Fehlerhafte Ethik: Israels neue Regierung muss ihr Verhältnis zu den Palästinensern überdenken.
Von Daniel Barenboim
Am 13.Mai wird die fünfunddreißigste Regierung des Staates Israel vereidigt, fünfundsiebzig Jahre nach Ende des Holocausts. In ihrem Koalitionsvertrag plant die neue Regierung eine Abstimmung der Regierung und/oder der Knesset über die Annexion von Teilen des Westjordanlandes (Jordantal und Siedlungen) auf der Grundlage des „Friedensplans“ der Trump-Administration. Dieser Plan ist ein weiterer Schritt weg von einem Friedensabkommen mit den Palästinensern. Er ist durch und durch katastrophal.
Historisch gesehen, war die Tatsache, dass Israel eine funktionierende liberale Demokratie ist – oft als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet –, sein wichtigstes Kapital, ein Kapital, das auch auf einem Anspruch auf beispielhafte Moral beruht, welche die Wurzel der jüdischen Existenz im Laufe der Geschichte war. Eine der zentralen Erklärungen der Tora, die in vielen Instruktionen aufgegriffen wird, lautet: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen.“ Das Streben nach Gerechtigkeit ist in der Tat ein fundamentaler Grundsatz des Judentums seit seinen Anfängen. Die universellen Lehren der jüdischen Tradition über die Verantwortung gegenüber allen Menschen und der ganzen Welt spiegeln ein tiefes Bekenntnis zu den ethischen Prinzipien von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit wider. Aber Israel gibt dieses historische Kapital aus zwei miteinander verknüpften Gründen mit höchster Geschwindigkeit aus: der Ethik seiner Erinnerung an den Holocaust und seiner fortgesetzten Behandlung der Palästinenser.
Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte Theodor Herzl einen schönen Traum von der jüdischen Heimat, aber leider schlich sich nur wenige Jahre später eine Lüge in die Erzählung ein: Palästina als „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Das stimmte einfach nicht: 1914 betrug der Anteil des jüdischen Volkes an der Gesamtbevölkerung Palästinas nur zwölf Prozent. Niemand kann ehrlich behaupten, dass Palästina damals ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land war, und diese Tatsache ist der Kern der historischen Unfähigkeit der Palästinenser, die Existenz des Staates Israel zu akzeptieren. Dennoch ist es inakzeptabel, die Palästinenser als Antisemiten zu beschuldigen. Erstens, weil sie selbst ein semitisches Volk sind, aber auch, weil ihre Weigerung, die jüdische Präsenz in dem heutigen Staat Israel zu akzeptieren, eine klare historische Grundlage hat, aber überhaupt nichts mit dem weitverbreiteten europäischen Antisemitismus gemein hat, der seinen schrecklichsten Ausdruck im Holocaust fand.
Israel erinnert sich an die Vergangenheit des jüdischen Volkes, es hat aber seine Fähigkeit zu einer konstruktiven Erinnerung verloren. Die völlig richtige Notwendigkeit, „nie wieder“ zu sagen, wenn man über den Holocaust spricht, darf nicht die einzige Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein. Mit dem Erinnern muss ein zusätzlicher konstruktiver Aspekt verbunden sein, es muss ein aktives Erinnern stattfinden.
Natürlich muss der Holocaust jedoch von der ganzen Welt einschließlich der Palästinenser anerkannt werden, er muss studiert und verstanden werden, damit er sich nicht wiederholt. Zu keiner Zeit und nirgendwo. Edward Said hat dies perfekt verstanden und gegen die Dummheit und Grausamkeit der Holocaust-Leugner gekämpft. Ihm war klar, dass ein mangelndes Verständnis der menschlichen Verwüstung des Holocausts und seiner rassistischen Leugnung einer Wiederholung Tür und Tor öffnen und grausam sein würde, sowohl für die Erinnerung an diejenigen, die umgekommen sind, als auch für die Realität derer, die überlebt haben. Doch Verständnis im Sinne Spinozas hat noch eine andere, tiefere Bedeutung: Wissen und Verstehen sind verschieden. Wissen ist etwas, das man anhäuft, aber Verstehen kommt aus einem tiefgreifenden Denkprozess und führt zur Freiheit.
Übertragen auf die Erinnerung an den Holocaust, bedeutet dies, dass der Erwerb von Wissen durch das Verstehen seines eigentlichen Wesens es uns ermöglicht, nicht Sklave einer Erinnerung zu sein, die wir nicht vergessen dürfen. Andernfalls wird es eine Rechtfertigung für undemokratische und militaristische Tendenzen bieten, welche Gegenwart und Zukunft sowohl der israelischen als auch der palästinensischen Gesellschaft ernsthaft gefährden.
Das Grauen der Unmenschlichkeit des Holocausts und seiner Tragödie gehört zur Menschheit als Ganzer. Ich bin davon überzeugt, dass nur die Fähigkeit, es als solches zu sehen, uns die notwendige gedankliche Klarheit und emotionale Fähigkeit zur Bewältigung des Konflikts mit den Palästinensern geben wird. Wenn es wahr ist, dass die Palästinenser nicht in der Lage sein werden, Israel zu akzeptieren, ohne auch seine Geschichte einschließlich des Holocausts zu akzeptieren, dann ist es ebenso wahr, dass Israel nicht in der Lage sein wird, die Palästinenser zu akzeptieren, solange der Holocaust sein einziges moralisches Kriterium für seine Existenz ist.
Was nun also mit Israel und seiner neuen Regierung? Nicht nur seine Ethik der Erinnerung ist fehlerhaft, sondern die Aufrechterhaltung der Besatzung und die Schaffung neuer Siedlungen und nun sogar die Planung der Annexion weiterer Gebiete hat die Palästinenser moralisch überlegen gemacht. Israelis und Palästinenser sind und werden dauerhaft miteinander verbunden sein. Israelis sind nicht nur die Besatzer, und Palästinenser sind nicht nur die Opfer. Jeder ist ein „anderer“, aber erst zusammengenommen bilden sie eine vollständige Einheit. Deshalb ist es für jeden von ihnen wichtig, nicht nur seine eigene Erzählung, sondern auch die menschliche Erfahrung des anderen zu verstehen. Das können wir aus der Musik lernen: Musik erzählt nie eine einzige Erzählung, es gibt immer einen Dialog oder Kontrapunkt. Wenn es nur eine Stimme gibt, dann ist das eine Ideologie, und das könnte in der Musik nie passieren.