Es ist ja für die ganze reichlich verkorkste Antisemitismus-Diskussion – vor allem in Deutschland – sehr belebend, dass es jetzt zwei Definitionen gibt: die IHRA-Definition und die „Jerusalem Decleration“. Erstere ist so konstruiert, dass Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und die BDS-Bewegung sofort unter Antisemitismusverdacht („neuer oder sekundärer Antisemitismus“) fallen, die Jerusalem-Decleration hält die Kritik am Antisemitisums und Kritik an der Politik des Staates Israel fein säuberlich auseinander. Jeder Teilnehmer an dieser Diskussion muss sich also jetzt erst einmal – auch wenn’s schwerfällt – mit beiden Definitionen auseinander setzen.
Micha Brumlik ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt sowie seit 2013 Senior Advisor am Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Und er ist Mitautor der „Jerusalem Declaration“.
In der Frankfurter Rundschau v. 22. April 2021 setzt sich nun Micha Brumlik mit seinen Kritikern auseinande. „Über den Gräbern der Opfer des Holocaust und des Kolonialismus“ werde zurzeit heftig über ein angemessenes Gedenken an die großen Menschheitsverbrechen gestritten; manchmal mit Anschuldigungen, die den Gegner mundtot machen sollen. So wird zum Beispiel den Autoren und Autorinnen der neuen „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ und allen, die sie unterzeichnet haben, unterstellt, sie verstünden entweder nichts von der Materie oder wollten Kritikern der Politik Israels einen Freibrief für antisemitische Aussagen ausstellen.
Die „Jerusalem Declaration“ unterscheide fünf Typen von antisemitischen Aussagen über Israel von fünf anderen Typen, die kritisch zu Israel oder zum Zionismus stehen können, aber nicht automatisch als antisemitisch eingestuft werden. Das gelte zum Beispiel für die gewaltfreie palästinensische Boykottbewegung (BDS) gegen die Besatzung.
In Ton und Inhalt überzogen sei, so Micha Brumlik, Thomas Schmids Reaktion in der „Zeit“ auf den Erinnerungsforscher Michael Rothberg und den Afrikanisten Jürgen Zimmerer, die eine Erweiterung des Gedenkens auch in Deutschland auf die Verdrängung/Ermordung indigener Völker, auf Sklaverei und Kolonialismus anstreben. Schließlich gebe es neben dem Holocaust weitere Verbrechen mit Opfern, die in die Millionen gingen und deren Nachkommen ebenfalls Respekt für ihre Geschichte einforderten.
Schmid wende dagegen ein, der Holocaust sei kein Kolonialverbrechen, das Projekt einer „multidirektionalen Erinnerung“ somit wissenschaftlich nicht seriös. Brumlik: „Nun sprechen die beiden Autoren an keiner Stelle von einer Kausalbeziehung zwischen Kolonialismus und Holocaust und betonen immer wieder, es gehe ihnen darum, das Spezifische einer Gewaltgeschichte zu erinnern, ohne eine andere zum Schweigen zu bringen. Sie möchten gleichwohl Parallelen oder auch Zusammenhänge zwischen diesen Verbrechen eruieren, so vor dem Hintergrund der europäischen Ideengeschichte. So ist die Ab- und Entwertung von Juden, aber auch von anderen Gruppen von Menschen, häufig außerhalb von Europa, schon seit Reformation und Aufklärung ein verbreiteter Aspekt in der politischen Theorie und der Philosophie.
Das Wiederaufleben antisemitischer oder rassistischer Tendenzen zur Sprache bringen.“
Man müsse Thomas Schmid daran erinnern, dass die Nazis in den Dreißigerjahren Funktionäre in die USA schickten, um die dortigen Rassegesetze zu studieren und teilweise wörtlich zu übernehmen? Oder an Hannah Arendt, die im europäischen Imperialismus in Afrika Ansatzpunkte für den Vernichtungsrassismus der Nazis sah? Was spätere kaiserliche Militärs wie Carl Peters, der rassistische und gewalttätige Begründer der deutschen Kolonie Ostafrika, in Afrika lernen konnten, sei die Möglichkeit gewesen, Völker in Rassestämme zurückzuverwandeln. Da sei es dann besonders leicht, wenn man nur rechtzeitig das eigene Volk in die Position einer Herrenrasse hineinmanövriere.“
Der spätere deutsche Vernichtungskrieg im Osten, ein rassistisch-ideologischer Systemkrieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“, sei auch als Kolonialkrieg zur Gewinnung von „Lebensraum“ und zur Verdrängung und Versklavung der Slawen gedacht. Ohne diesen Krieg hätte es nach heutigem Wissen den systematischen industriellen Massenmord so nicht gegeben.
Ein weiteres Anliegen „multidirektionaler Erinnerung“ betrifft die Konkurrenz zwischen kollektiven Traumen; im Nahostkonflikt zum Beispiel zwischen den Gewalterfahrungen der zionistischen Einwanderer, diskriminierter oder verfolgter Juden und Überlebender des Holocaust, in das Mandatsgebiet Palästina beziehungsweise nach Israel auf der einen Seite und den ortsansässigen arabischen Palästinensern und Palästinenserinnen auf der anderen, die dem zionistischen Siedlungskolonialismus, der sich ohne den frühen Rückhalt der Kolonialmächte nicht hätte durchsetzen können, weichen mussten und zum Teil noch müssen.
Und schließlich gilt es, die Fortdauer oder das Wiederaufleben antisemitischer oder rassistischer Tendenzen zur Sprache zu bringen, die sich aus der mangelnden Verarbeitung oder sogar der völligen Verdrängung von Menschheitsverbrechen ergeben. Bei den NSU-Morden haben unsere Landeskriminalämter bekanntlich die Familien der ermordeten Landsleute auf schäbigste Weise selbst der Taten verdächtigt und beschuldigt. Obwohl es keine Beweise für kriminelle Aktivitäten der Opfer gab, haben sie nur in eine Richtung ermittelt und reichlich vorhandene Hinweise auf das rechtsradikale deutsche Umfeld missachtet. Die von allen Verantwortlichen geteilte Begründung lautete, aus der Tatsache, dass die Tötung von Menschen „in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt“ sei, könne man ableiten, dass der Täter „weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems“ stehen müsse. Auch spreche der die türkische Gruppe prägende Ehrenkodex eher für eine Gruppierung „im ost- bzw. südosteuropäischen Raum (nicht europäisch westlicher Hintergrund)“.
Der vollständige Artikel aus der Frankfurter Rundschau v. 22.04.2021 mit weiteren Verweisen hier:
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/diskussion-ueber-die-jerusalem-declaration-die-missgeschicke-des-bewusstseins-sind-vielfaeltig-90471074.html