Vorbemerkung: Dr. Amar Tamar-Dahl, eine israelisch-deutsche Historikern, die in Berlin lebt, hatte an der Podiumsdiskussion am 4. März anlässlich der Nakba-Ausstellung in der Zentralbibliothek Bremen teilgenommen.
Ein moderner Staat bezieht sich immer auf das Volk, das innerhalb seiner Grenzen lebt. In Israel ist das nicht so. Warum der Zionismus die israelische Demokratie schwächt, wird erklärt von TAMAR AMAR-DAHL
Der Staat Israel als Produkt der zionistischen Bewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts versteht und definiert sich auch 66 Jahre nach dessen Errichtung als ein „jüdischer und demokratischer Staat“. Die immanente Spannung in der Definition eines im Sinne des zionistischen Projekts anzustrebenden jüdischen Staates im Lande Israel und gleichzeitig eines am Westen orientierten demokratischen Staatsmodells zeigt sich bereits in seinem Gründungsdokument. So heißt es in der Unabhängigkeitserklärung vom 14.5.1948 zu Aufgaben und Grundsätzen des gegründeten jüdischen Staates:
„[…] Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“1
Diese Zeilen skizzieren das Spannungsfeld zwischen der im zionistischen Projekt steckenden Aufgabe der „Judaisierung“ von Eretz Israel und dem Anspruch des neuen Staats auf demokratische und liberale Werte. Universalistische Begriffe wie „Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden“ will die Unabhängigkeitserklärung von 1948 kompatibel sehen mit der jüdisch-nationalen Staatsräson des demografischen Wandels des Landes.
Das zionistische Projekt soll sich auf liberale Grundsätze stützen und sich gleichzeitig auf biblische Quellen der „Visionen der Propheten Israels“ berufen. Die Unabhängigkeitserklärung wird häufig als liberal-demokratische Grundlage für das Zusammenleben jüdischer und palästinensischer Staatsbürger gesehen. Doch der „Jewish Code“2 bleibt nach wie vor die Grundsäule Israels.
Unterschiedliches Demokratieverständnis
Seit den 80er und 90er Jahren debattiert die israelische Forschung über die korrekte Bezeichnung der Verfasstheit ihres Staats. Die traditionelle Forschung beruft sich auf die Unabhängigkeitserklärung, wenn sie das israelische Staatswesen als eine liberale Demokratie bezeichnet: Die Autoren lassen sich dabei in drei Kategorien einordnen; in die unkritischen, die moderaten und die kritischen Autoren. Die unkritischen Autoren betonen das „demokratische“ Element im Selbstverständnis des „jüdischen und demokratischen Staates“ und bezeichnen dessen Verfasstheit als eine liberale3 oder konstitutionelle Demokratie,4 aber auch als eine Konkordanz-Demokratie.5 Moderate Autoren sehen eher den „jüdisch-ethnischen“ Aspekt und verstehen Israel als eine „ethnische Demokratie“6 oder gar als eine „jüdische Demokratie“ beziehungsweise „Theo-Demokratie“.7 All diese Forschungsmeinungen gehen im Prinzip davon aus, dass das israelische Staatswesen grundsätzlich ein demokratisches sei.
Diese Annahme teilen auch relativ kritische Forscher, die auf erhebliche Defizite dieser Demokratie hinweisen, obwohl sie nur das Kernland Israel, das heißt, das Gebiet in den sogenannten Waffenstillstandsgrenzen von 1949-1967, zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen. Die kritischen Autoren insistieren hingegen darauf, das ganze Gebiet Palästina/Eretz Israel sei für die Frage der politischen Verfasstheit relevant, da der Staat Israel in diesem Raum seit 1967 fast durchgängig die politisch-militärische und sozioökonomische Vorherrschaft ausübe.
Diese Autoren kommen aus zwei Erwägungen zu dem Schluss, dass der israelische Staat kaum als Demokratie bezeichnet werden könne: Zum einen, weil das Land seine Politik der „Judaisierung des Landes“ zur Staatsräson erklärt habe. Zum anderen, weil diese Politik die Lebensbedingungen der Nichtjuden – in den besetzten palästinensischen Gebieten ist die Rede von einer „nicht-eingebürgerten Bevölkerung“ – beständig einschränke.
Diese Forschungsrichtung verwendet in Bezug auf Israel Begriffe wie „eine Mischform aus Demokratie und militärischer Besatzung“,8 „Ethnokratie“,9 „Herrenvolk-Demokratie“10 oder auch „Apartheid“11.Wie ist Israels Verfasstheit also korrekt zu bezeichnen? Dass der Zionismus als Staatsdoktrin die politische Ordnung Israels geprägt hat steht außer Frage. Inwiefern? Und was bedeutet das für die Verfasstheit Israels? Das zionistische Projekt strebt im Sinne Theodor Herzls „einen jüdischen Staat“ an. Dieser sollte wiederum offen für das jüdische Volk sein, das aus der Diaspora in seine Heimat geholt und nationalisiert werden soll.
Der Zionismus sieht also ausschließlich Juden als Mitglieder des Staatsvolkes.
Judaisierung als Staatsräson
Der Zionismus sieht also ausschließlich Juden als Mitglieder des Staatsvolkes. Das gewählte Territorium fiel schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf Palästina, im Hebräischen „Eretz Israel“. Israels Staatsräson orientiert sich von Anfang an bis zum heutigen Tage an diesem zionistischen Verständnis, es ist daher die Rede vom zionistischen Israel.12 Israels Bevölkerungspolitik sieht sich folglich der Aufgabe der „Judaisierung des Landes“ verpflichtet: Landeroberung, Einwanderung, Siedlung und Sicherheit gehören zu den Grundsätzen der israelischen Politik. Doch in Anbetracht der de facto binationalen Realität in Palästina bleibt Israels politische Ordnung strukturell-immanent konfliktträchtig.
Auch 66 Jahre nach der Staatsgründung und trotz eines bitteren Konflikts um Palästina steht die zionistische Ausrichtung des Staats nicht wirklich zur Disposition. Im Gegenteil: Seit einigen Jahren wird versucht, die de facto existierenden Strukturen festzulegen. Die Debatte über die Rolle des jüdischen Volkes im Staat Israel wird immer wieder neu entfacht.13
Zionismus schließt Kompromisse aus
Wie viel Demokratie kann also das zionistische Israel verkraften? Diese Frage richtet sich nach den Kompromissen, die Israel bereit wäre, zu machen: Es könnte an der Staatsdefinition als „jüdischer Staat“ ansetzen oder an der Frage des Staatsvolks, sprich dem „in aller Welt zerstreuten, zu nationalisierenden jüdischen Volk“. Oder wäre Israel sogar bereit, den Palästinensern territoriale Zugeständnisse zu machen und damit auf den „Mythos von Eretz Israel als Land des jüdischen Volkes“ zu verzichten? Da das politische Israel zu keinem dieser Kompromisse bereit ist, bleibt das zionistische Erbe weiterhin bestimmend für die politische Ordnung und Kultur. Historisch gewachsen ist daher eine „zivilmilitarisierte Demokratie“ oder „Demokratie in Waffen“. Denn der Konflikt um das Land ist schließlich aufs Engste an den Konflikt in der Region Nahost gekoppelt.
Damit einhergehend ist die historisch gewachsene Zivilmilitarisierung der Gesellschaft. In der Konsequenz des andauernden Kriegszustands etablierte sich im Laufe der Jahre ein Glaubensgrundsatz. Diesem zufolge stelle die Sicherheit den Garanten für die Existenz des jüdischen Nationalstaates dar. Dieser Glaubensgrundsatz wird auch als „Sicherheitsmythos“ bezeichnet.14
Der in der israelischen politischen Ordnung etablierte Sicherheitsmythos basiert auf einer aus der jüdischen Leidens- beziehungsweise Verfolgungsgeschichte erwachsenen Auffassung der Unauflösbarkeit der feindseligen Verhältnisse zwischen den Juden und den Nicht-Juden. Für das moderne Israel bedeutet das, die militärische Macht aufrechtzuerhalten und auch immer wieder einzusetzen. Der Nahostkonflikt und der permanente Kriegszustand seit 1948 hat Israels politische Verfasstheit grundlegend geprägt. Diese muss permanente Kriege verkraften. Die israelische Armee rüstete sich zur regionalen Militärmacht auf.
Die Sonderstellung des Militärs und der Sicherheitsapparate in dieser Ordnung ist längst etabliert. Israels zivilmilitarisierte Demokratie beinhaltet auch, dass die israelische Gesellschaft den ganzen Komplex der Sicherheitspolitik dem Staat und seinen Gewaltapparaten übertragen hat. Diese gelten dabei als ausschließliche Autorität für Sicherheit. Die Konsequenz ist das Paradox einer schwachen Gesellschaft und eines starken Staates: Israels zivilmilitarisierte Demokratie ist ein Resultat der Entpolitisierung der Sicherheit und schließlich auch eines der Entpolitisierung des Konflikts. Die Folge: Nicht die politische Lösung wird angestrebt, sondern die militärische Kontrolle.
Für das politische Israel bleibt der Konflikt mit den Palästinensern ein notgedrungener Preis für den als unverzichtbar begriffenen jüdischen Nationalstaat im Lande Israel. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das zionistische Israel immer weniger Demokratie im herkömmlichen Sinne verkraften wird – ja, es wird sich diese irgendwann nicht mehr leisten können.
[1] Vgl. URL: http://www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm, 26.3.2015.
[2] Der Begriff „Jewish Code“ umfasst im Kern die selbstverständliche, der politischen Ordnung des Staats zugrundeliegende Gleichstellung von Religion und Nation. Er beinhaltet auch die Auffassung des jüdischen Volkes als Subjekt des Staates. Den Begriff hat der israelische Soziologe Baruch Kimmerling Anfang der 1990er Jahre geprägt.
[3] Neuberger, Benyamin: Democracy in Israel: Origins and Development,Tel Aviv 1998.
[4] Eisenstadt, Shmuel N.: The Transformation of Israeli Society, London 1985.
[5] Horowitz, Dan; Lissak, Moshe: Trouble in Utopia: The Overburdened Polity of Israel, New York 1990.
[6] Smooha, Sammy: Ethnische Demokratie: Israel als Proto-Typ, in: Genosar, Pinchas; Bareli, Avi (Hg.): Zionismus: Eine zeitgenössische Debatte, Israel 1996, S. 277-311.
[7] Kimmerling, Baruch: Religion, Nationalismus und Demokratie in Israel, Zmanim 50-51, Historische Zeitschrift der Tel Aviver Universität, S. 116-131, Tel Aviv 1994.
[8] Azoulay, Ariella; Ophir, Adi: This Regime Which Is Not One: Occupation and Democracy between the Sea and the River (1967 – ), Stanford 2011.
[9] Yiftachel, Oren: „Ethnocracy“: The Politics of Judaizing Israel/Palestine, in: Constellations. An International Journal of Critical and Democratic Theory, New York (6)1999, H. 3, S. 364-390.
[10] Benvenisti, Meron: The West Bank Data Project 1987 Report: Demographic, Economic, Legal, Social and Political Development in the West Bank, Jerusalem 1987.
[11] Davis, Uri: Apartheid Israel, Possibilities for the Struggle Within, London/New York 2003.
[12] Amar-Dahl, Tamar: Das zionistische Israel. Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des Nahostkonflikts, Paderborn 2012.
[13] Harel, Israel: Wer hat Angst vor dem Grundgesetz: Jüdischer Nationalstaat?, in: Haaretz (30.05.2013).
[14] Amar-Dahl 2012, S. 224-231.
Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Katapult – Magazin für Kartografik & Sozialwissenschaft