Über ein Volk ohne Staat

Die Nahost-Expertin Muriel Asseburg, die am 24. Februar 2022 auf einer Zoom-Veranstaltung des AK Nahost Bremen sprechen wird, erzählt in ihrem neuen Buch „Palästina und die Palästinenser – Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart“ eine andere Geschichte über das Land zwischen Mittelmeer und Jordan-Fluss. Es geht um Kriege, Aufstände und Friedensinitiativen und über die palästinensische Selbstverwaltung.

Die Balfour-Deklaration von 1917 ist natürlich der Ausgangspunkt ihrer Analyse. Ein britischer Außenminister verspricht hier einem britischen Zionisten den Aufbau eines Staates in einem Gebiet, in dem zu über 90 Prozent Nichtjuden leben. Mit dem Untergang des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg übernahm – allen heeren Grundsätzen des Völkerrechts vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Trotz – nicht etwa die lokale Bevölkerung die politische Herrschaft in Palästina, sondern die vom Völkerbund eingesetzte britische Mandatsmacht.

Matthias Bertsch hat das Buch im Deutschlandfunk am 04.10.2021 besprochen. Sein Kommentar: „Der jüdisch-arabische oder israelisch-palästinensische Konflikt, der im Zentrum des Buches steht, leidet von Anfang an unter einer Asymmetrie: Auf der einen Seite eine hoch motivierte und organisierte Bewegung, mit guten diplomatischen Beziehungen auf internationaler Ebene, deren Ziel ein souveräner Nationalstaat nach europäischem Vorbild ist, auf der anderen eine Bevölkerung, die zwar vor Ort verwurzelt ist, aber sich überhaupt erst in Abgrenzung zum zionistischen Projekt als Nation zu verstehen beginnt. Das ist alles nicht neu. Neu dagegen sind manche hier aufgeführte Details, die den Auf- und Ausbau des jüdischen Staates begleiteten, zum Beispiel die Plünderungen während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1947 bis `49, in dessen Verlauf rund 750.000 Araber vertrieben wurden.“

Der Deutschlandfunk bemängelt eine „eingeengte Perspektive“ Buches. Obwohl gut recherchiert und faktenreich geschrieben, beschränke sich das Buch von Muriel Asseburg „auf das dominante palästinensische Narrativ: Israel als siedlungskolonialistisches Projekt“, gegen das Widerstand legitim sei. Das sei nicht falsch, aber der jüdische Staat sei mehr. „Er ist auch Rückkehr- und Zufluchtsort am Ende einer langen Geschichte, vor allem einer Verfolgungsgeschichte, für deren furchtbaren Höhepunkt nicht die Palästinenser, sondern wir Deutschen verantwortlich sind. Ohne den ergänzenden Blick, der den unbedingten Kampfes- und Überlebenswillen der jüdischen Seite mit einbezieht, wird es keine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft beider Völker zwischen Mittelmeer und Jordan geben – egal ob Ein- oder Zweistaaten-Lösung. Doch dieser Blick entlässt Israel nicht aus seiner Verantwortung als Besatzungsmacht.“

Wibke Diehl kommt in ihrer Besprechung in der Jungen Welt vom 14.Februar 2022 zu einer etwas anderen und positiveren Beurteilung des Buches. Auf etwa 270 Seiten liefere Asseburg „eine nüchterne, zugleich aber auch schmerzvolle Analyse der Geschichte der Palästinenser, ohne vor der Behandlung von insbesondere in Deutschland sehr konfliktbehafteten Themen zurückzuschrecken. Sie gibt den Palästinensern ein Gesicht als »Handelnde in ihrer eigenen Geschichte« – etwas, das in der vorhandenen Literatur zum Thema allzu oft fehlt. Zugleich lässt sie keinen Zweifel daran, dass die Besatzung den Palästinenserinnen und Palästinensern seit Jahrzehnten verwehrt, tatsächlich selbstbestimmt zu agieren. Asseburg beschreibt die dem Nahostkonflikt von Beginn an innewohnende Asymmetrie zwischen einer zielorientierten, gut organisierten und mit dem Versprechen der Balfour-Deklaration auf einen eigenen Staat ausgestatteten zionistischen Bewegung auf der einen und einer überrumpelten, sich als Nation im »europäischen Sinne« erst herausbildenden, aber in dem umkämpften Land tief verwurzelten Mehrheitsbevölkerung auf der anderen Seite.“

Asseburg verweise auch auf vertane Friedenschancen, etwa durch die arabische Initiative von 2002, die Israel für einen Rückzug auf die Grenzen von 1967 Frieden und Normalität angeboten hätten. Vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump sei schließlich durch die durch ihn initiierten »Normalisierungsabkommen« zwischen Israel und Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko und Sudan eine völkerrechtsbasierte Lösung endgültig untergraben worden.

„Spannend ist Asseburgs Darstellung aktueller Debatten. Sie räumt mit dem – nicht nur von israelischen Politikern kultivierten – Mythos auf, auf palästinensischer Seite fänden sich keine Partner für Frieden, und stellt unmissverständlich klar, dass Israel weder vorhat, die Besatzung noch die Diskriminierung der Palästinenserinnen und Palästinenser zu beenden. Sie postuliert, dass sich dadurch eine »komplexe Einstaatenrealität« herausgebildet habe und eine Umsetzung der Zweistaatenlösung faktisch nicht mehr möglich sei. Die auch in ihren Augen durchaus kritikwürdige Hamas als Gesprächspartner komplett auszuschließen, hält Asseburg für falsch. Die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) und deren Hintergründe beschreibt sie trotz der äußerst hitzigen Debatte sachlich.

Muriel Asseburg füllt eine Lücke in der deutschen Literatur zum Nahostkonflikt, indem sie die palästinensische Perspektive kenntnisreich darstellt. Hilfreich sind ganz speziell auch die Kurzporträts palästinensischer Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, die Asseburg über das Buch verteilt hat. Eine umfangreiche Literaturliste und Kartenmaterial runden das Bild ab und bieten die Möglichkeit für ein weiter in die Tiefe gehendes Verständnis, das das Buch allein aufgrund seines begrenzten Umfangs nicht bieten kann.“

Muriel Asseburg: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschiche von der Nakba bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2021, 365 Seiten, 16,95 Euro
Sönke Hundt

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