Charlotte Wiedemann: ein Kommentar zur Kundgebung „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“ vor dem Bundeskanzleramt

Heute, am 18. Oktober 2024 findet die Kundgebung „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“ vor dem Bundeskanzleramt in Berlin statt. Aufgerufen haben viele zivilgesellschaftliche Organisationen. Darunter ist auch die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft (DPG), die auch mit ihrem Präsidenten Nazih Musharbash einen Redner stellt. Der Kundgebung ist zu wünschen, dass viele dem Aufruf folge – und dass auch in den Medien darüber berichtet wird.

Trotzdem die Frage: warum ist ein solcher Aufruf nicht schon viel früher erfolgt? Ein ganzes Jahr der Morde, Vertreibungen und Zerstörungen ist jetzt vergangen!

Hier Auszüge aus einem brillanten und treffsicheren Kommentar von Charlotte Wiedemann in der Taz vom 16.10.24 mit dem Titel: Zaghafte Strukturen einer radikalen Demokratie. Die Gaza-Proteste zu kritisieren ist leicht. Deutschland hat die Bewegung bekommen, die es verdient: Die einen schreien, weil die anderen schweigen.“ Der Kommentar von Charlotte Wiedemann ist auf die Verhältnisse in Berlin gemünzt, die in vielerlei Hinsicht sehr viel konfrontativer sind als in Bremen. Trotzdem: es ist genau das, was wir auch in Bremen seit geraumer Zeit beobachten und kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. 

Sie schreibt:

Lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Am Freitag wird ein ansehnliches Bündnis zivilgesellschaftlicher, humanitärer und humanistischer Kräfte vor dem Kanzleramt Forderungen vertreten, die so selbstverständlich wie unerhört sind: ‚Menschenleben dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Palästinensisches Leben ist genauso kostbar wie israelisches Leben.‘ Und deshalb bitte keine doppelten Standards bei den Menschenrechten und im Völkerrecht.

Warum hat es fast ein Jahr gedauert, bis solche schlichten Grundsätze universellen Zusammenlebens mit Selbstbewusstsein auf einen zentralen Platz der Republik getragen werden? Weil wir ein trauriges, feiges, verlogenes Land geworden sind. Weil in diesem Jahr viele Hoffnungen zertreten wurden, nicht zuletzt die Hoffnung auf eine gelingende Einwanderungsgesellschaft. Weil wir eine defekte Demokratie sind, von oben wie von unten.

Hier also meine persönliche kleine Bilanz eines Jahres der zerronnenen Gewissheiten. Nachdem die deutsche Politik mit dem Völkermord an Juden und Jüdinnen die Unterstützung einer Kriegsführung begründen konnte, die andere Teile der Welt als Genozid betrachten, ist auf wenig mehr Verlass. […]

An die Vulnerablen delegiert
Dies alles sind keine Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Sie zeigen eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, ein erwachsenes, reifes Gespräch mit sich selbst und der Welt zu führen. Wir sehen ein Land, das so lächerlich wie traurig Jagd auf Pappkartons mit „From the River to the Sea“-Slogans macht, anstatt eine kluge Diplomatie zu entwerfen gegenüber der politisch längst verflochtenen Realität zwischen Fluss und Meer.

Die Gaza-Proteste auf den Straßen sind mit allem, was an ihnen zu kritisieren ist, wie ein Spiegelbild der Mentalität des Mainstreams. Zynisch formuliert: Deutschland hat genau die Bewegung bekommen, die es verdient. Darin sind viele migrantisch, viele ohne deutschen Pass, manche staatenlos, die meisten sehr jung und viele mit prekären Jobs.

An diese sozial und juristisch vulnerable Minderheit haben die Kartoffel-Deutschen delegiert, was ihnen selbst hin und wieder gut zu Gesicht stehen würde: einen Einspruch wagen gegen das nicht enden wollende Töten von Zivilisten.

Von Beginn der Proteste an wurden viele Demonstranten wie Kriminelle auf Freigang behandelt, nun vermummen sich viele von ihnen und liefern so die erwünschten Bilder: Unsere Banlieue, da traut sich nur Polizei in Kampfmontur hinein.

Ach, wie leicht ist es, sich zu überheben – über eine Bewegung, die schreit, auch in Misstönen, weil all jene schweigen, die gefahrlos sprechen könnten, mit dem guten Job, der richtigen Hautfarbe, dem sicheren Pass. Und weil sich nicht einmal eine Hand ausstreckt, um zu signalisieren: Ich lehne eure Parolen ab, aber ich verstehe euren Schmerz.

Die Gaza-Proteste sind mit allem, was an ihnen zu kritisieren ist, ein Spiegelbild des Mainstreams
Die Bewegung auf der Straße ist mit steigenden Todeszahlen in Gaza (und nun im Libanon) kaum größer geworden, nur verzweifelter. Gewachsen ist indes etwas anderes: eine Szene derer, die der Einschränkung der Meinungsfreiheit, der deutschen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit mit anderen Mitteln widersprechen, als Künstlerinnen, Anwälte oder Wissenschaftler. Die Aktivsten unter ihnen sind, neben Palästinastämmigen, nicht zufällig oft Juden/Jüdinnen.

So ist etwas im Entstehen, das seinerseits ein Produkt dieses grässlichen Jahres ist: Gegen eine missbräuchliche Geschichtspolitik von oben entstehen zaghafte Strukturen einer radikalen Demokratie und universalistischen Erinnerungskultur von unten. Ich hoffe, dass ich mich damit nicht täusche.

Und als Nachtrag wäre vielleicht noch dies zu bedenken: Ein Staat, der so außer Rand und Band gegen eine Minderheit vorgeht, die keinerlei Lobby im öffentlichen Raum hat, ist potenziell gefährlich für alle.

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