Brisantes Votum des IGH

Der IGH erklärt die gesamte israelische Besatzung für rechtswidrig. Das Urteil dürfte auch Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik haben.
aus: IPG v. 23.07.2024
Nach den viel beachteten Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) über einstweilige Anordnungen im Gazakonflikt erweckte das Gutachten vom 19. Juli 2024 ein verhältnismäßig geringes Medienecho. Dies steht im eklatanten Gegensatz zu seinem Inhalt. Der internationale Gerichtshof bewertete nämlich kurzerhand die gesamte israelische Besatzung des palästinensischen Gebiets, einschließlich Gaza, für rechtswidrig. Dies dürfte erhebliche völkerrechtliche und geopolitische Konsequenzen nach sich ziehen – auch für Deutschland.

Das Gutachten war von der Generalversammlung der UN im Dezember 2022 in Auftrag gegeben worden, einen Tag nach dem Amtsantritt von Ministerpräsident Netanjahu. Zwar haben die im Gutachten getroffenen Anordnungen keine rechtsverbindliche Wirkung, dies ändert jedoch nichts am symbolischen Wert und Präzedenzcharakter der Entscheidung. Das gilt umso mehr, da sie mit überwältigender Mehrheit der Richterinnen und Richter erging, einschließlich der Stimmen der amerikanischen Richterin Sarah H. Cleveland und des deutschen Richters Georg Nolte.

Die Generalversammlung der UN hatte dem Gerichtshof zwei Fragen vorgelegt. Zum einen erbat sie seine Einschätzung, ob einzelne israelische Praktiken wie zum Beispiel der Siedlungsbau im Westjordanland gegen das Völkerrecht verstoßen. Dieser Frage haftete eine geringe Brisanz an, ist es doch aufgrund der recht eindeutigen Regelungen des humanitären Völkerrechts weitgehend Konsens, dass die Besiedlung von besetzten Gebieten verboten ist. Nachdem der IGH bereits 2004 die Rechtswidrigkeit des Befestigungswalls auf palästinensischem Gebiet festgestellt hatte, konnte man nun zur Siedlungspolitik eine ähnliche Entscheidung erwarten. Dazu kommt, dass selbst der Sicherheitsrat schon 2016 die Rechtswidrigkeit der Siedlungspolitik – unter Enthaltung der USA – in einer Resolution bekräftigt hatte. Allenfalls die Frage, ob die israelische Besatzung einen Fall der Apartheid nach Art. 3 der Rassendiskriminierungskonvention darstellte, sorgte für Spannung.

Der Gerichtshof hat diesen Erwartungen entsprochen und viele Aspekte der israelischen Besatzungspolitik für rechtswidrig erklärt, unter anderem die Wegnahme von Land und dessen Besiedlung. Auch die Einrichtung von „wilden“ Siedlungen in sogenannten Outposts habe Israel entgegen dem Völkerrecht geduldet beziehungsweise durch Bereitstellung von Infrastruktur sogar befördert. Die Diskriminierung der Bevölkerung einschließlich willkürlicher, teils lang anhaltender Inhaftierung wertete der IGH als Verstoß gegen das Besatzungsrecht sowie gegen Art. 3 der Rassendiskriminierungskonvention, ließ allerdings offen, ob er sich hierbei auf das Verbot der Rassentrennung oder auf Apartheid bezog. Die Sondervoten lassen erkennen, dass diese Einordnung umstritten blieb.

Bisher war weder autoritativ geklärt, ob eine Besatzung vorliegt, noch, ob diese rechtmäßig ist.

Brisanter als die erste Frage nach der Rechtmäßigkeit spezifischer Politiken und Handlungen war die zweite Frage, ob die israelische Besatzungspolitik die Besatzung nicht insgesamt rechtswidrig mache. Bisher war weder autoritativ geklärt, ob eine Besatzung vorliegt, noch, ob diese rechtmäßig ist.

Das Besatzungsrecht, das in seinem Kern aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammt, stellt nur Verhaltensanforderungen an die Besatzungsmacht auf. Es geht von einem klassischen Krieg zwischen zwei Staaten aus, in dem die Frage, ob eine Besatzung vorliegt, keine besondere Herausforderung darstellt. Es regelt auch nicht, wann die Besatzung enden muss. In der damaligen Praxis wurden Kriege meist rasch durch Friedensverträge beendet.

Entgegen dem Anraten der USA, sich aus aktuellen Konflikten herauszuhalten, stellt der IGH in seinem neuerlichen Gutachten zunächst fest, dass Israel das gesamte palästinensische Territorium besetzt hält. Hier folgt das Gericht der sogenannten funktionalen Theorie. Danach erfordert eine Besatzung im Rechtssinn keine physische Präsenz, sondern lediglich ein hohes Maß an Kontrolle über ein fremdes Gebiet. Somit gelte auch Gaza vor dem 7. Oktober 2023 bereits als besetzt. Den oft vorgebrachten Einwand, Palästina sei keine völkerrechtliche Entität und könne daher nicht besetzt werden, weist der Gerichtshof scharf zurück. Er bekräftigt das vielfach, einschließlich von der UN-Generalversammlung anerkannte Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung in seinem gesamten Gebiet, das eine unteilbare Einheit bilde.

Sodann zieht der IGH der Rechtmäßigkeit der Besatzung gewisse Grenzen. Wenngleich bereits dieser Umstand als progressiv gelten könnte, geht der IGH dabei jedoch sehr vorsichtig zu Werk. Maßgeblich sei das allgemeine Völkerrecht, zu dem das völkerrechtliche Gewaltverbot gehöre. Eine hiergegen verstoßende Annexion fremden Gebiets mache jedenfalls eine ursprünglich rechtmäßige Besatzung rechtswidrig. Israel habe es nach seiner Siedlungspolitik und den weiteren, unter der ersten Frage untersuchten Handlungen darauf angelegt, das Westjordanland zu annektieren. Mithin sei die Besatzung rechtswidrig; Israel müsse so bald wie möglich abziehen. Dies betrifft alle Teilgebiete des palästinensischen Territoriums, einschließlich Gaza. Für rechtswidrig besiedelte Orte müsse Israel Reparationen leisten.

Die Illegalität der Besatzung entbinde Israel schließlich nicht von der Pflicht, die Schutzvorschriften des humanitären Völkerrechts einzuhalten. Man möchte hinzufügen, dass dasselbe auch für Hamas gilt, hinsichtlich deren Angriff vom 7. Oktober 2023 der IGH klare Worte der Verurteilung findet.

Für rechtswidrig besiedelte Orte müsse Israel Reparationen leisten.

Der IGH geht in diesem Gutachten vom Völkerrecht als einer kohärenten Friedensordnung aus. Völkerrecht ist danach kein Sammelsurium einzelner Regeln, die mächtige Staaten „à la carte“ sich zu eigen machen oder aber von sich weisen können. Das Völkerrecht des IGH besteht aus einem engen Geflecht von miteinander in Beziehung stehenden Normen, die für alle Staaten gleichermaßen gelten. Diese Normen bedingen und begrenzen sich gegenseitig. Das Besatzungsrecht kann, wenngleich historisch älter, nicht ohne das Gewaltverbot gedacht werden.

Diese Haltung wurde eigentlich lange auch von der Bundesrepublik vertreten. Nicht umsonst gilt die Rede von der Konstitutionalisierung des Völkerrechts als gleichsam deutsche Erfindung, um nicht zu sagen Marotte. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Politik nie rechtsbefreit existieren kann, sondern immer schon an rechtliche Grenzen gebunden ist. Eine feministische Außenpolitik bekräftigt dieses Versprechen, indem sie die Menschenrechte ins Zentrum rückt – einschließlich der Rechte marginalisierter Gruppen.

Der konstitutionelle Ansatz steht in engem Zusammenhang mit dem Multilateralismus in den internationalen Beziehungen. Auch ihn bemüht der IGH in der Entscheidung, indem er Generalversammlung und Sicherheitsrat die Planung und Umsetzung des israelischen Abzugs aufträgt und insoweit vermeidet, sich selbst als Konfliktmanager zu betätigen.

Das Gutachten sollte in Deutschland Anlass zu Überlegungen geben, wie sich Geopolitik in der gegenwärtigen Zeitenwende gestalten lässt. Die Zeitenwende wurde initial als Abkehr von der Gemütlichkeit der Nachwendezeit ausgerufen: Die Amerikaner liefern Sicherheit, die Russen die Energie, Europa und vor allem Deutschland erkauft sich die Vorteile durch Loyalität und allerlei Aufräumarbeiten. Das geht nicht mehr, seitdem die Konflikte zwischen Russland und der Nato-Welt unüberbrückbar und die Rückendeckung durch Amerika unsicher geworden sind.

Nicht das Völkerrecht „à la carte“, sondern die universellen Normen der Völkerrechtsordnung sollten Deutschlands Außenpolitik leiten.

Doch was tritt an die Stelle dieser Konstellation? Allenthalben werden Parallelen zum Kalten Krieg gezogen. Der Westen igle sich ein gegen den systemischen Konkurrenten China, den Unwägbarkeiten der Situation in den USA zum Trotz. Die europäische Handelspolitik folgt ziemlich genau diesem Schema und knüpft dementsprechend Loyalitäten, beziehungsweise erlässt Sanktionen.

Olaf Scholz rief jedoch die Zeitenwende aus, um eine Neuauflage des Kalten Kriegs zu vermeiden. Nicht das Völkerrecht „à la carte“, sondern die universellen Normen der Völkerrechtsordnung sollten Deutschlands Außenpolitik leiten. Kaum etwas anderes scheint der ambivalenten Lage des rohstoffarmen, alternden, von allerlei Begehrlichkeiten bedrängten Europas angemessen. Insofern wären gute Beziehungen zu den „blockfreien“ Staaten des globalen Südens von großer Bedeutung. Auch sie wollen sich nicht vereinnahmen lassen, sondern nach beiden Seiten hin abstützen. Eine Nord-Süd-Allianz der Universalisten und Multilateralisten könnte hieran anknüpfen.

Spätestens das Gutachten des IGH verdeutlicht, dass man insbesondere in Deutschland noch weit davon entfernt ist, die universellen Werte des Völkerrechts auch dann hochzuhalten, wenn es schmerzt. Das tritt nun an einigen Stellen deutlich zutage. Den Vorwurf der Apartheid an die Adresse Israels zu richten, stufte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, vor Kurzem noch als antisemitisch ein. Wenngleich das IGH-Gutachten diesen Punkt offenlässt, erlaubt es jedoch eine Lesart, nach der Apartheid vorliegt – so zumindest der südafrikanische Richter Dire Tladi, der in diesem Punkt heftigen Widerspruch vom deutschen Richter Nolte erntet.

Ein anderes Beispiel ist der Verweis auf demokratische, rechtsstaatliche Institutionen in Israel. Er dient großen Teilen des bundesdeutschen Diskurses zur Beschwichtigung bei Völkerrechtsverstößen. Dass der IGH nun die gesamte israelische Besatzungspolitik als völkerrechtswidrig einstuft, dies keineswegs auf die Taten der Netanjahu-Regierung begrenzt und damit der israelischen Justiz und Politik – die gerade die Zweistaatenlösung abgelehnt hat – kein gutes Zeugnis ausstellt, macht den Widerspruch zwischen der deutschen Israel-Politik und dem in der Zeitenwende beschworenen universellen Völkerrecht offensichtlich.

Ein weiterer, symbolisch wichtiger Schritt wäre die Anerkennung von Palästina als Staat.

Um der Ankündigung der Zeitenwende Taten folgen zu lassen, ist hier ein Umdenken notwendig. Damit Deutschland nicht am Ende von drei Blöcken umgeben ist: neben den USA und China/Russland auch noch vom globalen Süden – womöglich gar im Verein mit einigen europäischen Staaten wie Irland, deren spezifische Geschichte diese anders auf den Nahen Osten blicken lässt. Neben dem Verlust an soft power wäre eine solche Konstellation nicht zuletzt für europäische Rohstoffdeals oder Migrationsfragen keine guten Nachrichten.

Dies bedeutet, dass Deutschland an der Umsetzung der IGH-Entscheidung eine konstruktive Rolle spielen sollte. Das betrifft nicht nur die bereits jetzt beträchtliche finanzielle Unterstützung für die palästinensische Autonomieregierung. Deutschland sollte multilateralen Lösungen hier den Vorrang einräumen und sie schützen – notfalls und in letzter Instanz auch mit Sanktionen, wie bei anderen gravierenden Völkerrechtsverstößen auch.

Ein weiterer, symbolisch wichtiger Schritt wäre die Anerkennung von Palästina als Staat. Wenngleich man an der Effektivität der palästinensischen Staatsgewalt zweifeln kann, nicht zuletzt wegen der Terrorherrschaft der Hamas, hat Deutschland in der Vergangenheit nicht immer der Effektivität den höchsten Rang eingeräumt. Die Anerkennung Palästinas würde für die nun unausweichlichen Verhandlungen über das Ende der Besatzung die Augenhöhe der beiden zentralen Verhandlungspartner herstellen. Zudem wäre sie ein wichtiges Zeichen im Hinblick auf die Zeitenwende – dessen Kurswert jedoch mit jedem Tag des Zuwartens sinken dürfte.

Um die Zeitenwende in der deutschen Politik und Gestaltung fest zu verankern, ist letztlich auch ein Umdenken in der Erinnerungspolitik erforderlich. Die zentrale Stellung des Holocausts wird nicht bedroht, sondern gefestigt, indem der Holocaust stellvertretend für die Abgründe der Menschlichkeit steht, die jederzeit und jeden Orts aufbrechen können. Ein solches Gedenken ist inklusiv und verbindend. Es stützt sich nicht auf eine abstrakte, national gedachte und administrativ durchgeboxte Staatsräson, sondern auf jene konkrete, universale Utopie der Menschenrechte, um die es bei der Zeitenwende eigentlich geht.

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