„Viele von uns haben Israel verlassen, weil wir das zunehmend beängstigende Klima der Einschüchterung von Kritiker_innen der Besatzungspolitik und der zunehmenden Einschränkungen der Redefreiheit nicht mehr ertragen können oder wollen. Seit mehreren Jahren versucht die rechtsnationalistische Netanjahu-Regierung, progressive und palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen. So wurden öffentliche Gelder für israelisch-palästinensische Kulturinstitutionen gestrichen, oppositionelle Künstler_innen seitens rassistischer Organisationen bedroht und kritische Stimmen in Universität und Medien wurden und werden unter extremen Druck gesetzt.
Wir haben immer gehofft und es in den vergangenen Jahren teilweise auch so erlebt, dass Berlin ein Ort ist, an dem Debatten möglich sind. Angesichts der bedrückenden Entwicklungen in Israel, sind wir entsetzt, nun auch in dieser Stadt zu erleben, dass kritische Äußerungen zu Israels Besatzungspolitik ähnlich unsachlich als “Israel-Hass” oder „antisemitisch“ gebrandmarkt werden. Noch befremdlicher ist es für uns, dass die Rufe nach politischer Zensur auch von Parteimitgliedern und Organisationen kommen, die sich keineswegs in der rechtsnationalistischen Ecke verorten, oder sich sogar als Linke bezeichnen.“
Das schreiben 100 in Berlin lebende jüdische und israelische Kulturschaffende in einem offenen Brief und erklären damit ihre Solidarität mit dem palästinensischen Festival „After the Last Sky“, das einen Monat lang vom 9.9. bis 9.10.2016 im Berliner Ballhaus Naunynstraße stattfand und regelrecht unter Feuer der Berliner Bedingungslos-Pro-Israel-Lobby geraten war. Der Tagesspiegel hatte die Welle der Verleumdungen mit einem schlimmen Artikel am 20.10.2016 eröffnet.
Offener Brief israelischer und jüdischer Kulturschaffender in Berlin, Publiziert am 25. Oktober 2016
(English below)
Wir, jüdische und israelische Kulturschaffende, Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen, die in Berlin leben oder hier aktiv sind, nehmen hiermit Stellung zu den beunruhigenden Äußerungen mehrerer Organisationen, Journalisten und Politiker, die das Recht auf freie Meinungsäußerung in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt in Frage gestellt haben.
Viele von uns haben Israel verlassen, weil wir das zunehmend beängstigende Klima der Einschüchterung von Kritiker_innen der Besatzungspolitik und der zunehmenden Einschränkungen der Redefreiheit nicht mehr ertragen können oder wollen.
Seit mehreren Jahren versucht die rechtsnationalistische Netanjahu-Regierung, progressive und palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen. So wurden öffentliche Gelder für israelisch-palästinensische Kulturinstitutionen gestrichen, oppositionelle Künstler_innen seitens rassistischer Organisationen bedroht und kritische Stimmen in Universität und Medien wurden und werden unter extremen Druck gesetzt.
Wir haben immer gehofft und es in den vergangenen Jahren teilweise auch so erlebt, dass Berlin ein Ort ist, an dem Debatten möglich sind. Angesichts der bedrückenden Entwicklungen in Israel, sind wir entsetzt, nun auch in dieser Stadt zu erleben, dass kritische Äußerungen zu Israels Besatzungspolitik ähnlich unsachlich als “Israel-Hass” oder „antisemitisch“ gebrandmarkt werden. Noch befremdlicher ist es für uns, dass die Rufe nach politischer Zensur auch von Parteimitgliedern und Organisationen kommen, die sich keineswegs in der rechtsnationalistischen Ecke verorten, oder sich sogar als Linke bezeichnen.
Anlass für unseren Brief ist die aktuelle öffentliche Kampagne gegen das Ballhaus Naunynstraße und das von ihm mitgetragene palästinensische Kunstfestival “After the Last Sky”, in dem angeblich “anti-israelische Hetze” toleriert wurde. Einmal abgesehen von den Verleumdungen in diesem Zusammenhang, das Festival oder einzelne Beiträge seien gewaltverherrlichend gewesen, begründeten Medien und Politiker im Übrigen den Ruf nach einer Streichung öffentlicher Gelder mit kritischen Äußerungen jüdischer und palästinensischer Mitwirkender_innen über den Staat Israel im Rahmen des Festivals. Des Weiteren wurde die tatsächliche oder angebliche Unterstützung der BDS-Bewegung durch Kuratorinnen des Festivals skandalisiert.
Wir, die Unterzeichner_innen, sind durchaus unterschiedlicher Meinung darüber, ob Begriffe wie „Apartheid“, „Kolonialismus“ und „ethnische Säuberung“ in Bezug auf die Geschichte und Gegenwart des Staates Israel zutreffend oder nützlich sind; wir haben auch unterschiedliche Positionen zum palästinensischen Aufruf nach Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen den Staat Israel; wir stellen aber fest, dass die Diskussion über diese Begriffe und die Argumente der BDS-Bewegung, legitime Bestandteile einer öffentlichen Debatte über die politische Situation in Israel-Palästina sind.
Eine politische Zensur gegen Einzelpersonen und Kulturinstitutionen, die einen Raum für Kritik an der israelischen Politik anbieten, lehnen wir grundsätzlich ab. Die Einschüchterungseffekte die solche Drohungen nach sich ziehen, halten wir für desaströs für die Diskussionskultur in einer freien Gesellschaft. Sie verhindern im Übrigen die notwendige Debatte über die Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Situation im Nahen-Osten, insbesondere für die seit fast 50 Jahren andauernde israelische Besatzung.
Als Juden und Israelis, die nicht umhin können, sich mit dem Themenkomplex Nahost zu beschäftigen und sich von den Entwicklungen in der Region stets betroffen fühlen, empfinden wir solche Rufe nach Einschränkung der Meinungsfreiheit als extrem bedrohlich und auch gegen unsere eigene künstlerische und akademische Freiheit gerichtet.
Die leichtfertige Instrumentalisierung von Antisemitismus-Vorwürfen gegen linke Israelis, Palästinenser_innen und andere, sehen wir zudem als schwerwiegendes Hindernis bei der Bekämpfung von tatsächlichen antisemitischen Tendenzen, die angesichts des Rechtsrucks in Deutschland immer notwendiger wird.
Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass sich in politischen Äußerungen über Israel und Palästina, Antisemitismus oder anti-muslimischer Rassismus manifestieren können. Gerade deshalb betonen wir die Bedeutung einer Diskussion, die Menschenrechte und Gleichberechtigung in den Mittelpunkt stellt. Dabei sind uns die Grundrechte der Palästinenser_innen genauso wichtig, wie die der jüdisch-israelischen Bevölkerung.
Das palästinensische Kunstfestival „After the Last Sky“, das von migrantischen und anti-rassistische Künstler_innen organisiert wurde, scheint uns genau diese Werte zu repräsentieren. Deshalb erklären wir unsere volle Solidarität mit dem Ballhaus Naunynstraße und mit den Kuratorinnen des Festivals.
Liste der Unterzeichner_innen / List of signers
Tal Adler – Künstler und Forscher
Alma Alloro – Künstlerin
Udi Aloni – Regisseur
Hila Amit – Schriftstellerin und Wissenschaftlerin,
Yossi Bartal – Aktivist und Autor
Gur Barzilai – Aktivist
Andrea Bellu – Künstlerin
Matei Bellu – Wissenscahftler
Noam Ben Chorin- Aktivist
Irad Ben Isaak – Soziologe und Literaturwissenschaftler
Sivan Ben Yishai – Theaterregisseurin
Gabriel Ben Moshe – Künstler
Yaara Benger Alaluf – Wissenschaftlerin
Avi Berg – Künstler
Vered Berman – Studentin
Iddo Bet-Hallahmi – Student
Hannah Black – Autorin und Künstlerin
Micah Brashear – Lehrer
Noam Brusilovsky – Theaterregisseur
Zoya Cherkassky-Nnadi – Künstlerin
Sidney Corbett – Komponist
Tomer Dahan – Tänzer
Dr. Irit Dekel – Wissenschaftlerin
Tomer Dreyfuss – Akademiker
Michael Evgi – Erziehungswissenschaftler
Lau Feldstain – Filmmacherin
Yemima Fink – Grafikdesignerin
Sylvia Finzi – Künstlerin
Erica Fischer – Autorin und Übersetzerin
Madelon Fleminger – Autorin
Amnon Friedman – Künstler
Uri Ganani – Musikwissenschaftler
Tomer Gardi – Schriftsteller
Ori Ginat – Aktivist
William Noah Glucroft – Fotograf und Journalist
Gadi Goldberg – Übersetzer
Maja Gratzfeld – Bildende Künsterlin
Olga Grjasnowa – Schriftstellerin
Harri Grünberg – Wissenschaftler
Yara Haskiel – Video-Künstlerin
Iris Hefets – Authorin und Psychotherapeutin
Yaar Hever – Webentwickler
Na’aman Hirschfeld – Historiker
Sharon Horodi – Künstlerin
Sapir Huberman – Künstlerin
Dr. Ofri Ilany – Historiker und Journalist
Dani Issler – Wissenschaftler
Michal Kaiser Livne – Psychoanalytikerin
Liad Houssein Kantarovicz – Performance Künstlerin
Elad Lapidot – Dozent für Philosophie
Angelika Levi – Filmmacherin
Ruth Luschnat – Aktivistin
Gal Katz – Philosoph
Yosi Lampel – Herausgeber
Armin Langer – Aktivist und Autor
Tamir Lederberg – Künstler
Dikla Levinger – Leiterin von Hashomer Haztair in Berlin
Ariel Nil Levy – Schauspieler
Adi Liraz – Künstlerin, Kuratorin und Aktivistin
Gal Liraz – Musiker
Gur Liraz – Musiker
Sharon Mantel – Künstlerin
Naomi Mark – Menschenrechtlerin
Lianne Merkur – Doktorandin
Dovrat Meron – Performance Künstlerin
Inna Michaeli – Sozialwissentschaftlerin
Yonatan Miller – Aktivist
Anka Mirkin – Künstlerin
Etay Naor – Aktivist
Hagar Ophir – Künstlerin
Dr. Hava Oz – Wissenschaftlerin
Deborah S. Phillips – Künstlerin
Einat Podjarny – Aktivistin
Ella Ponizovsky, Künstlerin und Designerin
Ruth Preser – Wissenschaftlerin
Udi Raza – Student
Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin – ehem. Präsidentin der Internationalen Liga f. Menschenrechte
Michael Rothberg – Wissenschaftler
Joel Schalit – Autor und Journalist
Ella Schechter – Wissenschaftlerin
Miriam Schickler – Kulturschaffende
Dr. Gal Schkolnick – Wissenschaftlerin
Ilona Schwetschuk – Studentin
Ruth Sergel – Künstlerin
Iris Shahar – Studentin
Mati Shemoelof – Dichter und Schriftsteller
Gil Shohat – Student
Adina Stern – Lektorin und Übersetzerin
Yousef Sweid- Schauspieler
Hadas Tapouchi – Künstlerin
Lola Tseytlin – Ton-Engineer
Shlomit Tulgan – Kunstpädagogin
Tanya Uri – Künstlerin
Eyal Vexler – Kulturschaffende
Shira Wachsmann – Künstlerin
Prof. Dr.Michael Weinman – Wissenschaftler und Dozent
Daphna Westerman- Künstlerin
Uri Yacobi Keller – DJ
Rotem Yaniv – Veranstalter
Yehudit Yinhar – Künstlerin
May Zeidani Yufanyi – Soziologin und Aktivistin
English Translation:
Open letter by Israelis and Jewish cultural workers in Berlin
We, cultural workers, academics and activists, Jewish and Israeli, who reside or are active in Berlin, take a stand against the concerning statements made by organizations, newspapers and politicians which undermine the right to freedom of expression regarding the Israel-Palestine conflict.
Many of us left Israel because we could not or did not want to continue to suffer in an environment evoking fear of threats against critics of the occupation policy or increased restrictions on the freedom of expression. Since a few years ago, the right-wing—nationalist government of Netanyahu has been trying to silence progressive and Palestinian voices. Funding has been frozen to Palestinian-Israeli cultural institutions, dissident artists have been threatened by racist organizations, and critical voices in the academia and media have been under enormous pressure.
We always hoped, and even experienced in recent years, that Berlin is the place where an open debate is possible. In light of developments in Israel, we are upset that also in this city expressions about the Israeli occupation policy are denounced as ‘hatred of Israel’ or ‘anti-Semitism’. Moreover, this call for political censorship comes from organizations and politicians who do not define themselves as right-wing—nationalist and even identify as left-wing.
The reason for this letter is the current campaign against the Ballhaus Naunynstraße and the ‘After the Last Sky’ festival which was organized in partnership with people who allegedly allowed ‘anti-Israeli sentiment’. In addition to this slander were accusations that certain participants advocated violence during the festival. Politicians and the media called for withdrawing public funding on the basis of critical remarks against the State of Israel by Jewish and Palestinian participants. Moreover, the actual or alleged support of the BDS Movement by curators of the festival was scandalized.
We the undersigned have different opinions on concepts such as ‘apartheid’, ‘colonialism’ or ‘ethnic cleansing’ as useful or accurate descriptions of the past or present of the State of Israel. We also have different positions about the Palestinians call for boycott, Divestment and Sanctions against the State of Israel. However, we insist on a discussion of these concepts and the arguments by the BDS Movement are a legitimate part of a public debate on the political situation in Israel-Palestine. We are opposed in principle to political censorship of individuals or cultural institutions which allow a space to criticism of Israeli policy. The chilling effect of these threats is the destruction of cultural debate in open society. They also prevent the current debate on the responsibility of Germany regarding the political situation in the Middle East, and particularly on the Israeli occupation which has continued for almost fifty years.
As Jews and Israelis, who cannot avoid dealing with Middle Eastern topics and who are affected by regional developments, we are alarmed by calls for the restriction of free expression, directed also at our freedom of expression as academics and artists. We see the instrumentalization of accusations of anti-Semitism against left-wing Palestinians, Israelis and others as an obstacle in the fight against existing anti-Semitism, which is of particular concern today in light of the rise of the right-wing in Germany.
We are aware that political expressions on Israel and Palestine may also contain anti Semitism and anti-Muslim racism. This is precisely the reason we want to highlight the importance of centring the debate around human rights and equality. The basic rights of Palestinians are as important to us as those of the Jewish-Israeli population. The Palestinian cultural festival ‘After the Last Sky’ was organized by migrant and anti-racists artists, and expresses precisely these values. Therefore, we declare our full solidarity with the Ballhaus Naunynstraße and the organizers of the festival.
Offener Brief gegen Zensursiehe auch:
Stellungahme der Kuratorinnen des Festivals “After the Last Sky” im Ballhaus Naunynstrasse (24.10.2016)
Gegen rechte Zensur – in Israel und Deutschland! (Jüdische Stimme, 24.10.2016)
Stellungnahme zu den Vorwürfen im Artikel „Gegen Israel – mit öffentlichen Geldern“ im Tagesspiegel von Johannes C. Bockenheimer am 20.10.2016 (Ballhaus Naunynstraße)
Artikel von Johannes C. Bockenheimer: Gegen Israel – mit öffentlichen Geldern