Die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen in Bremen musste im Hinterhof stattfinden

Übernommen am 22.12.2023 von den NachDenkSeiten

Vergleiche sind in der Geschichtswissenschaft und im Journalismus das tägliche Brot. China wird mit den USA, das persische mit dem ägyptischen Großreich, das römische mit dem britischen oder mit dem US-amerikanischen Imperium, Metternich mit Kissinger, Konrad Adenauer mit Willy Brandt usw. usf. verglichen. Besonders beliebt ist Hitler, der mit Stalin, Mao, Gaddafi, Sadam Hussein, Bashar Al-Assad und vielen anderen Präsidenten und Staatsoberhäuptern verglichen wurde. Jüngstes Beispiel: Wladimir Putin und Wolodymir Zelensky beschuldigen sich gegenseitig, Hitler zu sein. Ausgerechnet zwei Vergleiche aber unterliegen einem absoluten Tabu: Israel und seine Politik dürfen nicht mit irgendwelchen Erscheinungen oder Vorkommnissen aus Nazi-Deutschland, und der Holocaust darf sowieso mit nichts verglichen werden, weil sonst seine „Singularität“ in Frage gestellt würde.

Für Masha Gessen, der renommierten jüdisch-russisch-amerikanischen Autorin, gelten diese Tabus nicht. Was zu einem großen Skandal in Bremen führte, über den schließlich ARD, ZDF, Radio Bremen, Deutschlandfunk, Taz, Weser Kurier, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Der Spiegel, Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine, Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, The Guardian usw. mehrfach und ausführlich berichteten.

Was war geschehen? Eine international zusammengesetzte Jury hatte zunächst schon im Sommer 2023 beschlossen, den renommierten Hannah-Arendt-Preis Bremen an Masha Gessen zu vergeben. Der Preis wird jährlich ausgelobt von einem Verein („Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.“) und ist mit 10.000 Euro dotiert. Das Preisgeld wird von der Stadt Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung aufgebracht. Die Verleihung sollte am 13. Dezember 2023 – wie üblich – während einer großen Feier in der historischen oberen Rathaushalle stattfinden – mit allem Pomp, den die Hansestadt zu bieten hat,

Festveranstaltung wurde abgesagt

Es kam anders. Die Festveranstaltung im Rathaus wurde kurzfristig abgesagt. Das als Ersatz vorgesehene „Institut Français“ stand plötzlich auch nicht mehr zur Verfügung. Die Teilnehmer an der Festveranstaltung wurden schließlich am Morgen des 16. Dezembers an einen nur einem ausgewählten Kreis bekannten Ort geführt, nämlich einer kleinen Kunstgalerie in einem Hinterhof im Bremer Steintorviertel. Wer nicht auf der Liste der etwa 50 zugelassenen Teilnehmer stand, wurde nicht reingelassen. Die Polizei war alarmiert und beobachtete. „Das ist die seltsamste Preisverleihung, an der ich je teilgenommen habe“, meinte Gessen bei ihrer Ankunft in Bremen. Und: „Hannah Arendt would have been laughing in her grave.“i

Eigentlich hatten sich die Jurymitglieder (Prof. Antonia Grunenberg, Prof. Grit Straßenberger, Claudia Hilb, Prof. Michael Daxner, Klaus Wolschner, Dr. Monika Tokarzewska) eine für den woken Zeitgeist überaus passende Kandidatin ausgewählt. Masha Gessen ist Jüdin, wurde 1967 in Moskau geboren, emigrierte 1981 in die USA und kehrte 1996 nach Russland zurück, wo sie sich aktiv in der Lesben- und Schwulenbewegung betätigte und Bücher u.a. über Putin und Pussy Riot verfasste. Im Jahr 2000 adoptierte sie einen damals dreijährigen russischen Waisenjungen. Außerdem hat Gessner einen Sohn und eine Tochter und heiratete in einer jüdisch-religiösen Zeremonie ihre Moskauer Lebensgefährtin. Als nichtbinäre Person bevorzugt Gessen, geschlechtsneutral, d.h. ohne Verwendung eines Pronomens, bezeichnet zu werden.ii 2013 verließ sie Russland wieder (wegen der Repressionen gegen Homosexuelle) und re-emigrierte nach New York. Hier nimmt sie Lehraufträge wahr, schreibt für angesehene Zeitschriften und wurde mehrfach für ihre Bücher ausgezeichnet. Zur Zeit ist Gessen „staff writer“ des berühmten Intellektuellen-Blattes „The New Yorker“. Und hat hier am 9. Dezember 2023 einen langen (24 Seiten) Essay mit dem Titel „In the Shadow of the Holocaust – How the politics of memory in Europe obscures what we see in Israel and Gaza today“iii, veröffentlicht.

Der Essay im „The New Yorker“

Allein der Titel des Essays war offenbar schon zu provokant für die Bremer Szene der unbedingten Israel-Verteidiger. Hermann Kuhn, Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Bremen/Unterweser, machte den ersten Aufschlag und forderte in einem offenen Brief den Verein umgehend auf, die Entscheidung für die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises auszusetzen. Seine Begründung: es würde eine Person geehrt, deren Denken in deutlichem Gegensatz zum Denken Hannah Arendts stünde. „Als Deutsch-Israelische Gesellschaft befremdet uns vor allem Masha Gessens Aussage, dass Gaza ‚wie ein jüdisches Ghetto in einem von Nazi-Deutschland besetzten osteuropäischen Land‘ gewesen sei. […] Es ist uns unbegreiflich wie ein/e so erfahrene/r Wissenschaftler:in (sic) wie Masha Gessen, die sich so große Verdienste um die kritische Analyse des russischen Imperiums erworben hat, ernsthaft Gaza mit den Vernichtungs-Ghettos der Nazis gleichsetzen kann. Es gibt für uns nur eine Erklärung: Ein tiefsitzendes und grundsätzliches negatives Vorurteil gegenüber dem jüdischen Staat. Mit politischem Urteilen im Sinne Hannah Arendts hat das nichts zu tun.“iv

Der offene Brief der DIG erzielte umgehend Wirkung. Björn Fecker (Grüne), Finanzsenator und stellvertretender Bürgermeister der Hansestadt Bremen, erklärte names des Bremer Senats und im Einvernehmen mit der Heinrich-Böll-Stiftungt sofort, dass die obere Rathaushalle für die Preisverleihung nicht mehr zur Verfügung stünde. Lothar Probst, Politikwissenschaftler und Gründungsmitglied des Arendt-Preis-Vereins, und Helga Trüpel, ehemalige Europa-Abgeordnete und Kultursenatorin, rügten gemeinsam in einem Brief an Senat, Vereinsvorstand und Böll-Stiftung die Jury, dass sie „Gessens mehrfach bekräftigten Antizionismus mindestens billigend in Kauf genommen haben muss.“v Die Auseinandersetzungen wurden sofort zum Topthema in den Medien, die ausführlich berichteten.

Die Jury und der Vorstand des Vereins blieben, trotz des Drucks der von vielen Seiten auf sie ausgeübt wurde, standhaft bei ihrer einmal getroffenen Entscheidung. In einer sorgfältig abgewogenen Presseerklärung nahmen sie die Absage des stellvertretenden Bürgermeisters „bedauernd zur Kenntnis“. Und sie fanden es „bemerkenswert, dass der öffentliche Streit um das Verstehen und das Be- und Verurteilen der Terrorangriffe der Hamas auf Israel und der Bombardierung Gazas durch Israel dadurch blockiert wird, dass eine politische Denkerin boykottiert wird, die darum bemüht ist, Kenntnis, Einsicht und ein scharfes Denkvermögen in diesen Streit einzubringen. Der ‚Hanna-Arendt-Preis für politisches Denken‘ steht für eine offene Streitkultur, für das Zulassen und das Aushalten von Kontroversen, für unangenehme Einsichten, neue Verständigungsweien und kenntnisreich geführte öffentliche Debatten.“vi

Die inkriminierte Aussage im Wortlauf

Was aber hatte Masha Gessen nun eigentlich so Schlimmes geschrieben? Zitiert wurde immer wieder ihre Aussage, dass „Gaza wie ein jüdisches Ghetto in einem von Nazi-Deutschland besetzten osteuropäischen Land“ gewesen sei. Da anzunehmen ist, dass kaum einer der Teilnehmer an der aufgeregten Debatte den inkriminierten Text vollständig gelesen hat, sei hier ausführlich und nicht aus dem Zusammenhang gerissen zitiert:

Masha Gessen schreibt: „For the last seventeen years, Gaza has been a hyperdensely populated, impoverished, walled-in compound where only a small fraction of thepopulation had the right to leave for even a short amount of time – in other words, a ghetto. Not like the Jewish ghetto in Venice or an inner-city ghetto in America but like a Jewish ghetto in an Eastern European country occupied byNazi Germany. In the two months since Hamas attacked Israel, all Gazans have suffered from the barely interrupted onslaught of Israeli forces. Thousands have died. On average, a child is killed in Gaza every ten minutes. Israeli bombs have struck hospitals, maternity wards, and ambulances. Eight out of ten Gazans arenow homeless, moving from one place to another, never able to get to safety.

The term ‚open-air prison‘ seems to have been coined in 2010 by David Cameron, the British Foreign Secretary who was then Prime Minister. Many human-rights organizations that document conditions in Gaza have adopted the description. But as in the Jewish ghettoes of Occupied Europe, there are no prison guards – Gaza is policed not by the occupiers but by a local force. Presumably, the more fitting term ‚ghetto‘ would have drawn fire for comparing the predicament of besieged Gazans to that of ghettoized Jews. It also would have given us the language to describe what is happening in Gaza now. The ghetto is being liquidated.“

Hier die Übersetzungvii

„In den letzten siebzehn Jahren ist aus Gaza ein extrem dicht besiedeltes, verarmters, ummauertes Gebiet geworden, in dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht hatte, das Land auch nur für kurze Zeit zu verlassen – mit anderen Worten: ein Ghetto. Nicht wie das jüdische Ghetto in Venedig oder ein innerstädtisches Ghetto in Amerika, sondern wie ein jüdisches Ghetto in einem osteuropäischen Land, das von Nazi-Deutschland besetzt war. In den zwei Monaten seit dem Angriff der Hamas auf Israel haben alle Bewohner des Gazastreifens unter den kaum unterbrochenen Angriffen der israelischen Streitkräfte gelitten. Tausende sind gestorben. Im Durchschnitt wird in Gaza alle zehn Minuten ein Kind getötet. Israelische Bomben haben Krankenhäuser, Entbindungsstationen und Krankenwagen getroffen. Acht von zehn Bewohnern des Gazastreifens sind mittlerweile obdachlos, ziehen von einem Ort zum anderen und können sich nirgends in Sicherheit bringen.

Der Begriff ‚Freiluftgefängnis‘ ist wahrscheinlich 2010 von David Cameron, dem britischen Außenminister und späteren Premierminister, geprägt worden. Viele Menschenrechtsorganisationen, die die Zustände in Gaza dokumentieren, haben die Beschreibung übernommen. Aber wie in den jüdischen Ghettos im besetzten Europa gibt es keine Gefängniswärter – Gaza wird nicht von den Besatzern, sondern von einer örtlichen Truppe überwacht. Vermutlich wäre der eigentlich passendere Begriff ‚Ghetto‘ zu sehr kritisiert worden, weil er die Situation der belagerten Bewohner von Gaza mit den in Ghettos eingesperrten Juden verglichen hätte. Der Begriff ‚Ghetto‘ hätte auch zum Ausdruck gebracht zu beschreiben, was jetzt in Gaza passiert. Das Ghetto wird liquidiert.

Mit den Argumenten in ihrem Essay hat sich niemand in Bremen auseinandergesetzt. Masha Gessen selbst reagierte auf die Vorwürfe wie erwartet mit Unverständnis. Im Interview mit dem Bremer Regionalfersehenviii meinte sie nur, dass Hannah Arendt, würde man auch an sie diese Maßstäbe angelegt haben, den Preis auch nicht erhalten hätte. Ihren Satz mit dem Ghetto-Vergleich, der in allen Berichten nur noch mit dem Attribut „umstritten“ versehen wird, bekräftigte sie. „I absolutely mean it in this way. Für mich ist es der wichtigste Satz in dem ganzen Essay. […] Im konkreten Fall Gaza denke ich, da gibt es eindeutige Ähnlichkeiten mit dem, was in jüdischen Ghettos passiert ist. Und da muss sich die ganze Welt die Frage stellen: was machen wir, um das Sterben der Zivilisten im Gazastreifen zu stoppen.“

Überhaupt die Vergleiche

Das Tabu um die Singularität des Holocaust kennt Masha Gessen sehr wohl – und sie bricht es mit Bedacht. In ihrem Essay „In the Shadow of the Holocaust“ zitiert sie einige der großen jüdischen Denker, die den Holocaust überlebt haben und den Rest ihres Lebens damit zubrachten, der Welt zu erzählen, dass der Holocaust zwar singulär, aber keine Fehlentwicklung (aberration) der Geschichte gewesen sei. Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann z.B. bestand darauf, dass gerade die systematische und effiziente Durchführung des Holocaust eine Funktion der Moderne (function of modernity) sei und dementsprechend in einer Linie mit anderen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gesehen werden müsse. Und Theodor W. Adorno ging in seinen Forschungen zum autoritären Charakter gerade der Frage nach, warum Menschen dazu neigten, autoritären Führern zu folgen, und wie ein weiteres Auschwitz in der Zukunft verhindert werden könne.

Hannah Arendt und Albert Einstein

Prominentes Beispiel für historische Vergleiche ist natürlich Hannah Arendt selber. Ein halbes Jahr nach der Gründung des Staates Israel hatten sich jüdische amerikanische Intellektuelle, darunter Hannah Arendt und Albert Einstein, am 2. Dezember 1948 in einem offenen Brief an die New York Times gegen den bevorstehenden USA-Besuch von Menachem Begin, damals Führer der Partei Tnuat HaHerut („Freiheitspartei“) und späterer Ministerpräsident, gewandt. Diese Partei gehöre zu den „beunruhigsten politischen Phänomenen im neu geschaffenen Staat Israel“, schrieben sie. Sie sei eine „Partei, die in ihrer Organisation, ihren Methoden, ihrer politischen Philosophie und ihrem sozialen Appell eng verwandt ist mit den Nazis und anderen faschistischen Parteien.“ Äußerer Anlass für diesen Warnruf war das Massaker von Deir Jassin, dass damals bekannt geworden war. Jüdische Terroristengruppen hatten das friedliche Dorf angegriffen und die meisten seiner Bewohner – 240 Männer, Frauen und Kinder – getötet. „Der Vorfall von Deir Jassin“, so hieß es in dem Brief weiter, „ist ein Beispiel für den Charakter und die Aktionen dieser Partei. Innerhalb der jüdischen Gemeinde haben sie eine Mischung aus Ultranationalismus, religiöser Mystik und Rassenüberlegenheit gepredigt. […] Dies ist der unmissverständliche Stempel einer faschistischen Partei, für die Terrorismus (gegen Juden, Araber und Briten gleichermaßen) und falsche Darstellung Mittel sind, und ein ‚Führerstaat‘ das Ziel.“ix Übrigens: die Herut-Partei von Menachim Begin, bei ihrer Gründung die Partei des revisionistischen Zionismus‘, ging 1988 zusammen mit der Liberalen Partei im Likud auf. Und deren Vorsitzender ist heute Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Wer sich also heute fragt, warum das israelische Militär derzeit schon wieder mit dieser Brutalität gegen die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen vorgeht, sei also an Hannah Arend und an die Geschichte von Likud und Herut erinnert.

Charlotte Wiedemann

Die deutsche Autorin Charlotte Wiedemann hat es ebenfalls gewagt, historische Vergleiche anzustellen und sich der Aufgabe unterzogen, in der frühen israelischen Literatur dem „Schmerz des Anderen“ nachzuspüren.x Sie fand das folgende Zitat mit diesem Vergleich: „Wir sind gekommen und haben geschossen, niedergebrannt, gesprengt, verdrängt, vertrieben und verbannt. Wagen, Transporte. Woran erinnert dich das … Juden werden umgebracht. Europa. Jetzt sind wir die Herren. – Mit Hurra werden wir Wohnraum schaffen und Einwanderer eingliedern. Man wird die Felder pflügen und säen und abernten, ja wird Großes leisten. […] – Meine Eingeweide schrien. Lüge schrie es in mir. Noch nie hat ein Maschinengewehr, Marke Spandau, irgendein Recht geschaffen. – In meinem Inneren stürzte etwas mit betäubender Wucht zusammen.“ Wiedemann zitiert hier aus einem schmalen Büchlein, geschrieben aus Sicht eines jungen Beteiligten an den Ereignissen des Jahres 1948. Der Verfasser S. Yishar, eigentlich Yiz­har Smilanski, sei kein Außenseiter gewesen; als preisgekrönter Schriftsteller habe er später lange der Knesset angehört. „Anspielungen auf den Holocaust, auf die Verflochtenheit von Genozid, Staatsgründung und der Entwurzelung eines anderen Volks fanden sich“, so Charlotte Wiedemann, „damals bei einer Reihe von Dichtern und Poeten. […] Zu wissen, dass es in Israel eine Zeit gab, in der klar und humanistisch die eigene Beteiligung am Inhumanen benannt wurde, war mir eine Hilfe, als ich mich auf die Suche nach verscharrter Erinnerung und verscharrter Humanität machte.“

Ari Shavit in „My promised Land“xi

Ari Shavit verkehrte das Tabu, dass Geschehnisse in Israel und in Nazi-Deutschland nicht verglichen werden dürfen, geradezu ins Gegenteil. Sein Problem war nicht, dass man bestimmte Vergleich nicht anstellen darf, sondern dass es nahezu unmöglich wurde, ihnen auszuweichen. Shavit hat mit „Mein gelobtes Land“ einen in viele Sprachen übersetzten Bestseller geschrieben. Er beschreibt darin die bedrückende Athmosphäre anlässlich seines Besuches bei Soldaten der IDF an der Grenze zu Gaza während der Zeit der zweiten Intifada. „Es hängt etwas in der Luft wie ein übler Geruch, den noch nicht einmal die Mittelmeerbrise vertreiben kann. Sicher, es ist ungerecht und unbegründet, aber allenthalben und zu jeder Zeit drängt sich einem eine unheilvolle Analogie auf. Das liegt nicht an der israelfeindlichen Propaganda, sondern an der Sprache, die die Soldaten völlig selbstverständlich und unreflektiert benutzen. […] Sogar N., der politisch ziemlich weit rechts steht, murrt jedem die Ohren voll, dass die ganze Anlage einem Konzentrationslager gleicht. M. erklärt mit einem schwachen Lächeln, dass er während der Intifada so viele Tage Wehrdienst angesammelt hat, dass man ihn bald zu einem hohen Gestapo-Offizier befördern wird. Und auch ich, der diese Analogie immer verabscheut hat, der mit jedem stritt, der nur entsprechende Anspielungen machte, kann mich ihrer bald nicht mehr erwehren. Die Assoziationen sind zu stark. […] Ich erkenne, dass das Problem nicht in der Ähnlichkeit begründet ist; niemand kann allen Ernstes glauben, dass eine wirkliche Ähnlichkeit besteht. Das Problem liegt darin begründet, dass es keinen ausreichenden Mangel an Ähnlichkeit gibt. Der Mangel an Ähnlichkeit ist nicht groß genug, als dass die unguten Anklänge ein für allemal verstummen könnten.xii

Um noch einmal auf das Problem mit den historischen Vergleichen zurückzukommen. In ihrer improvisierten Festrede, gehalten in der kleinen Galerie im Steintorviertel, machte Masha Gessen auf einige Selbstverständlichkeiten aufmerksam. Selbstverständlich könne (und dürfe) man vergleichen, in jeder historischen Analyse würde verglichen. Aber ebenso selbstverständlich müsse unbedingt der feine Unterschied zwischen „vergleichen“ und „gleichsetzen“ beachtet werden. Jedes Ereignis oder jeder Zusammenhang habe seine Singularität in Ort und Zeit und in den Umständen. Die Aufgabe bestünde eben darin, dass bei Vergleichen genau unterschieden werden müsse zwischen dem, was den Ereignissen, hier also dem jetzigen Gaza und den damaligen Juden-Ghettos in den osteuropäischen Städten, gemeinsam oder ähnlich sei und wo die Unterschiede lägen.

Die DIG Bremen/Unterweser hat in ihrem offenen Brief, der den Skandal ins Rollen brachte, genau diese Selbstverständlichkeit – wahrscheinlich absichtsvoll – unter den Tisch fallen lassen. In dem Brief der DIG hieß es: „Es ist uns unbegreiflich wie ein/e so erfahrene/r Wissenschaftler:in wie Masha Gessen, […] ernsthaft Gaza mit den Vernichtungs-Ghettos der Nazis gleichsetzen kann.“xiii Da kann man nur noch den Kopf schütteln. Denn Masha Gessen hat nichts gleichgesetzt, sie hat Vergleiche, die aufrütteln sollen, angestellt.

Rudert die Heinrich-Böll-Stiftung zurück?

Das Geld für den Preis von 10.000 Euro wird von der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen, der Heinrich-Böll-Bundesstiftung und dem Bremer Senat aufgebracht. Die schließliche Absage des Festaktes in der oberen Rathaushalle war eine gemeinsame Entscheidung aller drei preisstiftenden Institutionen. Der Festakt wurde gecancelt, so zu lesen auf der Homepage der Bremer Böll-Stiftung (18.12.2023), „weil wir Gessens Vergleich des Gaza-Krieges mit der Liquidierung eines Ghettos in der NS-Zeit für untragbar und indiskutabel halten.“xiv Der Vorstand des Vereins „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.“ und die Jury allerdings, was den Geldgebern so gar nicht gefiel, haben dem Druck standgehalten und sind bei ihrer Entscheidung geblieben. Respekt. Der Verein, so heißt es in der Erklärung der Bremer Böll-Stiftung auf ihrer Homepage, habe die Kommunikation mit ihr verweigert und auch nicht bereit gewesen, sich über eine mögliche Modifizierung des Festaktes zu verständigen.

Für die Bundes-Heinrich-Böll-Stiftung allerdings hatte der Skandal ein Nachspiel. Wie konnte es möglich sein, dass eine Stiftung, die sich in aller Welt, vor allem in den osteuropäischen Ländern, für Diskussionen, Dialoge, offene Räume, Toleranz, Verständnis, ausgestreckte Hände usw. in enger Anlehnung an die „feministische und wertegeleitete“ Außenpolitik einer grünen Außenministerin stark macht, einer international renommierten Autorin die Diskussion verweigert? Die dazu sich in der Lesben- und Schwulenbewegung engagiert, über die herrschende Elite in Russland kritische Bücher schreibt, deswegen emigrieren muss und aus einer großen, ehemals in Russland und der Ukraine beheimateten jüdischen Familie stammt, die unter dem Holocaust viel Leid erfahren musste. Man kann sich vorstellen, wie die Telefondrähte in Bremen und zwischen Bremen und Berlin geglüht haben müssen in diesen Tagen. Die Böll-Bundesstifung in Berlin jedenfalls entschloss sich kurzfristig und in deutlicher Ablehnung des Beschlusses ihrer Bremer Abteilung, in ihren Räumen in Berlin eine Diskussion zu organisieren, die dann am 18. Dezember vor einem zahlreichen Publikum auch stattfand. Dr. Tamar Or (geschäftsführende Vorständin der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum) moderierte und Dr. Imme Scholz sowie Jan Philipp Albrecht vom Vorstand der Böll-Stiftung diskutierten mit ihrem Gast Masha Gessen. Die Diskussion konnte online verfolgt verfolgt werden und steht auch jetzt im Netz.xv Die Entscheidung der Stiftung habe große interne Debatten ausgelöst, wurde einleitend erklärt; sie würden vom Vorwurf der cancal-culture gegenüber einer jüdischen Intellektuellen, die sich iraelkritisch äußere, bis zur Forderung reichen, ihr den Hannah-Arendt-Preis nachträglich wieder abzuerkennen.

Masha Gessen hatte sich gut vorbereitet und untermauerte ihre fundamentale Kritik, dass Gaza heute einem der Ghettos einer osteuropäischen Stadt gliche. Der einzige Unterschied bestünde darin, dass Gaza noch nicht vollständig liquidiert sei und die Weltöffentlichkeit diese Katastrophe noch verhindern könne. Sie zitierte wörtlich den israelischen Leiter einer Stadtverwaltung mit dem Namen David Azulay und entschuldigte sich, dass sie diese Äußerungen jetzt laut vorlese: „Nach dem 7. Oktober sollten wir die Menschen nicht dazu auffordern, in den Süden zu gehen, sondern sie an die Strände schicken. Die Marine kann sie an die Küste des Libanon bringen, wo es bereits genügend Flüchtlingslager gibt. Dann sollte ein Sicherheitsstreifen vom Meer bis zum Grenzzaun des Gazastreifens eingerichtet werden, völlig leer, als Erinnerung an das, was dort einmal war. Er sollte dem Konzentrationslager Auschwitz ähneln.“ Sodann wurde ein Mitglied der Netanyahu-Regierung, Verteidigungsminister Yoav Galant zitiert: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Es folgten der Energieminister Israel Katz („Kein elektrischer Schalter wird aufgedreht, kein Wasserhahn geöffnet und kein Treibstofftransporter wird einfahren, bis die entführten Israelis nach Hause zurückgekehrt sind“) und die inzwischen berüchtigte Äußerung des Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir: „Solange die Hamas die Geiseln nicht freilässt, müssen nur Hunderte von Tonnen Sprengstoff von der Luftwaffe in den Gazastreifen gebracht werden, und nicht eine Unze humanitärer Hilfe.“xvi

Die Sympathien des Publikums lagen erkennbar bei Masha Gessen. Sie machte auch klar, dass dieser Abend nicht auf Einladung der Böll-Stiftung zustande gekommen sei, obwohl jetzt sowohl die Moderatorin als auch die beiden Vorstandsmitglieder gern den Eindruck vermitteln möchten, dass sie schon immer den Dialog mit ihr gesucht hätten. Es sei vielmehr so gewesen: mit Zustimmung der Stiftung sei die Festveranstaltung im Bremer Rathaus als einer großen repräsentativen öffentlichen Veranstaltung mit voraussichtlich mehr als 400 Teilnehmern und einer entsprechenden Medienberichterstattung gecancelt worden, ebenso eine Diskussionsveranstaltung in der Bremer Universitätxvii. Aber der Versuch, sie mundtot zu machen, sei fehlgeschlagen und hätte dann das Gegenteil bewirkt. Nie hätten ihr Essay in „The New Yorker“ ohne den Skandal sonst soviel Aufmerksamkeit erreicht. Das aber wäre wirklich kein Verdienst der Heinrich-Böll-Stiftung, sondern eine Folge des Eklats. Trotzdem freue sie sich, dass die Veranstaltung hier in Berlin habe stattfinden können. „Es war seltsam“, sagte Gessen nach der Diskussion in einem Interview mit der Berliner Zeitung. „Aber es war nicht sinnlos. Für eineinhalb Stunden meines Lebens ist das keine schlechte Bilanz.“xviii

Sönke Hundt, AK Nahost Bremen


iso berichtet von der Taz v. 18.12.2023

iiBiografische Angaben aus Wikipedia (17.12.2023) und Taz v. 06.04.2019

vTaz v. 13.12.2023

viStellungnahme auf der Homepage des „Vereins Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.“ (17.12.2023)

viiÜbersetzung S.H. (mit Hilfe von Google)

viiibuten un binnen v. 15.12.2023 Übersetzung von Radio Bremen

xVgl. Charlotte Wiedemann: Den Schmerz des Anderen begreifen. Berlin 2022. Die Ausführungen hier beziehen sich auf ihren Artikel („Das Trauma von 1948“) in Le Monde Diplomatique v. 12.01.2023

xiAri Shavit: My Promised Land: The Triumph and Tragedy of Israel. New York 2013. Das Buch wird sofort nach Erscheinen New-York-Times-Bestseller und erhält unzählige Preise. In Deutschlandfunk-Kultur (am 12.06.2015) heißt es anlässlich der deutschen Übersetzung überschwänglich: „Das aufregendste Buch über Israel. Welches Buch sollte man lesen, wenn man sich über die Geschichte Israels informieren will? Dieses hier. Der Journalist erzählt in ‚Mein gelobtes Land‘ differenziert, engagiert und eindringlich […] Hier wird polyphon und multiperspektivisch erzählt, mit narrativer Kraft und Ehrlichkeit.“

xiiAri Shavit: Mein gelobtes Land, Bielefeld 2015, hier S. 324 f.

xivHomepage der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen (17.12.2023), Hervorhebung S.H.

xvGespräch mit Masha Gessen am 18.12.2023. Die Stunde lohnt sich, auch wegen der lebhaften Diskussion im Saal nach dem Gespräch.

xviAlle Äußerungen aus der Mitschrift der deutschen Übersetzung.

xviiEine Diskussionsveranstaltung in der Universität Bremen war tatsächlich nicht vorgesehen. Vgl. Mitteilung von Prof. Eva Senghaas-Knobloch (Vorstandsmitglied des Trägervereins für die Vergabe des Hannah-Arendt-Preises) an Claus Walischewski. Masha Gessen hat wohl gedacht, das Institut Francais sei eine Einrichtung der Uni und entsprechend geantwortet. Es gab aber keine geplante Diskussion in der Uni, also auch keine Absage.

xviiiVgl. den sehr informativen Bericht in der Berliner Zeitung v. 18.12.2023

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