Wenn Israel mit den geplanten Annexionen tatsächlich beginnt (beginnen sollte), wird es auch formaljuristisch, was es de facto längst ist: ein Apartheidstaat. Der Vorwurf, den Israel stets zurückgewiesen hat, wiegt schwer; Apartheid ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Israel ist dann kein Rechtsstaat mehr und eine Demokratie nur noch für einen Teil seiner Bevölkerung.
„Kairos“ als eine Widerstandsbewegung der christlichen Kirchen gegen Apartheid ist in den 70er und 80er Jahren in Südafrika entstanden, wo sie eine bedeutsame Rolle im Kampf gegen das damalige rassistische Regime Südafrikas gespielt haben. Christinnen und Christen aus 33 Ländern erheben jetzt wieder ihre Stimmen des Protestes gegen die Annexionspläne der israelischen Regierung. Sie sind organisiert im internationalen Netzwerk „Global Kairos for Justice“ und haben am 1. Juli 2020 ein Dokument mit dem Titel „Cry for Hope. Ein Schrei nach Hoffnung“ verabschiedet. Wir können, heißt es dort, „nicht Gott dienen und gleichzeitig zur Unterdrückung der Palästinenser schweigen.“ Mit Mahnwachen in über 20 Städten haben Kairos-Initiativen in Deutschland am 26. Juni 2020 vor den Sitzen der Bischöfe, Kirchenpräsidenten und anderen Amtsträgern der verschiedenen Konfessionen und Glaubensrichtungen Mahnwachen veranstaltet und Protestbriefe übergeben. Fotos von den Aktionen werden am Ende des Videos gezeigt.
Im Mittelpunkt aber steht die Diskussion mit zwei ausgewiesenen Kennern und Aktivisten aus der deutschen und internationalen Kairos-Bewegung. Sönke Hundt interviewt per Zoom Wiltrud Rösch-Metzler, Journalistin und Diözesanvorsitzende der katholischen Friedensorganisation Pax Christi und Prof. Dr. Ulrich Duchrow, emeritierter Professor für systematische Theologie an der Universität Heidelberg und einer der wichtigsten Befreiungstheologen in Deutschland. Was heißt es politisch für die internationale Gemeinschaft, wenn Israel (zusammen mit den USA) immer offensichtlicher das Völkerrecht mit Füßen tritt und immer mehr zu einer ungeregelten Politik der Stärke übergeht? Und was heißt es theologisch, wenn ein Teil der Bevölkerung entrechtet und beraubt wird und diese Politik mit religiösen Argumenten begründet wird.
Die jetzige Kairos-Protest-Bewegung sieht sich ganz in der Tradition des deutschen evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, Begründer der Bekennden Kirche, der sich im April 1933 gegen die Judenverfolgung des faschistischen Staates wandte. Für Bonhoeffer war das ein „status confessionis“, ein „Bekenntnisnotstand“, in dem die kirchliche Gemeinschaft auf dem Spiel stehe.
Der Lutherische Weltbund erklärte auf seine Vollversammlung 1977 in Daressalam die Apartheid ebenfalls zu einem „status confessionis“. Entsprechend heißt es im aktuellen Kairos-Aufruf „Schrei nach Hoffnung“: „Das Kirchesein der Kirche, die Integrität des christlichen Glaubens und die Glaubwürdigkeit des Evangeliums stehen auf dem Spiel… Wir stellen fest, dass christliche Unterstützung des Zionismus als einer Theologie oder Ideologie, die das Recht eines Volkes legitimiert, einem anderen die Menschenrechte zu verweigern, unvereinbar mit dem christlichen Glauben und ein schwerer Missbrauch der Bibel ist.“ Gerade weil die rechts-nationalistische Regierung Netanyahus ihre Politik des Landraubs und das behauptete „Recht“ Israels auf die palästinensischen Gebiete („Erez Israel“) vorwiegend religiös mit Bezug auf bestimmte Abschnitte des Alten Testaments begründet, wiegt der Vorwurf des Missbrauchs um so schwerer.
Für den „Schrei nach Hoffnung“ ist die internationale Website freigeschaltet worden: https://www.cryforhope.org/. Weitere Infos auch über https://kairoseuropa.de/kairos-palaestina-solidaritaetsnetz/aktuelle-analysen-berichte-und-links/. Dort ist auch der deutsche Aufruf und der Bericht über die Mahnwachen erhältlich. Sönke Hundt