Israelische Bürger schreiben an Dr. Gregor Gysi und Die Linke

Gregor Gysi reist vom 10. bis 17. Juni nach Israel und in die Palästinensischen Autonomiegebiete. Die Reise beginnt am Abend der Neuwahl des israelischen Präsidenten und knapp eine Woche nach der Einsetzung einer neuen palästinensischen Einheitsregierung. Wie auf seiner Facebook-Seite mitgeteilt wird, hält er während seiner Reise Vorträge u.a. bei der Israelischen Gesellschaft für Außenpolitik und führt hochrangige Gespräche mit der israelischen und palästinensischen Regierung. Eine zentrale Frage für Gregor Gysi wird in den Gesprächen sein, wie die Friedensverhandlungen erfolgreich fortgeführt werden können. Außerdem wird er sich ein umfassendes Bild der Lage an der von der israelischen Regierung gebauten Mauer machen. Ob die geplante Reise in den Gaza-Streifen genehmigt wird, bleibt abzuwarten.

Einige Israelis von der Linke sind verwundert über die deutschen „Israel-Versteher“. Sie haben am 9. Juni einen einen offenen Brief an ihn gerichtet.


Lieber Dr. Gysi, liebe Mitglieder und Unterstützer der Partei Die Linke,

wir sind israelische Bürger, die aktiv gegen die Besatzungs-, Kolonial- und Apartheidpolitik unserer Regierung sind. Innerhalb unserer Gesellschaft setzen wir uns seit vielen Jahren für die Menschenrechte und den Frieden ein. Im Vorfeld von Dr. Gregor Gysis Israelbesuch möchten wir klarstellen, dass seine Positionen sowie die der Partei Die Linke hinsichtlich der genannten Punkte völlig inakzeptabel und unvereinbar mit den Grundprinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit sind.

Die Regierung Israels vertreibt Palästinenser systematisch von ihrem Land, nicht nur in der besetzten Westbank, sondern überall im historischen Palästina. Dazu gehört der kürzlich genehmigte Prawer-Plan zur Vertreibung der einheimischen Beduinen-Population im Negev (Naqab) von ihrem Land1. Die israelische Wirtschaft beutet palästinensische Arbeiter aus, darunter Kinder, die manchmal zu Sklaven-ähnlichen Löhnen gefährlichen Bedingungen ausgesetzt werden, statt in die Schule zu gehen2. Israel inhaftiert regelmäßig eine große Anzahl von Palästinensern ohne Gerichtsverhandlung als Form politischer Repression. Viele Kinder werden mitten in der Nacht festgenommen und Verhören unterzogen, in denen sie sogar gefoltert werden können3.

Die Linke ist eine bedeutende politische Partei im wohlhabenden und einflussreichen Deutschland. Aufeinander folgende deutsche Regierungen haben sich konsequent an den Verbrechen der israelischen Regierungen am palästinensischen Volk mitschuldig gemacht, durch finanzielle, diplomatische und militärische Unterstützung unserer Regierung sowie durch Maßnahmen zur Abschirmung Israels vor berechtigter Kritik. Wir begrüßen den sichtbaren Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung und die wachsende Bereitschaft, über die anhaltenden Verbrechen zu sprechen, die die israelische Regierung begeht. Auch halten wir die Entscheidungen einiger deutscher Firmen wie der Deutschen Bahn für lobenswert, sich nicht an diesen Verbrechen zu beteiligen4.

Leider unterstützen Die Linke und ihre Führung eine solche israelische Politik. Die Fraktion Die Linke hat Folgendes erklärt: dass es antisemitisch sei, sich für einen einzigen demokratischen Staat in Palästina/Israel einzusetzen; dass die BDS-Kampagne antisemitisch sei; und dass die Flotilla zum Durchbrechen der Belagerung von Gaza antisemitisch sei. Diese Behauptungen sind offenkundig falsch und leicht zu widerlegen:

  • Im Diskurs über einen einzigen demokratischen Staat geht es um Gleichheit für alle, um Achtung der Multikulturalität und um die Rechte von Minderheiten. Er ist ein Signal-Licht in einem ansonsten dunklen und rassistischen Diskurs, der von Israel als eine Form der „Lösung“ des Konflikts ausgegeben wird. Dieser Diskurs basiert auf dem Gedanken ethnischer Überlegenheit (Suprematie) und der Vorstellung, dass es sich um nicht weniger als eine Sicherheitsbedrohung für den Staat Israel handelt, wenn es mehr Menschen einer bestimmten ethnischen Gruppe (also Palästinenser) gibt, und dass dies eine Aufgabe für den Sicherheitsapparat des Staates ist.
  • Die BDS-Kampagne fordert, dass sich Israel an seine Verpflichtungen unter internationalem Recht hält und universell anerkannte Menschenrechte achtet. Sie wendet sich gegen alle Formen des Rassismus, einschließlich Zionismus und Antisemitismus, und es ist sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass eine große Anzahl von Juden in der ganzen Welt Schlüsselrollen in der BDS-Kampagne spielen.
  • Schließlich entschieden Sie sich dafür, einen klaren Standpunkt gegen das Anfechten der barbarischen und unmenschlichen Belagerung Gazas einzunehmen. Es war eine politische israelische Entscheidung, die dazu führte, dass 95% des Wassers in Gaza toxisch ist und für den menschlichen Konsum ungeeignet. Das israelische Verteidigungsministerium ging so weit, Formulare abzufassen, in denen die erlaubte Kalorienmenge für die 1,6 Millionen Menschen berechnet wurde, die dort leben. Sie haben die Formulare sogar nachgebessert, um den kulturellen Unterschieden gerecht zu werden, und behauptet, dass Palästinenser nicht viel frisches Obst und Gemüse benötigen würden, stattdessen aber mehr Zucker, Weißmehl und Öl5.

Die Blockade wurde von einigen mutigen Menschenrechts-Aktivisten angefochten, die brutal geschlagen und in einigen Fällen auf hoher See ermordet wurden, von bewaffneten und gefährlichen Militanten. Ihre Kommandeure haben im Winter 2008/2009 ein Massaker an 1400 Menschen in Gaza orchestriert, darunter 400 Kinder. Und doch behaupten Sie, dass es eine Form des Rassismus sei, wenn man diese mörderische und unmenschliche Blockade herausfordert?

Dr. Gysi ging noch einen Schritt weiter, als er behauptete, dass Anti-Zionismus an sich ein illegitimer Standpunkt für die deutsche Linke und insbesondere die Partei Die Linke sei6. Er behauptet, dass Anti-Zionismus entweder von Antisemitismus herrühre oder dass er bewiesenermaßen nicht im Einklang mit der Realität stehe, wie im Fall anti-zionistischer Juden.

Das zionistische Projekt in Palästina basiert auf der ethnischen Säuberung des Landes von seiner einheimischen Bevölkerung und auf ethnisch-suprematistischen Idealen. Beides bildet das Fundament der vielen rassistischen Gesetze und Methoden, die der Staat Israel gegen die einsetzt, die vertrieben wurden, und die, die auf ihrem Land geblieben sind7. Die Behauptung, dass unsere Rolle als Antizionisten entweder auf Rassismus gegründet sei oder aber abseits der Realität, ist ein gemeiner Versuch, die Opposition der brutalen israelischen Militärbesatzung und Apartheid zu diskreditieren.

Außerdem ist eine solche Eingenommenheit gegen den Anti-Zionismus der Versuch, die Geschichte neu zu erfinden. Vorigen März hat die israelische Knesset ein Gesetz verabschiedet, das orthodoxe Juden kriminalisiert, die sich für Bibelstudien statt einer Einberufung in die israelische Armee entscheiden. Gleichzeitig sanktionierte es die Yeshiva-Schulen, die die Bibel unterrichten. Die Antwort kam in Form von mehr als einer halben Million ultra-orthodoxer Juden, Bürger Israels, die auf den Straßen Jerusalems demonstrierten und meinten, dass „der Staat Israel gegen das Königreich des Himmels kämpft“. Dieser Akt der Repression ist nur der zuletzt ausgeführte Schritt im zionistischen Kampf gegen das Judentum. Schon bevor der zionistische Staat gegründet wurde, standen seine Anführer in unmittelbarer Opposition zum orthodoxen Judentum. Im Jerusalem von 1924 beschloss die zionistische Führung, ein Attentat auf Jacob Israel de Haan zu verüben, den Sprecher einer Gemeinschaft von 60.000 überzeugten Antizionisten und ultra-orthodoxen Juden. De Haans politische Aktivität bei der Sicherung unbegrenzter jüdischer Migration nach Palästina, die frei von zionistischen Bestrebungen war, stellte offenbar einen hinreichend guten Grund dafür dar, ihn zu töten, als er gerade sein Nachmittagsgebet beendete. Dies tötete auch die Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz zwischen Juden und Nicht-Juden in Palästina8.

Daher ist die Zweckentfremdung des Begriffs „Antisemitismus“ zum Schutz des kriminellen und rassistischen Regimes in Israel faktisch, historisch und moralisch falsch. Wir bestreiten die Vorstellung, dass jegliche Kritik an der kriminellen Staatspolitik notwendig von anti-jüdischen Tendenzen herrührt. Diese Behauptung, die jeden Juden auf der Welt als unbedingten Unterstützer derartiger schwerer Verbrechen ansieht, ist ein höchst rassistisches und gefährliches Statement, ein Statement, das im 21. Jahrhundert nicht akzeptabel sein darf.

Angesichts dieser Wirklichkeit appellieren wir an die deutsche Linke und im Speziellen die Partei Die Linke und Dr. Gysi, die globale Kampagne für BDS zu unterstützen, die von Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft getragen wird9. Dieses gewaltlose, demokratische und moralische Instrument stellt eine Möglichkeit für die internationale Gemeinschaft dar, Israels antidemokratischen und gewaltsamen Handlungen zu begegnen. Es hat sich immer wieder bewahrheitet, dass unsere Regierung ohne internationalen Druck mit den systematischen und brutalen Übertretungen der Menschenrechte und des internationalen Rechts fortfahren wird. Jede linke Partei auf der Welt, insbesondere in Deutschland, sollte die Notwendigkeit einer internationalen Anstrengung anerkennen, die Israels Unantastbarkeit beendet und Israel verpflichtet, sich an die fundamentalen Prinzipien zu halten, die allen Nationen auf der Welt abverlangt werden.

Als erstem Schritt könnte sich die deutsche Linke dafür entscheiden, neutral zu sein, anstatt an der Seite der Unterdrückten zu stehen. Die Linke und ihre Führung könnten ihre finanzielle und diplomatische Unterstützung der Apartheid einstellen und Israel also so behandeln, wie man jedes andere Land auch behandelt, und auf diese Weise auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Naturgemäß würden wir Ihre Hilfe zur Beendigung der Apartheid begrüßen, die ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt; wir verlangen jedoch nur, dass Sie Ihre Komplizenschaft am Verbrechen einstellen.

Als israelische Dissidenten, die vom System der Suprematie und der Unterdrückung profitieren, sind wir moralisch verpflichtet, dieses System anzufechten, bis Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit herrschen. Wir bitten Sie dringend, dasselbe zu tun.

Hochachtungsvoll,
Nitza Aminov
Tamar Aviyah
Ronnie Barkan
Eyal Brami
Dr. Uri Davis
Tsilli Goldenberg
Boris Hammerschlag
Iris Hefets, Berlin
Shir Hever
Noa Lerner
Ofer Neiman
Dr. David Nir
Adv. Yaar Peretz
Renen Raz
Noa Shaindlinger
Yonatan Shapira
Joshua Tartakovsky

Im Namen von „Boycott! Supporting the Palestinian BDS Call from Within (aka Boycott from Within)“

[1] http://972mag.com/special/prawer-plan-to-displace-bedouin/
[2] https://www.middleeastmonitor.com/blogs/politics/6518-palestinian-children-are-among-workers-exploited-in-jordan-valley-settlements
[3] http://www.abc.net.au/4corners/stories/2014/02/10/3939266.htm
[4] http://www.bdsmovement.net/2011/db-exits-a1-6985
[5] http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/2-279-calories-per-person-how-israel-made-sure-gaza-didn-t-starve.premium-1.470419
[6] http://www.rosalux.de/publication/26092/die-haltung-der-deutschen-linken-zum-staat-israel.html
[7] http://adalah.org/eng/Israeli-Discriminatory-Law-Database
[8] http://www.tikkun.org/tikkundaily/2014/04/04/ultra-orthodox-jews-draw-the-line/
[9] http://www.bdsmovement.net/call

Quelle: http://de.scribd.com/doc/228875610/Israeli-Citizens-Write-to-Dr-Gregor-Gysi-and-Die-Linke-End-Your-Support-of-Israeli-Apartheid

Übersetzung: Anis Hamadeh 10.06.14

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