Der längste Krieg

Am 6. Juni 2014 schrieb Adam Keller (Gush Shalom) in seinem Blog „Crazy Country“ über die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit der Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung und den Vorbereitungen der Linken für eine Friedensdemonstration in Tel Aviv. Der Anlass: am 5. Juni begann der Sechs-Tage-Krieg. Und so beginnt auch Adam Keller seinen Bericht: mit seinen Erinnerungen an die Ereignisse vor 47 Jahren.

Um fünf Minuten vor acht am Morgen des 5. Juni 1967 – also vor genau 47 Jahren – befand ich mich dicht neben meiner Schule im alten Norden von Tel Aviv, als die Alarmsirenen losgingen. Hunderte von Schülern rannten in den Keller des Schulgebäudes. Ein freundlicher Lehrer beruhigte und erzählte uns, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchten; unsere Soldaten würden gewinnen. Das Radio meldete, dass die Armee einen Gegenangriff starten würden, nachdem die Ägypter uns an der Südgrenze angegriffen hätten. Jahre später fand ich heraus, dass das sachlich falsch war. Aber militärischen Kommuniques zu misstrauen, so etwas wurde uns in der Schule nicht beigebracht. Auf jeden Fall hatte der Lehrer nicht so ganz unrecht: Tel Aviv wurde nicht bombardiert, es gab keinen weiteren Alarm und bald folgten geradezu berauschende Nachrichten vom unglaublich schnellen Vormarsch unserer Soldaten an allen Fronten.

Das alles nannte man später den Sechs-Tage-Krieg – eine Bezeichnung, die ziemlich in die Irre führt,  weil er nicht nach sechs Tagen beendet sondern in all den Jahren seither fortgesetzt wurde. Damals schien er mit einem schnellen und alles entscheidenden Sieg zu enden. Heute wissen wir, dass er klar gezeigt hat: militärische Stärke hat ihre klaren Grenzen.

Die ganze israelische Übermacht gleicht dem sprichwörtlichen Hasen, der mit aller Kraft rennt und es doch nicht schafft, schneller zu sein als der Igel. Der Igel ist der leidenschaftliche Wille der Palästinenser, ein freies Volk in ihrem Staat zu sein. Nach 47 Jahren versucht Israel immer noch mit allen Mitteln, und immer und immer wieder, das so schnell eroberte Land wirklich zu beherrschen. Der Sieg ist nach 47 Jahren immer noch eine Illusion.

Am Morgen des 5. Juni 2014 erschien die Zeitung „Israel Today“, besser bekannt als „Bibinews“ (nach Benjamin Netanyahu, S.H.) mit der Schlagzeile: „Die Antwort heißt Bau von Siedlungen – eine Schlacht im Kongress“. Das war die Antwort der Regierung Israels auf den kühnen Versuch der Palästinenser, eine Einheitsregierung zu bilden und ihre Spaltung zu überwinden, und dass es die US-Regierung gewagt hatte, diese Regierung anzuerkennen. Netanyahu versucht, seine Freunde im Capitol – insbesondere die Republikaner – einmal mehr für seine unnachgiebige Konfrontationspolitik zu mobilisieren. Der Bericht der „Bibinews“ tut so, als würde es darum gehen, dass die Good Guys vom Kongress gegen die fiesen Bad Guys im Weißen Haus und im State Department kämpfen.

Aber es gab auch andere Kommentare in israelischen Zeitungen. Chemi Shalev von der „Ha’aretz“ stellte fest, dass Netanyahu in der Tat seine Freunde im amerikanischen Senat aufgefordert habe, ordentlich Lärm zu machen, aber auch damit nicht zu weit zu gehen. Zum Beispiel stellten sie die Überlegung an, dass die palästinensische Autonomiebehörde kollabieren könnte, wenn ihnen die finanzielle Unterstützung entzogen würde. Dann nämlich wäre Israel gezwungen, seinerseits die finanzielle und administrative Verantwortung für das Leben und die Existenz der Palästinenser zu übernehmen – was für die Berater Netanyahus einer der schlimmsten Albträume wäre.

Die Ankündigung für weitere Baugenehmigungen wäre, so formulierte es der Minister für den Wohnungs- und Siedlungsbau, die „richtige zionistische Antwort“. Großspurig wurde angekündigt, dass die Regierung „Anträge auf Baugenehmigungen für neue Häuser in mehreren Orten in Judäa und Samaraia akzeptieren“ würde – insgesamt wurden 1500 Projekte aufgelistet. Die Ortsnamen und die Anzahl der Neubauten wurden auch präzise benannt: 223 neue Wohnungen in Efrat; 484 neue Einheiten in Beitar Ilit; 38 Einheiten in Geva Binyamin; 76 in Ariel; 78 in Alfei Menashe; 155 in Givat Ze’ev einschließlich 55 zusätzlich in der Siedlung von Agan Ha’ayalot sowie 400 neue Einheiten in der Ramat-Shlomo-Neighborhood in Ost-Jerusalem. (…)

The Democratic Front for Peace and Equality (Hadash) hatte im Vorfeld für die Demonstration am 07.06.14 in Tel Aviv einige Aktionen gestartet. Hier einige Fotos dazu von Adam Keller (mit freundlicher Genehmigung)

Women In Black

Auf der King George Street in Tel Aviv hielten die „Women In Black“ ihre allwöchentliche Mahnwache ab, zu der sie sich ohne Unterbrechung seit der ersten Intifada versammelt haben. (…) Heute Mittag standen sie sowohl in Tel Aviv als auch in Jerusalem, Haifa und nahe beim Kibbutz Gan Shmuel. Die schwarze Kleidung und die Plastikpalmen sind ihr Markenzeichen und ihr Slogan ist „Nieder mit der Besatzung“, auf hebräisch, arabisch, englisch und manchmal auch in anderen Sprachen. Die „Woman In Black“ trugen Schilder, auf denen die Freilassung der Administrativhäftlinge, die sich im Hungerstreik befinden, gefordert wurde. Einige der Frauen waren gerade von einer Mahnwache vor dem Ichilov Hospital gekommen, wo die hungerstreikenden Palästinenser untergebracht sind, isoliert und unter strikter Bewachung der Polizei. (mehr zu „Women In Black“ hier)

Mehrere Passanten riefen den „Women in Black“ höhnisch zu: „Zur Hölle mit Euch, Verräter-Huren. Es gibt keine Besetzung, die terroristischen Araber wollen uns nur alle umbringen!“ Einer Frau gelang es, einen der Schreier auf dem Bürgersteig in ein Gespräch zu verwickeln. Nach einiger Zeit hatte er sich etwas beruhigt und als er weiterging meinte er: „Nun, es war interessant mit euch zu sprechen, obwohl ich total anderer Meinung bin!“

Breaking The Silence

Am Habima Sqare hatte „Breaking the Silence“ eine 10-Stunden-Verlesung von Zeugenaussagen von Soldaten der Armee, die in den besetzten Gebieten ihren Militärdienst abgeleistet hatten, organisiert. Viele Soldaten wollten nur unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben konnten, über ihre Erlebnisse berichten. Sie wollten nicht ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. In der Öffentlichkeit schon bekannte Leute hatten sich bereit erklärt, die Aussagen der Soldaten über Lautsprecher vorzulesen.

  • „Wir waren in der Wüste in den Bergen südlich von Hebron, wo viele Palästinenser mit Hilfe von professionellen Schmugglern versuchen, illegal und in völlig überladenen Autos nach Israel zu ihren Arbeitsstellen zu gelangen. Einige von uns Soldaten fanden es witzig, diesen Menschen eine Lektion zu erteilen: wenn wir sie erwischten, zogen wir die Reifen von den Autos und ließen die Menschen einfach inmitten der Wüste zurück. Es dauerte einige Zeit, bis uns klar wurde, dass die Palästinenser natürlich Mobiltelefone dabei hatten und Freunde anriefen, damit sie ihnen Ersatzreifen brachten, sobald wir wieder weg waren. Und dann fühlten wir uns als völlige Trottel.“
  • „Wir sahen, wie ein Junge in einiger Entfernung von uns einen Molotowcocktail anzündete. Der Soldat neben mir nahm sein Scharfschützengewehr, zielte auf den Jungen und schoss ihn durch den Kopf. Er fiel tot auf den Boden. Wir befanden uns in einem durch Beton gesicherten Posten, und der Junge war viel zu weit entfernt von uns, als dass er uns irgendwie hätte gefährlich werden können. Aber unsere Vorschriften besagen, dass ein Molotow eine tödliche Waffe ist und die Erschießung als Notwehr gerechtfertigt ist. Der Soldat, der den Jungen erschoss, handelte nicht aus Notwehr, er suchte einen Vorwand um zu töten, und er fand ihn.“
  • „Wir waren an einem Aussichtspunkt auf dem Berg über Nablus stationiert. Die Soldaten waren politisch gespalten, rechts und links und dazwischen. Wir diskutierten den ganzen Tag über Politik, und ob wir hier sein sollten oder besser nicht. Außer einigen Hänseleien untereinander hatten wir unter uns ein gutes freundschaftliches Verhältnis. Der kommandierende Offizier forderte uns auf, die Diskussion zu beenden mit der Begründung, dass das schlecht für die Moral sei. Eines Tages kam Rabbi Ronski, der Chef-Rabbiner der IDF, zu uns um zu predigen. Er erzählte uns, dass wir uns in einem Heiligen Krieg für Gott und das Jüdische Volk befänden. Alle unsere Vorfahren würden vom Himmel auf uns runtersehen, usw. usf. Wenn irgend etwas unserer Moral geschadet hat, dann war es diese Predigt.“
  • „Ein Palästinenser im mittleren Alter, der sehr gut englisch sprach, erzählte mir, dass sein Haus für drei Tage als Militärposten beschlagnahmt worden sei, und dass die Soldaten überall uriniert und absichtlich den Fernseher zerstört hätten. Ich sagte ihm, dass er sich bei den militärischen Vorgesetzten über dieses Vorgehen beschweren könne. Aber mir war klar, dass ich ihm auch sagen musste, dass seine Beschwerde nutzlos sein würde und dass man ihm nach einigen Monaten sagen würde, dass genau die Soldaten, die in seinem Haus gewesen wären, nicht mehr identifiert werden könnten. Ich war sehr verlegen, dass ich ihm das so sagen musste.“

Während der Verlesung dieser statements der Soldaten tauchte plötzliche eine kleine Gruppe von Leuten auf, die sich in die israelische Nationalflagge gehüllt hatten. Sie schrien ganz hysterisch: „Lügen! Verleumdung! Ihr seid eine Bande von Lügnern und Landesverrätern und außerdem vom Feind bezahlt! Lang lebe die Armee! Dreimal Hurra für die IDF!“

Sie wurden angesprochen: „Schlage vor, dass du erst mal für einen Moment zuhörst. Das sind hier alles Original-Augenzeugenberichte von Soldaten, die dort, in den besetzten Gebieten, gewesen sind.“ Die Antwort: „Ich soll den bösartigen Lügen zuhören, die von einigen Verrätern erfunden wurden, und die vom internationalen Antisemitismus bezahlt werden? Nicht im Leben! Lügen! Lügen! Lügen! Ihr seid alle dreckige Landesverräter!“ Die Zwischenrufer wurden schließlich von der Polizei weggeschleppt, indem sie brüllten: ‚Was für ein verrottetes Land, die Polizei wird bezahlt von den linken Verrätern!“

Tatsächlich hatte die Polizei in Tel Aviv erhebliche Bedenken gehabt gegen die Route, die die Hadash-Aktivisten für ihren Protestmarsch vorgeschlagen hatten. Die Polizei versuchte, sich auf Verkehrsvorschriften zurückzuziehen und so die beabsichtigte Demonstration nach abseits der Hauptstraßen zu verlegen. Die Aktivisten aber bestanden auf ihrer Route, und nach mehreren Stunden Verhandlungen stimmte die Polizei schließlich ihren Vorschlägen auch zu.

Neuer Vorschlag von Yitzchak Herzog, dem Vorsitzenden der Arbeitspartei

Der Vorsitzende der Arbeitspartei, Yitzchak Herzog, hat inzwischen einen Plan für ein Abkommen mit den Palästinensern bekannt gemacht, den er „Plan zur Rettung des Zionismus“ nennt. (…) In seinen Hauptpunkten sieht er folgendes vor:

  • die endgültigen Grenzen werden auf der Basis der Waffenstillstandslinien von 1967 bestimmt (einschließ einem einvernehmlichen Gebietstausch);
  • der palästinensische Staat ist demilitarisiert;
  • die IDF wird noch für einige Zeit im Westjordantal bleiben und dann ersetzt werden durch eine gemeinsame israelisch-jordanisch-palästinensische Armee;
  • das Rückkehrrecht der Flüchtlinge wird innerhalb des palästinensischen Staates verwirklicht;
  • Israel wird eine begrenzte Zahl, die von Israel bestimmt wird, aufnehmen;
  • in Jerusalem werden die sogenannten Clinton-Parameter verwirklicht. D. h. jüdische „Neighbourhoods“ werden zu Israel, palästinensische zu den Palästinensern gehören;
  • Ost-Jerusalem wird Hauptstadt von Palästina sein, aber die Stadtverwaltung von Jerusalem wird gemeinsam wahrgenommen;
  • das „Heilige Becken“ [die Altstadt einschließlich einige der heiligen Stätten in der Nachbarschaft] kommt unter eine besondere Verwaltung;
  • die arabischen Staaten werden aufgefordert, Friedensverträge mit Israel abzuschließen.

Auch wenn diese Vorschläge wohl noch verwässert werden, repräsentieren sie insgesamt einen bedeutsamen Fortschritt gegenüber vergangenen Vorschlägen der israelischen Arbeitspartei. Sie gehen jetzt deutlich über das hinaus, was Golda Meir, die mal gesagt hatte, dass es gar kein palästinensisches Volk gäbe und damit viel zur Begründung der Siedlerbewegung beigetragen hat, und auch was Shelly Yehimovitz, Herzogs direkter Vorgänger in der Führung der Arbeitspartei jemals vorgeschlagen haben. Letzterer hatte versucht, die Probleme allein auf die soziale Frage zu begrenzen und die Ansprüche der Palästinenser außen vor zu lassen. (…)

Jetzt ist natürlich die folgende Frage zu stellen: wird Yitzchak Herzog jemals in die Lage kommen, dass er seinen Plan verwirklichen kann? Und wenn, wird er ihn tatsächlich in die Tat umsetzen? Die Zeit wird es zeigen.
Adam Keller, Gush Shalom

Übersetzung: Sönke Hundt

der Originalbeitrag, allerdings auf englisch, hier.

 

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