Lieber Widu Wittekindt, (ein Kommentar zum Kommentar)

erst einmal vielen Dank für Ihre beiden Diskussionsbeiträge am 1. und 2. Februar 2017 zu unseren Bericht über die Veranstaltung mit Abi Melzer am 21. Januar 2017 im Gästehaus der Universität. Sie nahmen Anstoß an dessen Bemerkung über die alten Palästinenser in Palästina, „die schon seit über 3000 Jahren dort ununterbrochen leben, wenn man bedenkt, dass sie die echten Nachfolger der alten Hebräer sind.“ Dieser Satz, schrieben Sie, wäre „ein herrliches Beispiel für die neu eingeführte Sparte ‚Alternative Fakten‘.“ Meine Antwort und mein Verweis auf den israelischen Historiker Shlomo Sand

und sein viel diskutiertes Buch über „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ konnte Sie offenbar nicht überzeugen, und Sie antworteten mit einem längeren Zitat von Luise Hirsch (leider ohne Quellenangabe), die eine längere Rezension zum Buch von Sand verfasst hat. Nun ist es aber so, dass Frau Hirsch die brisanten Thesen von Shlomo Sand gar nicht bestreitet (sie kritisiert ganz andere Zusammenhänge), sondern sie im Gegenteil bestätigt. 

Sie sagt: „Dem Buch ist zugute zu halten, dass Sand mit einigen populären Legenden aufräumt, die Fachhistoriker freilich ohnehin längst ad acta gelegt haben. Es ist an der Zeit, dass auch der Allgemeinheit zur Kenntnis gelangt, dass alle Gemeinschaften zu einem gewissen Grad imaginiert sind. Ebenso, dass die biblischen Erzählungen von den Erzvätern, vom Auszug aus Ägypten und der Landnahme in Kanaan just von der israelischen Archäologie als unhistorisch entlarvt wurden, die eigentlich angetreten war, sie zu beweisen. Oder die weithin ignorierte Tatsache, dass in der Spätantike vor dem Aufstieg des Christentums eine große Anzahl von Menschen zum Judentum konvertiert ist – was den Schluss zulässt, dass auch die heutigen Juden zum Teil auf Proselyten (zum Judentum bekehrte, S.H.) zurückgehen. Die wichtigste dieser Klarstellungen ist vielleicht, dass es eine umfassende, systematische Vertreibung der Juden aus Palästina durch die Römer nie gegeben hat […].

Das Zitat lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Was Abi Melzer meinte und Shlomo Sand in seinen Büchern geschildert hat, sind also keine „alternativen Fakten“, sondern eine richtige Darstellung der historischen Zusammenhänge, die von Luise Hirsch im Großen und Ganzen bestätigt werden.

Aber zurück zur Ausgangsfrage: Was bezweckte Abi Melzer mit seinem Hinweis auf die alten Palästinenser? Melzer kritisierte den Satz von Miri Regev, Israels derzeitiger Kulturministerin, dass Jerusalem seit 3000 Jahren die Hauptstadt Israels gewesen sei und es auch für weitere 3000 Jahre „und für immer“ bleiben werde. Und in diesem Satz liege „die ganze Ideologie des Zionismus, seine Arroganz, Selbstgerechtigkeit, Überheblichkeit und Absurdität.“

Wir wissen natürlich als aufgeklärte Europäer, dass die Bibel kein Geschichtsbuch ist, dass die im Alten Testament erzählten Geschichten nur für gläubige Juden (und Christen) relevant sind und dass sie als Begründung für die politische Verfassung und die territorialen Ansprüche von modernen Staaten nichts taugen. Die Crux besteht in der Definition Israels, ein jüdischer Staat zu sein, was ein Streitpunkt von Staatsbeginn an war. Schon in den Beratungen für die Unabhängigkeitserklärung, die in Tel Aviv am 14. Mai 1948 feierlich verkündet wurde, waren drei Dinge strittig und sind bis heute strittig geblieben. Nämlich erstens die Grenzen des neuen Staates, zweitens sein demokratischer Charakter und drittens die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Bürger dieses Staates. Im ersten Entwurf der Erklärung war noch von den Grenzen des neuen Staates die Rede, so wie sie im UN-Teilungsbeschluss von 1947 festgelegt worden waren. Gefordert in den Beratungen wurde auch, eine wichtige Ergänzung in den Text der Gründungserklärung aufzunehmen: Statt „Hiermit erklären wir die Gründung eines freien und unabhängigen jüdischen Staates“ sollte es heißen „Hiermit erklären wir die Gründung eines freien, unabhängigen und demokratischen jüdischen Staates.“ Anfänglich sollte auch ein längerer Abschnitt mit verbindlichen Rechten in die Erklärung eingefügt werden, in dem stehen sollte: „Es herrscht ein Recht [im Staat] für alle Einwohner, ungeachtet ihrer Rasse, Religion, Sprache oder ihres Geschlechts.“

Fast jedes Wort des Entwurfes wurde, wie man sich vorstellen kann, eingehend diskutiert und schließlich mit durchaus knappen Mehrheiten abgestimmt. In der Endfassung fehlten dann die Grenzen und die Demokratie. In der Frage des gleichen Rechts für alle Einwohner wurde ein Kompromiss gefunden, der immer wieder zitiiert wird aber umstritten ist, ob er jemals umgesetzt wurde: „Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“(vgl. dazu den ausführlichen Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Israelische_Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung)

Eine kleine Episode zum Schluss: während einer Reise mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) im März 2016 nach Israel/Palästina besuchte unsere Reisegruppe auch das Staatsarchiv in Jerusalem, wo so viele der für die Historiker wichtigen Dokumente aufbewahrt werden. Der sehr gut deutsch sprechende Staatsarchivar Jehoschua Freundlich empfing uns und zeigte uns u.a. die Pistole, mit der Ytzhak Rabin erschossen wurde sowie – sehr interessant – eine Kopie der Gründungserklärung des Staates Israel, so wie sie dem us-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman vorgelegt worden war. Truman war sich seinerzeit der Verfassungsproblematik voll bewusst, weswegen er eigenhändig die Worte „the Jewish State“ auskreuzte und sie durch das Wort „Israel“ ersetzte. Außerdem schrieb er das Wort „provisional“ (i.e. vorläufig) vor das Wort „government“. (vgl. http://www.mideastweb.org/us_supportforstate.htm und die dort angegeben Quellen)

Die Problematik der nicht definierten Grenzen existiert bis heute und wird gerade jetzt wieder aktuell; die Gleichheit vor dem Gesetz ist für die palästinensischen Israelis (oder israelischen Palästinenser) bis heute nicht gewährleistet und der demokratische Charakter des Staates Israel wird durch die anachronistischen religiösen Ansprüche immer noch in Frage gestellt. John Kerry, der ehemalige Außenminister der USA, formulierte es in seiner Abschiedsrede am 28. Dezember 2016 klar und deutlich: „Israel kann entweder jüdisch oder demokratisch sein, aber nicht beides zugleich.“

Mit freundlichem Gruß
Sönke Hundt

PS: Wie finden Sie den Vorschlag, eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung zwischen der DIG und dem AK Nahost oder anderen Gruppierungen zu organisieren. Dann könnte gleich öffentlich und kontrovers diskutiert werden. Auf der Podiumsveranstaltung im Rahmen der Nakba-Ausstellung am 6. März 2015 hat es ja auch ganz gut funktioniert.

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