Recherchen von Amnesty International ergeben: Israel begeht Völkermord an Palästinenser*innen in Gaza.
Amnesty International hat hinreichende Belege dafür, dass der israelische Staat Genozid an der palästinensischen Bevölkerung im besetzten Gazastreifen begangen hat und weiterhin begeht. Zu diesem Schluss kommt ein umfassender Bericht der Menschenrechtsorganisation, der am 5. Dezember 2024 veröffentlicht wird.
• Den Bericht finden Sie hier.
Aktuell: Inzwischen hat der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), Volker Beck, eine Stellungnahme veröffentlicht. Der AI-Bericht enthalte einen „falschen Vorwurf des Genozids“, er benutze „ungeeignete Kampfbegriffe“ und – natürlich -: „Amnesty International wird damit erneut zum Stichwortgeber für Antisemitismus“. Aber lesen Sie selbst.
BERLIN, 04.12.2024 – Der Bericht mit dem Titel „‘You Feel Like You Are Subhuman’: Israel’s Genocide Against Palestinians in Gaza“ dokumentiert auf 296 Seiten, wie Israel nach den von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen verübten brutalen Kriegsverbrechen vom 7. Oktober 2023 im Zuge seiner Militäroffensive absichtsvoll Leid und Zerstörung über die Palästinenser*innen im Gazastreifen gebracht hat.
Amnesty International kommt aufgrund der analysierten Belege zu dem Schluss, dass Israel durch seine Handlungen und Unterlassungen einen Völkermord an den Palästinenser*innen im Gazastreifen begangen hat und weiterhin begeht. Die vorliegende Untersuchung zeigt auf, dass Israels Handlungen in den Geltungsbereich der Völkermordkonvention fallen. Israel begeht die in der Konvention definierten Handlungen in der Absicht, Palästinenser*innen im Gazastreifen als Gruppe zu zerstören. Hierzu zählen Tötungen von Mitgliedern der Gruppe, die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden sowie die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die körperliche Zerstörung der Gruppe der Palästinenser*innen im Gazastreifen ganz oder teilweise herbeizuführen.
Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International, sagt: „Unsere Recherchen ergeben, dass der Staat Israel über Monate einen Völkermord begangen hat und weiterhin begeht, in dem vollen Bewusstsein, dass den Palästinenser*innen im Gazastreifen ein nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt wurde. Dabei ignorierte die israelische Regierung zahllose Mahnungen über die katastrophale humanitäre Lage und setzte sich über rechtsverbindlich angeordnete Maßnahmen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) hinweg. Dieser hatte Israel wiederholt aufgefordert, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um unter anderem die humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen sicherzustellen.
Der Genozid in Gaza muss enden – es braucht jetzt einen Waffenstillstand. Alle Staaten sind gemäß Genozid-Konvention dazu verpflichtet, dazu beizutragen, den Völkermord an Palästinenser*innen im Gazastreifen sofort zu stoppen. Notwendig ist ein umfassendes Waffenembargo. Wer weiterhin Waffen an Israel liefert, läuft Gefahr, sich an einem Völkermord zu beteiligen. Das gilt insbesondere für wichtige Rüstungslieferanten wie Deutschland.
Völkermord und andere Verbrechen müssen nach internationalem Recht geahndet werden. Die jahrzehntelange Straflosigkeit für Verbrechen im besetzten palästinensischen Gebiet und Israel muss jetzt aufhören. Die internationale Gemeinschaft muss alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen – seien es der Internationale Strafgerichtshof, der Internationale Gerichtshof, extraterritoriale Gerichtsbarkeit einschließlich des Weltrechtprinzips – um sicherzustellen, dass diejenigen, die der Verantwortung für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verdächtigt werden, vor Gericht gestellt werden.“
Unabhängig von dem Völkermord an den Palästinenser*innen im Gazastreifen fordert Amnesty International weiterhin die bedingungslose Freilassung aller zivilen Geiseln und dass die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen, die für die am 7. Oktober 2023 begangenen Verbrechen verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.
Umfangreiche Verbrechen
Der Bericht von Amnesty International untersucht detailliert die Handlungen und Unterlassungen, die Israel im Gazastreifen vom 7. Oktober 2023 bis Anfang Juli 2024 begangen hat. Amnesty hat mit vertrauenswürdigen Feldforscher*innen vor Ort zusammengearbeitet, die eigene Untersuchungen an Orten von Angriffen durchgeführt haben. Die Organisation sprach mit 212 Personen, darunter palästinensische Betroffene und Zeug*innen, Vertreter*innen von Kommunen im Gazastreifen und medizinisches Personal. Amnesty International führte eigenständige Untersuchungen vor Ort durch und analysierte umfangreiches visuelles und digitales Beweismaterial, einschließlich Satellitenaufnahmen. Amnesty sprach mit Behördenvertreter*innen in Gaza, mit Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen sowie mit Vertreter*innen von UN-Agenturen. Amnesty analysierte umfangreiches Datenmaterial und Berichte von UN-Organisationen, NGOs sowie öffentlich zugängliche Berichte aus dem laufenden Genozid-Verfahren vor dem IGH. Für den vorliegenden Bericht wurden zudem Aussagen von hochrangigen Angehörigen der israelischen Regierung und des Militärs sowie von offiziellen Institutionen ausgewertet. Die Organisation sichtete 102 Stellungnahmen, die zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 30. Juni 2024 von israelischen Regierungs- und Militärangehörigen und anderen Personen abgegeben wurden und in denen Palästinenser*innen entmenschlicht wurden bzw. zu Völkermord oder anderen Verbrechen gegen sie aufgerufen oder diese gerechtfertigt wurden.
Amnesty International hat seine Erkenntnisse den israelischen Behörden mehrfach mitgeteilt und Informationen und Treffen angefragt, jedoch bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts keine substanzielle Antwort erhalten. Amnesty International weist die durch die Völkermordkonvention geächteten Verbrechen der Tötung und schweren körperlichen und geistigen Schädigung anhand der eigenen Untersuchung von 15 Luftangriffen nach, die zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 20. April 2024 durchgeführt wurden und bei denen mindestens 334 Zivilpersonen, darunter 141 Kinder, getötet sowie Hunderte Menschen verletzt wurden. Amnesty International fand keine Beweise dafür, dass diese Angriffe auf militärische Ziele gerichtet waren.
Die untersuchten Angriffe machen zwar nur einen Bruchteil der israelischen Luftschläge aus, sie sind jedoch bezeichnend für ein großflächiges Muster wiederholter direkter Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte bzw. vorsätzlich unterschiedsloser Angriffe. Sie wurden außerdem so durchgeführt, dass sie absehbar eine sehr hohe Zahl an Getöteten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung zur Folge hatten – so galten die Luftangriffe privaten Wohnhäusern und wurden zu einer Tages- bzw. Nachtzeit durchgeführt, zu der davon ausgegangen werden musste, dass die Bewohner*innen schlafend zuhause sind. Zehntausende israelische Luftangriffe in Gaza führten zu einer beispiellos hohen Zahl an Todesopfern, darunter mehrheitlich Zivilpersonen. Knapp 60 Prozent der 40.717 Todesopfer, die vom Gesundheitsministerium in Gaza bis zum 7. Oktober 2024 identifiziert wurden, waren Kinder, Frauen und ältere Menschen.
Der Tatbestand des Völkermords ist auch dann erfüllt, wenn der Versuch, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, nicht erfolgreich war. Vielmehr reicht es aus, dass völkerrechtswidrige Handlungen in der Absicht begangen wurden, diese Personengruppe zu zerstören. Zerstörungsabsicht Amnesty International belegt in dem Bericht die Absicht Israels, die Gruppe der Palästinenser*innen im Gazastreifen zu zerstören. Dies erfolgte durch eine umfassende Betrachtung der israelischen Handlungsmuster im Gazastreifen und die Auswertung entmenschlichender und genozidaler Aussagen durch teils hochrangige Angehörige von Regierung und Militär nach und vor dem 7. Oktober 2023. Die Organisation analysierte die von Israel begangenen Handlungen im Gazastreifen im Kontext des von Israel geschaffenen Apartheidsystems sowie der rechtswidrigen Blockade des Gazastreifens und die seit 57 Jahren anhaltende rechtswidrige militärische Besetzung palästinensischen Gebietes.
Amnesty International untersuchte die Angaben Israels, dass es auf rechtmäßige Weise militärische Angriffe auf die Hamas und andere bewaffnete Gruppen im Gazastreifen verübe, und dass die resultierende beispiellose Zerstörung und Verweigerung humanitärer Hilfe dem rechtswidrigen Verhalten der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen zuzuschreiben seien, die ihre Kämpfer*innen in der Zivilbevölkerung vermuten und Hilfsgüter umleiten würden. Nach eingehender Prüfung kam die Organisation zu dem Ergebnis, dass diese Behauptungen nicht glaubwürdig sind. Die Anwesenheit von Hamas-Kämpfer*innen nahe oder in einem dicht besiedelten Gebiet entbindet Israel nicht von seiner Verpflichtung, alle realisierbaren Vorkehrungen zu treffen, um Zivilpersonen zu verschonen und wahllose oder unverhältnismäßige Angriffe zu vermeiden.
Die Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass Israel dieser Verpflichtung wiederholt nicht nachgekommen ist und mehrfach völkerrechtliche Verbrechen begangen hat, die durch Handlungen der Hamas oder durch militärische Notwendigkeit nicht zu rechtfertigen sind. Die Organisation fand zudem keine Belege für eine objektive Notwendigkeit für die Einschränkung und Verweigerung des Zugangs von Hilfsgütern und lebenswichtiger humanitärer Hilfe durch Israel. Julia Duchrow sagt: „Einzeln betrachtet stellen einige der von Amnesty International untersuchten Handlungen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen dar. Betrachtet man zusätzlich das Gesamtbild des Militäreinsatzes, den Kontext, in dem die Handlungen stattfinden, bekannte Verhaltensmuster und die kumulativen und absehbaren Folgen der israelischen Vorgehensweisen, so ist eine genozidale Absicht die einzig plausible Erklärung für die Gesamtheit israelischen Handelns. Gemäß internationalem Recht kann eine genozidale Absicht auch dann vorliegen, wenn gleichzeitig weitere Ziele – etwa militärische Ziele – verfolgt werden.“
Lebensbedingungen, die auf Auslöschung abzielen
Der Bericht dokumentiert, wie Israel für die Palästinenser*innen im Gazastreifen vorsätzlich Lebensbedingungen geschaffen hat, die längerfristig auf ihre Zerstörung abzielen. Diese Bedingungen wurden durch drei Vorgehensweisen herbeigeführt, die sich wiederholt gegenseitig verstärkten: Beschädigung und Zerstörung von lebenserhaltender Infrastruktur und anderer für das Überleben der Zivilbevölkerung unverzichtbarer Objekte; Verkündung pauschaler, willkürlicher und irreführender „Evakuierungs“-Befehle für weite Teile des Landes, wodurch fast die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens in unsichere und nicht für die Versorgung von Menschen ausgestattete Gebiete vertrieben wurde; und Verweigerung und Behinderung der Bereitstellung lebenswichtiger Dienstleistungen, humanitärer Hilfe und anderer lebensnotwendiger Güter – dies betrifft Lieferungen in den Gazastreifen sowie innerhalb des Gazastreifens.
Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 verhängte Israel eine komplette Blockade über den Gazastreifen und stellte Nahrungsmittel-, Strom-, Wasser- und Treibstofflieferungen ab. In den neun Monaten, die für diesen Bericht untersucht wurden, hat Israel eine rechtswidrige Blockade aufrechterhalten, den Zugang zu Energiequellen streng kontrolliert, den wirksamen humanitären Zugang innerhalb des Gazastreifens nicht sichergestellt und die Einfuhr und Lieferung lebensnotwendiger Güter und humanitärer Hilfsmittel behindert, insbesondere in die Gebiete nördlich des Wadi Gaza. Damit verschärfte Israel eine bereits bestehende humanitäre Krise. In Kombination mit der großflächigen Beschädigung von Häusern, Krankenhäusern, Wasserversorgungs- und Sanitäreinrichtungen sowie landwirtschaftlichen Flächen im Gazastreifen und der massenhaften Vertreibung führte dies dazu, dass der Hunger katastrophale Ausmaße annahm und sich Krankheiten alarmierend schnell verbreiteten. Kleine Kinder und schwangere bzw. stillende Frauen waren hiervon besonders stark betroffen mit langfristigen gesundheitlichen Folgen.
Die israelische Regierung hatte immer wieder die Möglichkeit, die humanitäre Lage im Gazastreifen zu verbessern, weigert sich jedoch seit über einem Jahr, Maßnahmen zu ergreifen, die eindeutig in ihrer Macht stehen. So hätten beispielsweise ausreichende Zugänge zum Gazastreifen geöffnet werden, die strengen Beschränkungen für Lieferungen in das Gebiet bzw. für Hilfslieferungen innerhalb des Gazastreifens aufgehoben werden können oder die Ausreise von Verletzen (insbesondere Kinder, Frauen und ältere Menschen) zur medizinischen Versorgung sichergestellt werden können.
Trotz der zunehmend menschenfeindlichen Lebensbedingungen weigerten sich die israelischen Behörden, Maßnahmen in Betracht zu ziehen, die die vertriebene Zivilbevölkerung geschützt und die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sichergestellt hätten. Dies zeigt, dass sie vorsätzlich handelten. Die zahllosen Warnungen humanitärerer und UN-Organisationen im gesamten Zeitraum zeigen auch, dass Israel die zerstörerischen Konsequenzen seiner Handlungen und Unterlassungen kennen musste.
Die Behörden erlaubten den vertriebenen Zivilist*innen nicht, in ihre Häuser im nördlichen Gazastreifen zurückzukehren oder vorübergehend in andere Teile des besetzten palästinensischen Gebietes oder Israels umzusiedeln. Sie taten dies in dem Wissen, dass es für Palästinenser*innen im Gazastreifen keinen sicheren Zufluchtsort gibt. Am 7. Oktober 2023 haben die Hamas und andere bewaffnete Gruppen wahllos Raketen auf den Süden Israels abgefeuert und dort vorsätzliche Massentötungen und Geiselnahmen begangen. Sie töteten etwa 1200 Menschen, darunter über 800 Zivilpersonen, entführten 223 Zivilpersonen und nahmen 27 Soldat*innen gefangen. Die Verbrechen, die von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen während dieses Angriffs verübt wurden, stellen Kriegsverbrechen dar und werden Gegenstand eines weiteren Berichts von Amnesty International sein. Seit Oktober 2023 hat Amnesty International eingehende Recherchen zu den zahlreichen Verstößen und Verbrechen gegen das Völkerrecht durchgeführt, die von den israelischen Streitkräften begangen wurden, darunter direkte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte und vorsätzlich unterschiedslose Angriffe, bei denen Hunderte von Zivilpersonen getötet wurden, sowie andere rechtswidrige Angriffe auf die Zivilbevölkerung und kollektive Bestrafungen. Amnesty International fordert die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs auf, ihre Ermittlungen zur Lage im Staat Palästina zu beschleunigen und setzt sich für einen sofortigen Waffenstillstand ein. Für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an die Pressestelle.