen ohne Betäubung berichtet. Das Gesundheitssystem ist nicht nur unfähig, Routinebehandlungen und Präventivmaßnahmen durchzuführen, sondern auch Notfälle zu behandeln. Das anhaltende Fehlen dieser drei Behandlungsarten – Routine-, Präventiv- und Notfallbehandlung – kann zu einem exponentiellen Anstieg der Sterberaten, Krankheiten und sogar Epidemien führen. Chronische Krankheiten – wie Herz- und Nierenerkrankungen, Krebs und Diabetes – werden nicht behandelt, und es ist sehr zu bezweifeln, ob chronische Patienten den Krieg überleben können bzw. überlebt haben; nur wenige Glückliche haben es aus dem Gazastreifen geschafft, um in Ägypten medizinisch versorgt zu werden.
Vor diesem Hintergrund kostet das Schweigen der israelischen Bevölkerung Menschenleben. Selbst diejenigen, die vor einer „zweiten Nakba“ warnen, müssen anerkennen, dass die Schäden des gegenwärtigen Krieges die der ersten Nakba bereits weit übertroffen haben. Und jeder Tag, der vergeht – mit dem Mangel an Nahrungsmitteln, angemessenen sanitären Bedingungen und medizinischer Versorgung – erhöht die Opferzahlen weiter. Jede Debatte über den Krieg muss seine weitreichenden, langfristigen Folgen für alle, die in diesem Land leben, mit einbeziehen.
Liat Kozma ist Historikerin und Wiessam Abu Ahmad ist Biostatistiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem.