Araber können gut erzählen. Diese Geschichte oder dieses Gleichnis über die Juden und die Palästinenser erzählte Dr. Mahdi Abdul Hadi in der letzten Viertelstunde der Sendung kurz vor Mitternacht: „Einer springt aus einem brennenden Haus und stürzt auf einen Fußgänger, dem er dabei das Gnick bricht. Der beschwert sich: ‚Du hast mir das Genick gebrochen‘ . Da fängt der eine an, ihm auch noch alle Knochen zu brechen. Und er hat Angst davor, damit aufzuhören. Sagt der andere: ‚Du hast mein Genick nicht absichtlich gebrochen. Aber du musst jeden Knochen verantworten, den du jetzt brichst.‘ Der eine aber ignoriert den anderen und behauptet sogar, er habe niemandem das Genick gebrochen. So ist die tatsächliche Situation heute. Als sie aus Europa und anderen Teilen der Welt hierher gekommen sind, haben sie unser Genick gebrochen. Jetzt können sie uns nicht noch alle Knochen brechen!“
Dr. Mahdi Abdul Hadi ist palästinensischer Historiker und lebt im armenischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Er gründete 1987 die „Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs (PASSIA)“.
Zur Sendung
In der Sendung „24h Jerusalem“, die am 12. April 2014 von Arte und dem Bayrischen Rundfunk von morgens 6 Uhr bis Mitternacht nonstop ausgestrahlt wurde, kamen nach Angaben von Arte 90 vollkommen unterschiedliche Bewohner Jerusalems zu Wort und ins Bild. Es ist ja an sich eine faszinierende Idee, die Menschen und ihren Alltag in einer Stadt zu zeigen. Und diese Idee hat der Berliner Filmemacher Volker Heise mit einem gigantischen finanziellen und logistischen Aufwand in Szene gesetzt: 70 unterschiedliche Kamerateams mit mehr als 200 Filmschaffenden, darunter viele bekannte Regisseure, haben an einem Tag 24 Stunden lang unzählige Menschen in Jerusalem begleitet und gefilmt und aus insgesamt 500 Stunden Filmaterial eine Sendung zusammengestellt, die an einem einzigen Tag gesendet wurde.
Vordergründig war „24h Jerusalem“ zwar eine Sendung für die Zuschauer. Aber sie können wohl nicht gemeint gewesen sein, weil sich niemand von morgens bis abends vor die Glotze setzen kann und wird. Wichtiger und ausschlaggebend für den Erfolg war dagegen die riesige und einzigartige Medienstory, die mit dem Konzept erzählt werden konnte. Und von (fast) allen Medien auch wiedererzählt wurde.
Zum Inhalt der Sendung über eine so politische und problematische und alte Stadt in einem Brennpunkt der Weltgeschichte und -politik lässt sich schwer etwas sagen. Zu lang war die Sendung, und zu kaleidoskopartig, und aus vielen kurzen optischen und akustischen Informationsschnipseln war sie zusammengesetzt.
Konflikte um die Sendung
Im Vorfeld hatte es Konflikte um die Ausgewogenheit dieses Projektes gegeben. Er hätte zwar, so Thomas Kufus, Chef der Produktionsfirma Zero One 24, von Anfang an ein „System penibler Parität“ verfolgt aber wohl doch die Brisanz unterschätzt. Der Vorwurf an das Projekt (so Welt-online v. 11.04.14), die Dokumentation ergreife einseitig Partei für Israel und normalisiere die israelische Besatzung, hätte sogar zum Abbruch der Dreharbeiten geführt. „Wir haben die Explosivkraft dieses Projekts und dessen politische Bedeutung in der Stadt trotz für gut empfundener Planung unterschätzt und sind offen in den Boykott gerannt“, so Thomas Kufus. Fast wäre das gesamte Filmprojekt gescheitert „an den politischen Konflikten in Jerusalem und an der Blauäugigkeit seiner Macher, die nicht mit der hartnäckigen Obstruktionspolitik palästinensischer Aktivisten gerechnet hatten. Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit sollte am 6. September gedreht werden. Doch kurz vor Drehbeginn riefen palästinensische Aktivisten die palästinensischen Filmteams und Protagonisten zum Boykott auf. Einzelne wurden direkt unter Druck gesetzt.“ Nach einem neuen Anlauf wurde „separiert“. Je 20 palästinensische, israelische und europäische Teams begleiteten die ebenso paritätisch zusammengesetzten 90 Protagonisten durch den Tag. Zehn Teams waren für Sonderaufgaben vorgesehen, zum Beispiel Luftaufnahmen.“
„Ausgewogenheit“? – israelische Propaganda?
Wurde nun die gewünschte „Ausgewogenheit“ der Sendung erreicht, und konnte sie auch vom Zuschauer sogar verstanden werden? Die Frage kann, wie gesagt, schon wegen der schieren Länge der Sendung und wegen ihres Puzzle- und Schnipsel-Charakters nicht beantwortet werden. Aber trotzdem: ein Hoch auf den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk! Es ist wirklich keine Sendung produziert worden, die konform ging mit der üblichen israelischen Propaganda!
Ulrich W. Sahm, bekannter Nahost-Korrespondent, der u.a. den Weserkurier, die Hannoversche Allgemeine, die Neue Ruhr Zeitung, die Sender n-tv und viele andere Medien mit Artikeln aus Jerusalem versorgt und der Politik der israelischen Regierung und der Ideologie der Siedlerbewegung nahestehend, hatte an „24h Jerusalem“ viel auszusetzen und fand fast alles falsch oder wenigstens schief dargestellt. „Dank Arte“, so Sahm im WordPress-Blog „heplev“ am 13.04.14, „erfährt man, dass fast alle Juden in der Stadt fromm bis ultraorthodox sind oder Uniform tragen und Palästinenser kontrollieren, mit Pferden niedertrampeln oder schikanieren.“ Die betont hervorgehobene graue Beton-„Mauer“ verliefe zwar laut Landkarte überwiegend am Stadtrand, aber wie von Arte dargestellt, ziehe sie mitten durch die Stadt. Unter den Juden gäbe es in der Sendung überwiegend „Extremisten“, „radikale Siedler“, „schikanierende Polizisten“ und vergleichsweise viele linke Aktivisten mit scharfer Kritik an der israelischen Regierung. „Herausgekommen ist“, so Sahm am Schluss seiner Arte-Beschimpfung, „eine einseitige pro-palästinensische oder eher anti-israelische Propaganda-Show, auch wenn sie in den Nachtstunden mit langen Interviews uralten Holocaustüberlebenden und der jüdischen Seite mehr Gewicht gegeben haben.“
Sönke Hundt