Warum die deutsche Erinnerungspolitik gescheitert ist – eine Buchbesprechung von Hermann Dierkes

In seinem neuen Buch unterzieht Arn Strohmeyer das offizielle Gedenken an den Holocaust einer radikalen Kritik

Hermann Dierkes

Die Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Kolonialstaat, die seit Monaten wieder zahlreiche Opfer und Tote fordert, seine anhaltende Unterstützung durch Bundesregierung, EU und ”westliche Welt” und ihre buchstäblich blinde Ergebenheit gegenüber der israelischen Regierungsposition noch vor den zum x-ten Male wiederholten Wahlen in diesem Land zählt mit zu den schlimmsten weltpolitischen Skandalen unserer Zeit. Umso wichtiger sind Positionierungen und Publikationen, die sich dagegenstemmen, die jeweiligen Interessen offenlegen, Verantwortlichkeiten benennen und für einen völkerrechtskonformen und moralisch haltbaren Ausweg plädieren.

Das neue Buch von Arn Strohmeyer ist wieder einmal ein hervorragender Beitrag in dieser Auseinandersetzung. Im Rahmen seiner umfangreichen Veröffentlichungen zum Thema Israel, Palästina und der diesbezüglichen Auseinandersetzungen in Deutschland hatte sich der Bremer Journalist bereits 2021 mit dem Buch Die Tragödie Palästinas und die Antisemitismus-Debatte (Gabriele Schäfer Verlag) zu Wort gemeldet. Mit seiner neuesten Publikation Falsche Loyalitäten – Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik greift er seine wesentlichen Positionen wieder auf, aktualisiert, erweitert und vertieft sie.

Wie immer in seinen Schriften lässt Strohmeyer dabei wichtige kritische und oppositionelle Stimmen aus der Debatte zu Wort kommen, insbesondere israelische und jüdische Wissenschaftler, die in den deutschen Mainstream-Medien kaum Berücksichtigung finden. Anhand von gegnerischen und ”offiziellen” politischen Positionen weist er deren interessengebundene Ideologisierung und unwissenschaftliche Hohlheit nach, ihre gefährliche Tendenz zur Einschränkung der Meinungsfreiheit sowie der Freiheit von Forschung und Lehre.

Ein ganz schändlicher Aspekt ist der oftmals nur noch verleumderische Gehalt der Anschuldigungen gegen Kritiker der israelischen Holocaust-Instrumentalisierung, der Gründungsmythen Israels und seiner Apartheid-Politik, wie z.B. gegen den antikolonialistischen afrikanischen Philosophen Achille Mbembe. Einen Großteil des Buches nehmen diesmal die Thesen des australischen Historikers Dirk A. Moses ein, die dieser in seinem Aufsatz Der Katechismus der Deutschen in fünf Glaubenssätzen zusammengefasst hat:

  • Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust mit anderen Völkermorden,
  • der Holocaust als Fundament der deutschen Nation,
  • die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson,
  • Antisemitismus als spezifisch deutsches Phänomen,
  • gleich Antisemitismus.

Im Anschluss an Moses und viele weitere wissenschaftliche und politische Stimmen unterzieht Strohmeyer diese Glaubenssätze – die im Übrigen weitgehend der israelischen Staatsideologie entsprechen – einer fundierten und stichhaltigen Kritik. Sein Fazit: Die deutsche Erinnerungspolitik ist gescheitert. Ein angemessenes universelles Holocaustgedenken, das das wesenhaft zu Erinnern in dem Mittelpunkt gestellt hätte, wäre nicht umhingekommen, das Diktum Adornos zu erfüllen, alles zu tun, auf ”dass Auschwitz sich nicht wiederhole”. Man sollte hinzufügen: gegen niemanden.

Strohmeyer weiter: ”Es müsse bedeuten, alles zu tun, den Holocaust in allen seinen historischen, politischen und kulturellen Aspekten – auch durch Vergleiche mit anderen Genoziden – zu verstehen sowie gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die die Reste der alten Strukturen, die Auschwitz erst möglich gemacht haben, zu beseitigen und Strukturen hervorzubringen, die eine Wiederholung ausschließen. Stattdessen hätten die deutsche politische Elite und die Mainstreammedien das Gedenken fetischisiert, routinisiert und zu einer Ideologie ausgebaut, die den Inhalt des Katechismus gebetsmühlenartig wiederholt, ohne dabei noch echte Anteilnahme und Empathie erzeugen zu können.

Nicht das Gedenken an sich steht also in der Kritik, sondern seine staatliche Instrumentalisierung zu fremdbestimmten Zwecken, die wegen ihrer Überidentifizierung mit Israel und der Übernahme von dessen allein seinen nationalen Interessen dienendem funktionalen Antisemitismus (kurz gefasst: Wer Israel kritisiert, seine völkerrechtswidrige Unterdrückungs-, Annexions- und Apartheidpolitik, ist Antisemit, H.D.) für verheerende Folgen in Deutschland sorgt. Was diese Akteure geschaffen haben, ist ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Denunziation, das die Öffentlichkeit weitgehend beherrscht.“

Das zurechtgestutzte, partikulare und nicht universale Holocaustgedenken und die damit verbundene bedingungslose Unterstützung Israels bilden die Hefe, so ist hinzuzufügen, auf der die Kritiklosigkeit, ja Anerkennung seiner sog. Selbstverteidigung gedeihen, ihre Finanzierung, Bewaffnung und diplomatisch-politische Inschutznahme. Die ständige Betonung der ”gemeinsamen Werte” der deutschen und israelischen Politik (von Merkel bis Steinmeier bis hin zur AfD, um nur einige zu nennen) ist folglich nicht nur ein Schattenboxen auf den offiziellen Bühnen, sondern es gibt sie tatsächlich – hinter den demokratischen Fassaden und Lippenbekenntnissen mit ganz gefährlichen Konsequenzen, wie sie sich nicht nur in Nahost zeigen, sondern durch die schleichende ”Israelisierung” der deutschen Politik (Demokratieabbau, Antiislamismus, Militarisierung usw.) nach innen wie nach außen manifest werden.

Arn Strohmeyer – Falsche Loyalitäten. Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik, ProMedia, Wien 2022, 180 S., 19,90 €