(PN) 19.06.2018 – Nur wenige Tage, nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah eine friedliche Demonstration niedergeknüppelt hat, haben Hamas-Mitglieder gestern in Gaza eine ebenfalls friedliche Demonstration angegriffen, Demonstranten attackiert und die Rednertribüne gestürmt. Die PLO spricht entsetzt von „unpatriotischem“ Verhalten und verlangt eine Untersuchung.Im Gegensatz zu der Demonstration in Ramallah letzte Woche, als zum zweiten Mal in wenigen Tagen Tausende gegen die von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas im April 2017 gegen Gaza verhängten Sanktionen protestierten, fanden sich gestern Mittag in Gaza nur wenige Hunderte ein, um ebenfalls gegen die Beschränkungen durch die PA zu protestieren, mit denen die Menschen in Gaza zu kämpfen haben. Dazu gehört die Weigerung, den Strom aus Israel zu bezahlen; die Aufhebung der Steuerbefreiung für Diesel, mit dem Gazas Kraftwerke betrieben werden, wodurch sich der Kraftstoffpreis fast verdoppelte, was zu einer weiteren Verschärfung der Stromkrise in Gaza geführt hat; sowie das Einfrieren von Teilen der Gehälter der Angestellten der Palästinensische Autonomiebehörde. Derzeit erhalten die Angestellten der PA in Gaza lediglich 30% ihres Monatsgehaltes, wodurch die prekäre finanzielle Lage der Einwohner nochmals verstärkt wird.
Hauptforderung der Demonstranten in Gaza gestern war ein Ende der Zerstrittenheit zwischen Hamas und Fatah und die Forderung nach nationaler Einheit. Die Demonstration fand am 11. Jahrestag der Machtübernahme der Hamas in Gaza statt.
Nach Augenzeugenberichten stürmten kurz nach Beginn der Veranstaltung gegen halb zwölf Uhr mittags Dutzende von schwarzgekleideten Hamas-Mitgliedern die Versammlung, beschädigten die Rednertribüne und zerstörten die Lautsprecher. Auch einzelne Demonstranten wurden angegriffen. Verhaftungen oder Verletzungen wurden nicht bekannt.
Im Vergleich zu den staatlich organisierten Übergriffen auf Demonstranten in Ramallah letzte Woche, bei denen uniformierte Hundertschaften der Palästinensischen Autonomiebehörde friedliche Demonstranten durch die Straßen jagten und mit Tränengas und Blendgranaten beschossen, waren offizielle Hamas-Sicherheitskräfte und Polizisten gestern nicht an den Angriffen beteiligt. Trotzdem zeigte sich Hanan Ashrawi, Mitglied im Exekutivkomitee der PLO, heute entsetzt darüber, dass friedliche Demonstranten angegriffen wurden.
„Der Angriff dieser nicht identifizierten Individuen auf Vertreter der Palästinensischen Gefangenen und unsere zivilgesellschaftlichen Organisationen, Journalisten, Angestellte und andere Demonstranten ist völlig inakzeptabel und unpatriotisch und eine eklatante Verletzung des Versammlungsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung“, so Ashrawi heute in einer Stellungnahme. „Im übrigen stellt der Angriff eine Verletzung von Grundrechten und internationalen Abkommen dar, deren Vertragspartner Palästina ist.“
Erst letzte Woche hatte Amnesty International, dessen Vertreter bei den Angriffen auf die Demonstration in Ramallah von PA-Sicherheitskräften geprügelt und verhaftet wurde, genau dies der PLO entgegengehalten und die Einhaltung des Versammlungsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung gefordert. Die PLO hat darauf bisher nicht reagiert, forderte nun aber heute die Einhaltung genau dieser Rechte von der Hamas in Gaza.
In der Stellungnahme von Hanan Ashrawi werden auch Konsequenzen gefordert. Die PLO verlange „eine unabhängige und professionelle Untersuchung, um die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und sicherzustellen, dass sich solche Übergriffe nicht wiederholen. Den Schuldigen muss schnell der Prozess gemacht werden.“
Amnesty International hatte letzte Woche angesichts der brutalen Übergriffe auf friedliche Demonstranten durch die Polizei in Ramallah von der Palästinensischen Autonomiebehörde ebenfalls „eine umfassende, unabhängige Untersuchung“ gefordert und verlangt, „dass die Schuldigen dafür zur Verantwortung gezogen werden“. Die PLO hat darauf nicht reagiert.
Am Tag nach den Übergriffen auf Demonstranten, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, erklärte stattdessen das Mitglied des Exekutivkomitees der PLO, Azzam al-Ahmad, es gäbe gar keine Sanktionen gegen Gaza. „Einige merkwürdige Stimmen in der palästinensischen Arena stellen diese Behauptung auf mit dem Ziel, Zwietracht zu säen.“ Damit solle Druck auf die Palästinensische Führung ausgeübt werden „angesichts ihrer Standhaftigkeit hinsichtlich der amerikanische Verschwörung gegen die palästinensische Sache und gegen die Konditionen Israels und manch regionaler Länder und selbst Länder außerhalb der Region, die unter dem Vorwand der humanitären Katastrophe im Gazastreifen agieren.“
Auf die brutalen Übergriffe gegen friedliche Demonstranten durch die Palästinensische Autonomiebehörde am Tag zuvor, die Verletzung des Versammlungsrechts, des Rechts auf freie Meinungsäußerung und die Verletzung internationaler Verpflichtungen – Werte, die die PLO heute für so wichtig erklärte – ging al-Ahmad nicht ein.
Klartext: So macht sich die PLO unglaubwürdig
zu: Hamas-Mitglieder greifen friedliche Demonstration in Gaza an – PLO zeigt sich entsetzt
von Jens M. Lucke
19.06.2018
Hanan Ashrawi ist eine kluge Frau. Als gewichtige Vertreterin des Exekutivkomitees der PLO sollte sie es besser wissen, als sich mit Äußerungen unglaubwürdig zu machen, die man nur als pure Heuchelei bezeichnen kann. Als die PLO geführte Palästinensische Autonomiebehörde vergangenen Mittwoch eine friedliche Demonstration in Ramallah gewaltsam auflöste, Demonstranten, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten verprügeln und inhaftieren ließ, Bildmaterial vernichtete und Kameras und Handys konfiszierte, da sah weder Ashrawi noch sonst jemand von der PLO eine Veranlassung, zu protestieren. Im Gegenteil. Am Tag danach bezeichnete PLO-Mitglied Azzam al-Ahmad die Vorwürfe der Demonstranten, gegen Gaza hätte Abbas seit April 2017 Sanktionen verhängt, als reine „Erfindung“. Das seien Hirngespinste von dunklen Kräften, die mit der „Amerikanisch-Israelischen Verschwörung gegen Plästinenser“ im Bunde seien. So einfach kann man es sich machen.
Keine Woche später protestieren in Gaza Palästinenser für ein Ende der Zerrissenheit ihrer politischen Führung und für die Aufhebung von Sanktionen und werden von Mitgliedern der Hamas angegriffen. Nun aber erhebt Ashrawi ihre empörte und besorgte Stimme, nennt derartiges Verhalten gegenüber friedlichen Demonstranten einen Verstoß gegen internationales Recht, fordert einen Untersuchungsausschuss (für den man sich in Ramallah nicht einsetzt) und spricht gar von „unpatriotischem Verhalten“. Was genau war dann aber das, was im Namen der PLO fünf Tage zuvor in Ramallah geschah?
Es ist verlogen, wenn die PLO jetzt der Hamas genau das vorwirft, was ihre eigenen Polizeikräfte erst vor ein paar Tagen selbst gemacht haben. Zumal letzte Woche Hundertschaften der Palästinensischen Polizei gegen friedliche Demonstranten im Einsatz waren. In Gaza dagegen rüpelten nur ein paar Dutzend Hamas-Mitglieder, die niemanden krankenhausreif schlugen und auch niemanden verhafteten.
Man fragt sich, wie Ashrawi ihre Glaubwürdigkeit behalten will, wenn sie sich so äußert. Fast jede Woche empfängt sie hohe Regierungsvertreter im PLO-Hauptquartier und erklärt ihnen, welche Hilfe die Palästinenser von außen benötigen. Erst heute wieder war eine Delegation der Europäischen Union und eine der Regierung Österreichs bei ihr. Beiden Vertretern verdeutlichte sie die Wichtigkeit, den Palästinensern „in diesen turbulenten Zeiten“ beizustehen. Richtig. Doch gleichzeitig die Turbulenzen selbst zu verursachen, ist da kontraproduktiv. Und warum sollten diese Vertreter Ashrawi ernst nehmen, wenn sie sich nur kurz zuvor derart unglaubwürdig verhält?
Dass kein Unterschied besteht, ob man friedliche Demonstranten in Ramallah oder Gaza zusammenschlägt, weiß auch Ashrawi. Aber der Unterschied muss herbeigeredet werden, damit das Bild von Gut und Böse aufrechterhalten bleibt. Nur glaubt das keiner, der auch nur einigermaßen mitdenken kann. Die Attacken von ein paar Dutzend Hamas-Mitgliedern sollen schlimmer sein, als die brutalen Übergriffe ganzer Hundertschaften geschulter uniformierter Polizisten. Wem möchte die PLO-Vertreterin das weismachen?
Hanan Ashrawi beschädigt mit derart heuchlerischer Empörung ihre ansonsten beachtliche Reputation und die Glaubwürdigkeit der PLO. Und die Leidtragenden sind in diesem absolut unrühmlichen Spiel die Palästinenser, die das Gezänk und den innerpalästinensischen Krieg leid sind. Während die Israelis weiter Palästinenser am Zaun von Gaza erschießen – gerade erst wieder ein 13jähriges Kind und einen 24jährigen Mann – , prügeln die palästinensischen Vertreter auf ihr Volk und aufeinander ein. Das ist Versagen auf ganzer Linie.
So lange es den beiden Parteien Fatah und Hamas nur um die Vormachtstellung um jeden Preis geht, und so lange beide Faktionen die Menschen, denen sie verpflichtet sind, als Spielkarten in ihrem Machtpoker missbrauchen, so lange wird es unmöglich sein, eine gemeinsame palästinensische Kraft zu schaffen, mit der man der illegalen Besetzung wirksam entgegentreten kann. Wenn beide mit ihren von Machtgier getriebenen Politikern nicht zur Vernunft kommen, wird es auf Seiten der Palästinenser nur Verlierer geben. Und auf der anderen Seite lachende Dritte – in Washington und in Jerusalem.
Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Palästina Nachrichten v. 19.06.2018