Kritische – jüdische – Stimmen zur Demo des Zentralrats der Juden am 14. September 2014 in Berlin

Die Kundgebung des Zentralrats der Juden unter dem Motto „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ wurde von vielen politischen und gesellschaftlichen Gruppen unterstützt. Hauptrednerin war die Bundeskanzlerin Angelika Merkel. Der Zentralrat durfte daneben nach eigener Auskunft „CDU und CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke samt ihrer Stiftungen sowie den Deutschen Fußball-Bund, die Deutsche Fußball Liga, den Deutschen Olympischen Sportbund, den Deutschen Gewerkschaftsbund, die Deutsch-Israelische Gesellschaft, den Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und die Wall AG zu (den) Unterstützern zählen.“

„Du sollst nicht Kritik an der Politik Israels mit Antisemitismus verwechseln!“ Gegen dieses Gebot journalistischer Sorgfaltspflicht wurde auf der Kundgebung allerdings vielfach und in voller Absicht verstoßen. Dazu hier zwei kritische Stimmen.

„Reden wir darüber, was Antisemitismus wirklich ist: Rassismus. Angriffe auf Synagogen und Schulen. Gewalt gegen Läden, die Juden gehören. Antisemitische Vorurteile, Hasstiraden oder Anpöbeln auf der Straße.

Reden wir darüber, was Antisemitismus nicht ist. Freies Denken. Kritik an Menschenrechtsverletzungen, Massakern und Kriegsverbrechen. Opposition gegen den Staat Israel, seine Politik und Verbrechen gegen das palästinensische Volk. Gegen Unrecht aufzutreten kann nicht antisemitisch sein.

Sagen wir, wer Juden wirklich sind. Menschen. Leute mit eigenen Meinungen, verschiedenen Weltanschauungen und Ansichten.

Sagen wir, was Juden nicht sind. Zionistische Ideologie und Praxis. Der Staat Israel. Die israelische Armee. Eine Masse von Leuten mit exakt derselben Ideologie und Politik, unfähig zum unabhängigen freien Denken.

Antisemitismus ist Rassismus

Wir stehen Seite an Seite mit unseren muslimischen Schwestern und Brüdern im Kampf gegen Islamophobie. Wir stehen Seite an Seite mit unseren Roma und Sinti Schwestern und Brüdern gegen Rassismus und institutionelle Gewalt. Wir glauben daran, dass Solidarität und aktive Zusammenarbeit mit anderen Minderheiten in Deutschland und Europa der einzig realistische Weg zur Abschaffung von Rassismus in all seinen Formen, einschließlich Antisemitismus, ist.

Wie können wir Antisemitismus ausrotten? Mit Aufklärung, Sichtbarmachung und Zivilcourage. Indem wir den Kern antisemitischen Denkens in den Köpfen der Leute angehen, jenseits von simplen Zensuren dessen, was „man nicht sagen darf“.

Wie können wir Antisemitismus nicht ausrotten? Durch Gleichsetzung von Juden mit Zionismus, dem Staat Israel oder seiner Politik. Durch den Anspruch auf ein fernes Land als „einen sicheren Hafen für Juden“ und durch Aufrechterhalten der gefährlichen Idee, dass Juden nur außerhalb Europas wirklich sicher sein können. Durch die Aufforderung, dass Leute Israel unterstützen sollen, um ein „Koscher”-Zertifikat zu erhalten, anstatt Antisemitismus zu thematisieren.

Erinnern wir uns an geschichtliche Verantwortung. Deutschland liefert Waffen an Israel. Das dient lediglich der Sicherheit der Waffenindustrie. Für die Menschen bedeutet es nur neues Blutvergießen. Für Deutschland bedeutet es Verantwortung für neue Kriegsverbrechen. Schluss mit militärischer und politischer Hilfe für Massaker und schwere Menschenrechtsverletzungen: das wäre geschichtlich verantwortliches Handeln.

Wir wehren uns gegen Rassismus, egal ob er sich gegen uns oder gegen andere richtet
nicht-zionistische Juden und Jüdinnen“
V.i.S.d.P Iris Hefets

Quelle: Gemeinsames Flugblatt der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ und der Gruppe der „Nicht-zionistischen Juden und Jüdinnen“

Die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ hat außerdem ein eigenes Flublatt herausgebracht:

„Es geht nicht um Antisemitismus. Es geht um die Frage: Sympathie mit Menschenrechten oder mit Israels Politik?

Israels maßloser Versuch, die Hamas als Vertretung Palästinas ein für allemal zu liquidieren, treibt in Deutschland einen schon lange schwärenden Widerspruch auf die Spitze: Sympathie für Menschenrechte oder für Israel? Unsere Politiker reagieren schablonenhaft, und die jüdische Gemeinschaft wirkt ratlos; gemeinsam rufen sie »Hilfe, Antisemitismus!«.

Aber wenn heute der Begriff »Antisemitismus« verwendet wird, vernebelt er mehr als er erklärt. Denn die »antisemitische« pseudowissenschaftliche »Rassenkunde« – im »Dritten Reich« an allen Schulen gelehrt –, der viele unserer Angehörigen und fast das ganze europäische Judentum zum Opfer fielen, ist heute kein Thema mehr.

Trotzdem gibt es weiter Haß gegen Juden. Dabei geht es nicht um Überlegenheit der »arischen« gegen die »semitische Rasse«, sondern um allgemeine Vorurteile gegen Minderheiten und speziell um Angst vor einer »jüdischen Weltverschwörung«. Wenn aber in unserem wohlhabenden und lange von Krieg verschonten Land Menschen Juden hassen, weil sie sie als Teil einer »Weltverschwörung« ansehen, so ist das offensichtlich unangemessen. Jedoch bei Menschen, deren Familien vor 67 Jahren enteignet und vertrieben wurden und die bis heute in Lagern, als Bürger zweiter Klasse in Israel, als ungern Geduldete in Jerusalem, als Ghettoisierte in der Westbank und als hilflos Gefangene in Gaza leben, ist Wut auf Israel äußerst verständlich. Kann man es diesen Menschen verdenken, wenn sie »Israel« mit »Juden« gleichsetzen? Es ist doch Israel selbst, das als »jüdischer Staat« anerkannt werden will!

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und unsere Politiker müssen deutlich machen, daß Israel nicht mit Juden gleichzusetzen ist. Europa, dessen Judenhaß zur Gründung Israels in Arabien führte, bekommt nun durch Israels Starrsinn diesen Haß auf Israel hierher zurückimportiert. Und wenn wir nicht dagegen angehen, kann daraus neuer Haß gegen Juden werden.

Aber wie kann man dagegen angehen? Diese verständliche Wut auf Israel wird man eben nicht durch »Antisemitismus«-Rufe zum Verschwinden bringen, sondern indem man die Ursachen dieser Wut behebt: Enteignung, Vertreibung, Besatzung, Diskriminierung. Da Israel nicht freiwillig Kompromisse sucht, muß es durch Sanktionen dazu bewegt werden. Deutsche Politiker sollten das an führender Stelle in der EU tun, denn sonst setzen sie eine deutsche Tradition fort: Mitläufer, die gegen besseres Wissen nichts gegen Unrecht tun.

Diejenigen Deutschen, die heute die palästinensische Position unterstützen (und laut Umfragen weniger Vorurteile gegen Juden haben als die Unterstützer Israels), setzen dagegen die Tradition der Menschlichkeit fort, die sich vor 75 Jahren im Widerstand gegen Unrecht zeigte. Entsprechend dieser Tradition der Menschlichkeit sollten wir Israel drängen, die Palästinenser für jahrzehntelang ihnen angetanes Unrecht um Verzeihung zu bitten.“

Quelle: Flugblatt für die Kundgebzung in Berlin am 14.09.14

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