In der us-amerikanischen Zeitschrift „Foreign Affairs“ werden seit dem Kalten Krieg die wichtigen geopolitischen Fragen vom außenpolitischen Establishment der USA erörtert. Deshalb: die Veröffentlichung dieses Artikels hat eine große Bedeutung für die künftige Diskussion in den USA. Wir übernehmen hier die deutsche Übersetzung von Infosperber.
In einem ungewohnten Schritt haben vier Professoren in «Foreign Affairs» gemeinsam dazu aufgerufen, die «Zwei-Staaten-Lösung aufzugeben» und die Konsequenzen aus der Ein-Staat-Realität zu ziehen. Die US-Regierung solle die Hilfe an den Staat Israel künftig davon abhängig machen, dass die apartheidähnliche Politik beendet werde. Jüdische Vorherrschaft über alle Palästinenser
Die Mitglieder der neuen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu haben ihre Ansichten klar dazu geäussert, was Israel ist und was es in allen von ihm kontrollierten Gebieten sein sollte: ein Gross-Israel, das nicht nur als jüdischer Staat definiert ist, sondern in dem die jüdische Vorherrschaft über alle Palästinenser, die dort verbleiben, gesetzlich verankert wird. Es ist seither nicht mehr möglich, die Ein-Staat-Realität zu leugnen.
Nicht erst die neue radikale israelische Regierung hat diese Ein-Staat-Realitätgeschaffen. Aber sie macht es jetzt unmöglich, die Ein-Staat-Realität zu leugnen. Die «Besetzung» der palästinensischen Gebiete ist zum Dauerzustand geworden in einem Staat, der von einer Gruppe von Menschen regiert wird, die über eine andere Gruppe von Menschen herrscht.
Das Versprechen einer Zwei-Staaten-Lösung machte in den Jahren um das Osloer Abkommen von 1993 als alternative Zukunft Sinn, als es sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite Kräfte für einen Kompromiss gab, und als greifbare, wenn auch flüchtige Fortschritte beim Aufbau der Institutionen eines hypothetischen palästinensischen Staates erzielt wurden.
Es ist an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, was eine Ein-Staat-Realität bedeutet:
- Palästina ist kein Staat im Wartezustand.
- Israel ist kein demokratischer Staat, der zufällig palästinensisches Gebiet besetzt hält.
Die Autoren
MICHAEL BARNETT ist Universitätsprofessor für internationale Beziehungen an der Elliott School of International Affairs der George Washington University.
NATHAN J. BROWN ist Professor für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der George Washington University und Nonresident Senior Fellow bei der Carnegie Endowment for International Peace.
MARC LYNCH ist Professor für Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der George Washington University.
SHIBLEY TELHAMI ist Professor für Frieden und Entwicklung an der University of Maryland und Nonresident Senior Fellow an der Brookings Institution.
Ein einziger Staat unter israelischer Herrschaft
Das gesamte Gebiet westlich des Jordans ist seit langem ein einziger Staat unter israelischer Herrschaft, in dem das Land und die Menschen radikal unterschiedlichen Rechtssystemen unterworfen sind, und in dem die Palästinenser dauerhaft als eine niedrigere Kaste behandelt werden. Politiker und Analysten, welche diese Ein-Staat-Realität ignorieren, verbreiten eine Fiktion, die es lediglich erlaubt, den Status quo zu erhalten.
Die Ein-Staat-Realität hat Konsequenzen. Die Welt wird sich weiter um die Rechte der Palästinenser kümmern, auch wenn dies vielen Unterstützern Israels (und arabischen Herrschern) nicht passt. Gewalt, Enteignung und Menschenrechtsverletzungen sind im letzten Jahr eskaliert, und das Risiko einer gross angelegten gewaltsamen Konfrontation wächst mit jedem Tag, an dem die Palästinenser in diesem sich ständig ausweitenden System der legalisierten Unterdrückung und den israelischen Übergriffen ausgeliefert sind.
Noch offen ist, wie die Akteure reagieren, wenn sich die Realität eines einzigen Staates von einem offenen Geheimnis zu einer unbestreitbaren Wahrheit entwickelt.
Auch für die US-Regierung […] wird es nicht mehr lange eine Option sein, die neue Realität zu ignorieren.
In Israel und Palästina braut sich ein Sturm zusammen, der eine dringende Reaktion der USA erfordert. Die USA haben die Entstehung eines einzigen Staates, der die jüdische Vorherrschaft aufrechterhält, am meisten gefördert. Wenn die USA eine tiefgreifende Instabilität im Nahen Osten und eine Herausforderung für ihre globale Agenda vermeiden wollen, müssen sie aufhören, Israel von den Normen und Strukturen der liberalen internationalen Ordnung auszunehmen, auf die sich Washington gerne beruft.
Die Realität heute
Eine Einstaatenregelung ist keine Zukunftsmusik. Sie existiert bereits, egal was irgendjemand denkt. Zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan kontrolliert ein Staat die Ein- und Ausreise von Menschen und Waren, überwacht die Sicherheit und ist in der Lage, seine Entscheidungen, Gesetze und Politiken Millionen von Menschen ohne deren Zustimmung aufzuerlegen.
Eine Ein-Staat-Realität könnte im Prinzip auf demokratischer Herrschaft und gleicher Staatsbürgerschaft beruhen. Doch eine solche Regelung ist derzeit nicht in Sicht. Zwischen seiner jüdischen Identität und einer liberalen Demokratie entschied sich Israel für Ersteres. Es hat sich in einem System jüdischer Vorherrschaft verfangen, in dem Nicht-Juden strukturell diskriminiert oder in einem abgestuften System ausgeschlossen werden: Ein kleiner Teil der Nicht-Juden hat die meisten, aber nicht alle Rechte, die Juden haben. Doch die meisten Nicht-Juden leben unter strenger Segregation, Trennung und Vorherrschaft.
In den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bot ein Friedensprozess die verlockende Möglichkeit, etwas zu ändern. Doch seit dem Gipfeltreffen von Camp David im Jahr 2000, bei dem die von den USA geführten Verhandlungen nicht zu einem Zweistaatenabkommen führten, dient der Begriff «Friedensprozess» vor allem dazu, von den Realitäten vor Ort abzulenken und eine Entschuldigung dafür zu liefern, diese Realitäten nicht anzuerkennen.
Die zweite Intifada, die kurz nach der Enttäuschung von Camp David ausbrach, und Israels anschliessendes Eindringen in das Westjordanland verwandelten die Palästinensische Autonomiebehörde in kaum mehr als einen Sicherheitslieferanten für Israel. Sie beschleunigten auch den Rechtsruck der israelischen Politik. Der Zuzug israelischer Bürger in das Westjordanland führte zu Bevölkerungsverschiebungen und zur geografischen Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft.
Die kumulative Wirkung dieser Veränderungen wurde während der Krise um die Aneignung palästinensischer Häuser in Ostjerusalem im Jahr 2021 deutlich, die nicht nur israelische Siedler und Palästinenser, sondern auch jüdische und palästinensische Bürger Israels in einem Konflikt gegeneinander aufbrachte, der Städte und Stadtteile spaltete.
Netanjahu: «Ein Staat nur des jüdischen Volkes»
Netanjahus neue Regierung, die sich aus einer Koalition rechtsgerichteter religiöser und nationalistischer Extremisten zusammensetzt, verkörpert diese Tendenzen. Ihre Mitglieder rühmen sich ihrer Mission, ein neues Israel nach ihrem Bild zu schaffen: weniger liberal, religiöser und eher bereit, die Diskriminierung von Nicht-Juden zu akzeptieren. Netanjahu hat geschrieben, dass «Israel kein Staat aller seiner Bürger» sei, sondern «des jüdischen Volkes – und nur dieses». Der Mann, den er zum Minister für nationale Sicherheit ernannt hat, Itamar Ben-Gvir, erklärte, dass der Gazastreifen «uns» gehören sollte und dass «die Palästinenser nach Saudi-Arabien oder an andere Orte wie den Irak oder den Iran auswandern können».
Diese extremistische Vision wird seit langem zumindest von einer Minderheit der Israelis geteilt und ist fest im zionistischen Denken und in der Praxis verwurzelt. Diese Vision gewann schon bald nach der Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel im Krieg von 1967 an Anhängern. Diese Vision hat heute eine Mehrheit der israelischen Gesellschaft und kann nicht mehr als Randposition bezeichnet werden.
Die Tatsache der Einstaatlichkeit ist seit langem offensichtlich. Doch bis vor kurzem wurde die Realität der Einstaatlichkeit von wichtigen Akteuren kaum anerkannt, und diejenigen, welche die Wahrheit laut aussprachen, wurden ignoriert. Mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ist das Unaussprechliche jedoch fast zur konventionellen Weisheit geworden.
Demokratie nur für Einige
Man kann nicht mehr zwischen den besetzten Gebieten und dem eigentlichen Israel unterscheiden – also dem Staat, wie er vor 1967 bestand, als Israel das Westjordanland und den Gazastreifen eroberte – und denken, dass Israels Souveränität auf das Gebiet beschränkt sei, das es vor 1967 kontrollierte.
Staat und Souveränität sind nicht dasselbe. Der Staat definiert sich durch das, was er kontrolliert, während die Souveränität davon abhängt, dass andere Staaten die Rechtmässigkeit dieser Kontrolle anerkennen.
Vom Mittelmeer bis zum Jordan sind die Bedingungen eines Staates erfüllt
Betrachten Sie Israel durch die Brille eines Staates. Israel besitzt die Kontrolle über ein Gebiet, das sich vom Jordan bis zum Meer erstreckt, besitzt nahezu das Gewaltmonopol und nutzt diese Macht, um eine drakonische Blockade des Gazastreifens aufrechtzuerhalten und das Westjordanland mit einem System von Kontrollpunkten, Polizeiaufsicht und unerbittlich expandierenden Siedlungen zu kontrollieren.
Selbst nach dem Abzug der Streitkräfte aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 behielt die israelische Regierung die Kontrolle über die Ein- und Ausreisepunkte des Gebiets. Wie Teile des Westjordanlands geniesst der Gazastreifen ein gewisses Mass an Autonomie. Seit dem kurzen palästinensischen Bürgerkrieg von 2007 wird das Gebiet intern von der islamistischen Organisation Hamas verwaltet, die wenig Widerspruch duldet. Die Hamas kontrolliert jedoch weder die Küstenlinie noch den Luftraum oder die Grenzen des Gebiets. Mit anderen Worten: Nach jeder vernünftigen Definition umfasst der israelische Staat alle Gebiete von der Grenze zu Jordanien bis zum Mittelmeer.
Die Leugnung der Souveränität erlaubt zweierlei Rechte
Die Kontrolle des Territoriums und die Konsolidierung der institutionellen Vorherrschaft, ohne die Souveränität zu formalisieren, erlaubt es Israel, eine Ein-Staat-Realität nach seinen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Es kann den meisten Palästinensern die Rechte absprechen, weil sie zwar auf seinem Territorium leben, aber keine Staatsbürger sind. Diese Diskriminierung begründet Israel zynisch damit, dass es die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung am Leben erhält.
Indem Israel seine Souveränität nicht formalisiert, kann es für seine Bürger demokratisch sein. Aber Israel bleibt für Millionen seiner Einwohner, die keine israelische Staatsbürgerschaft haben, nicht rechenschaftspflichtig. Diese Regelung hat es vielen Unterstützern Israels im Ausland ermöglicht, weiterhin so zu tun, als sei all dies nur vorübergehend – dass Israel eine liberale Demokratie bleibt und dass die Palästinenser eines Tages ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen könnten.
Doch selbst innerhalb der Grenzen von vor 1967 bedeutet in Israels Demokratie Staatsbürgerschaft nicht gleich Staatsbürgerschaft. Israels jüdische Identität und seine Ein-Staat-Realität führte zu unterschiedlichen Kategorien von Bürgern, denen differenzierte Rechte, Verantwortlichkeiten und Schutzmassnahmen zugewiesen sind.
Das israelische «Nationalstaatsgesetz» von 2018 definiert Israel als «Nationalstaat des jüdischen Volkes» und besagt, dass «die Ausübung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel nur dem jüdischen Volk vorbehalten ist». Von Demokratie oder Gleichberechtigung für nichtjüdische Bürger ist darin nicht die Rede.
Gemäss dieser Hierarchie der Zugehörigkeit ist die höchste Klasse der Staatsbürgerschaft israelischen Juden vorbehalten (zumindest denjenigen, deren Jüdischsein den rabbinischen Standards entspricht). Sie sind Bürger ohne Einschränkungen. Palästinenser, welche die israelische Staatsbürgerschaft besitzen und im Gebiet von vor 1967 wohnen, haben zwar politische und zivile Rechte, stossen aber auf rechtliche als auch aussergerichtliche Einschränkungen.
Palästinensische Einwohner Jerusalems ohne israelische Staatsbürgerschaft haben theoretisch die Möglichkeit, israelische Staatsbürger zu werden. Aber die meisten lehnen dies ab, weil es einen Akt der Illoyalität darstellen würde.
Palästinenser schliesslich, die in den besetzten Gebieten leben, sind die unterste Klasse von allen. Ihre Rechte und Pflichten hängen davon ab, wo sie leben, wobei die Palästinenser im Gazastreifen in der Hierarchie ganz unten stehen – eine Position, die sich seit der Machtübernahme durch die Hamas noch verschlechtert hat. Wenn man einen Palästinenser bittet, seinen rechtlichen Status zu beschreiben, kann die Antwort mehrere Minuten dauern – und ist immer noch voller Unklarheiten.
Ein grosser Teil der Menschen ist staatenlos
Solange die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung bestand, bei der die Rechte der Palästinenser anerkannt würden, konnte man die Situation innerhalb der israelischen Grenzen von 1967 als eine vorübergehende Situation betrachten. Aber wenn man die Ein-Staat-Realität anerkennt, wird etwas noch Schlimmeres deutlich. In diesem einen Staat gibt es Menschen, deren Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit, Personenstand, wirtschaftliche Aktivitäten, Eigentumsrechte und Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen stark eingeschränkt sind.
Ein beträchtlicher Teil der lebenslang in diesem Staat lebenden Menschen mit tiefen und dauerhaften Wurzeln im Staatsgebiet ist staatenlos geworden. Und all diese Kategorien und Abstufungen der Marginalisierung werden mit rechtlichen, politischen und sicherheitspolitischen Massnahmen durchgesetzt, die von staatlichen Akteuren auferlegt werden, die nur einem Teil der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig sind.
«Apartheidähnliche Ungleichheit»
Eine Reihe von Berichten israelischer und internationaler Nichtregierungsorganisationen, die diese Ungleichheiten dokumentieren, haben den Begriff «Apartheid» ins Zentrum gerückt. Der Begriff Apartheid bezieht sich auf das System der Rassentrennung, mit dem die weisse Minderheitsregierung Südafrikas von 1948 bis Anfang der 1990er Jahre die weisse Vorherrschaft festschrieb.
Die Apartheid wurde seither im internationalen Recht und vom Internationalen Strafgerichtshof als legalisiertes System der Rassentrennung und Diskriminierung definiert und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft.
Grosse Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch und Amnesty International, haben den Begriff auf Israel angewandt. Das Gleiche gilt für viele Akademiker: Laut einer im März 2022 durchgeführten Umfrage unter Wissenschaftlern, die sich mit dem Nahen Osten befassen und Mitglied in drei grossen akademischen Vereinigungen sind, bezeichneten 60 Prozent der Befragten die Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten als eine «Ein-Staat-Realität mit apartheidähnlicher Ungleichheit».
Der Begriff ist vielleicht nicht ganz zutreffend. Israels System der strukturellen Diskriminierung ist zwar schlimmer als das selbst der illiberalsten Staaten. Aber es basiert nicht auf der Rasse, wie die Apartheid in Südafrika definiert wurde und nach internationalem Recht definiert ist, sondern auf ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität und Religion. Vielleicht ist diese Unterscheidung für diejenigen von Bedeutung, die rechtliche Schritte gegen Israel einleiten wollen. Politisch ist sie jedoch weniger wichtig und für die Analyse praktisch bedeutungslos.
Politisch wichtig ist, dass ein einstmals tabuisierter Begriff zunehmend zu einem gängigen Verständnis der Realität geworden ist, das dem gesunden Menschenverstand entspricht. Analytisch gesehen geht es darum, dass die Bezeichnung Apartheid die Tatsachen vor Ort genau beschreibt.
Apartheid ist kein Zauberwort, das die Realität verändert, wenn man es benutzt. Aber sein Einzug in den politischen Mainstream zeigt, dass allgemein anerkannt wird, dass die israelische Herrschaft darauf abzielt, die jüdische Vorherrschaft auf dem gesamten von diesem Staat kontrollierten Gebiet aufrechtzuerhalten. Israels System mag technisch gesehen keine Apartheid sein, aber es reimt sich mit der Apartheid.
Ruhiges Erwachen
Es sind in erster Linie Israelis und Palästinenser, die sich mit der Realität der Einstaatlichkeit auseinandersetzen müssen. Aber diese Realität wird auch die Beziehungen Israels zum Rest der Welt verkomplizieren. Ein halbes Jahrhundert lang erlaubte der Friedensprozess den westlichen Demokratien, die israelische Besatzung zugunsten einer erstrebenswerten Zukunft [zweier Staaten] zu übersehen, in der die Besatzung in gegenseitigem Einvernehmen beendet werden würde.
Die israelische Demokratie (wie fehlerhaft sie auch immer sein mag) und die nominelle Unterscheidung zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten trugen ebenfalls dazu bei, dass Aussenstehende ihren Blick abwandten.
An diese Ablenkungen kann man sich nicht mehr haften. Die Ein-Staat-Realität ist seit langem verankert in der israelischen Gesetzgebung, in Politik und Gesellschaft, auch wenn sie erst jetzt als Tatsache langsam anerkannt wird.
Vielleicht wird die Anerkennung dieser Tatsachen nicht viel ändern. Viele dauerhafte globale Probleme werden nie gelöst. Wir leben in einer populistischen Welt, in der Demokratie und Menschenrechte bedroht sind. Israelische Politiker verweisen auf das Abraham-Abkommen, das Israels Beziehungen zu Bahrain, Marokko, dem Sudan und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) begründete, um zu argumentieren, dass die Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Staaten keine Lösung der palästinensischen Frage erforderte.
Die westlichen Staats- und Regierungschefs könnten ihrerseits weiterhin so tun, als ob Israel ihre liberalen demokratischen Werte teilt, während viele israelfreundliche Gruppen in den Vereinigten Staaten ihre Unterstützung verdoppeln. Liberale jüdische Amerikaner werden sich vielleicht schwertun, ein Israel zu verteidigen, das viele Merkmale der Apartheid aufweist, aber ihre Proteste werden wenig praktische Auswirkungen haben.
Dennoch gibt es Gründe für die Annahme, dass der Übergang von der angestrebten Zwei-Staaten-Welt zu einer realen Ein-Staaten-Welt steinig sein könnte. Die Verbreitung der Apartheid-Analogie und der Aufstieg der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung – und die heftigen Gegenreaktionen gegen beide – deuten darauf hin, dass sich das politische Terrain verschoben hat.
Kolonialistische Prinzipien in einer postkolonialen Welt
Israel mag mehr physische Sicherheit und regionale diplomatische Anerkennung geniessen als je zuvor, und seine Aktivitäten im Westjordanland unterliegen nur wenigen internationalen oder lokalen Beschränkungen. Doch Kontrolle erfordert mehr als rohe Gewalt. Israel hat immer noch die materielle Macht, die Kämpfe zu gewinnen, die es sich aussucht. Aber da diese Schlachten immer häufiger werden, untergräbt jeder Sieg seine Kampfposition weiter. Diejenigen, welche die heutige Ein-Staat-Realität verteidigen wollen, verteidigen kolonialistische Prinzipien in einer postkolonialen Welt.
In Zukunft werden die politischen Entscheidungsträger der USA wahrscheinlich nicht mit konventionellen Konflikten konfrontiert werden, wie sie 1967 und 1973 zwischen Israel und den arabischen Staaten ausbrachen. Stattdessen werden sie eher mit der ersten und zweiten Intifada konfrontiert sein – mit plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt und Massenprotesten wie im Mai 2021. Damals lösten Zusammenstösse in Jerusalem einen grösseren Flächenbrand aus, bei dem es zu Raketenbeschuss zwischen Israel und der Hamas, zu Demonstrationen und Gewalt im Westjordanland und zu hässlichen Zwischenfällen kam, bei denen sich Israelis jüdischer und palästinensischer Abstammung (und die israelische Polizei) so verhielten, als ob die ethnische Zugehörigkeit über der Staatsbürgerschaft stünde. Tägliche Gewalttaten und sporadische Volksaufstände – vielleicht sogar eine dritte Intifada – scheinen unvermeidlich.
Solidaritätsbewegungen und Boykotte
Politische Entscheidungsträger in den USA und anderswo, die an einer Zweistaatenlösung festhalten, sehen sich zunehmend gezwungen, auf Krisen zu reagieren, auf die sie nicht vorbereitet sind. Die Probleme, welche die Einstaatenlösung mit sich bringt, haben bereits neue Solidaritätsbewegungen, Boykotte und gesellschaftliche Konflikte ausgelöst.
Nichtregierungsorganisationen und politische Bewegungen, die verschiedene israelische und palästinensische Anliegen unterstützen, sowie länderübergreifende Lobbygruppen versuchen mit neuen und alten Medienkampagnen, globale Normen zu verändern und Einzelpersonen, Gesellschaften und Regierungen zu beeinflussen. Sie versuchen zunehmend, Waren, die an von der israelischen Regierung kontrollierten Orten hergestellt werden, zu kennzeichnen oder zu boykottieren (oder solche Boykotte zu verbieten) und sich auf Bürgerrechtsgesetze zu berufen, um ihre Anhänger zu mobilisieren und Alternativen zu den rücksichtslosen diplomatischen Bemühungen der Regierungsvertreter zu finden.
Diese Bewegungen und Kampagnen versuchen, Wählerschaften zu mobilisieren, die tief gespalten sind. Die Palästinenser sind gespalten in diejenigen, welche die israelische Staatsbürgerschaft besitzen, und diejenigen, die nur eine Aufenthaltsgenehmigung haben, sowie in diejenigen, die in Ost-Jerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen leben. Sie sind gespalten zwischen denen, die in der Ein-Staat-Realität leben, und denen, die in der Diaspora leben. Sie sind gespalten zwischen der Fatah-Partei, die im Westjordanland das Sagen hat, und der Hamas-Organisation, die den Gazastreifen kontrolliert. Sie sind auch zunehmend entlang der Generationsgrenzen gespalten. Jüngere Palästinenser fühlen sich den Bewegungen, die das politische Engagement und die Energie ihrer Eltern und Grosseltern kanalisierten, weniger verbunden und wenden sich eher neuen Gruppen und neuen Widerstandstaktiken zu.
Die israelischen Juden sind in ähnlicher Weise uneins über das Wesen des Staates, die Rolle der Religion in der Politik und eine Vielzahl anderer Fragen, einschliesslich der Rechte von Schwulen, Lesben und anderen sexuellen Minderheiten. Liberale israelische Juden haben massive Proteste gegen die Angriffe der Netanjahu-Regierung auf die Demokratie und die Justiz organisiert, aber sie haben sich weit weniger für die Palästinenserfrage mobilisiert, was zeigt, wie interne Meinungsverschiedenheiten Fragen über einen Friedensprozess verdrängt haben, der nicht mehr existiert.
Das Ergebnis ist, dass die Führer auf beiden Seiten keine Führung haben. In allen Lagern gibt es Politiker, die den Konflikt unter Kontrolle halten wollen, im Allgemeinen nicht im Dienste einer Lösungsstrategie, sondern aus einem Gefühl der Ineffizienz und Trägheit heraus.
Andere Politiker wollen das Gegenteil, wie es US-Präsident Donald Trump mit seinem «Deal des Jahrhunderts» tat, der ein Ende des Konflikts versprach, der die palästinensischen Rechte und nationalen Bestrebungen praktisch auslöschen sollte.
Juden, die auf eine formale Annexion der besetzten Gebiete drängen, und Palästinenser, die sich für neue Formen des Widerstands gegen die israelische Herrschaft einsetzen, hoffen ebenfalls, den Status quo zu verändern. Doch alle diese Bemühungen scheitern an den fest etablierten Macht- und Interessenstrukturen.
Unter diesen Bedingungen wird jede Diplomatie, die im Namen einer gerechten Lösung des Konflikts unternommen wird, wahrscheinlich scheitern, weil sie sowohl die möglichen Alternativen zur gegenwärtigen Sackgasse als auch den Willen aller Parteien, diese zu erreichen, falsch einschätzt. Politische Entscheidungsträger, die eine realistische Wahl treffen wollen, müssen sich auf das Einstaatensystem konzentrieren, wie es funktioniert und sich weiterentwickelt. Sie müssen verstehen, wie sich die verschiedenen Bewohner ihr Heimatland vorstellen, wie Rechte durchgesetzt oder verletzt werden und wie sich die demografischen Verhältnisse langsam, aber unheilvoll verändern.
Geister des arabischen Frühlings
Die Anerkennung der Ein-Staaten-Realität hat wichtige – und widersprüchliche – Auswirkungen auf die arabische Welt. Die saudische Friedensinitiative aus dem Jahr 2002, die eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und allen arabischen Staaten im Gegenzug für einen vollständigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten anbot, legte eine Grundlinie fest: Der Frieden mit der arabischen Welt würde eine Lösung der palästinensischen Frage erfordern.
Das Abraham-Abkommen, das von der Trump-Administration vermittelt und von der Biden-Administration enthusiastisch unterstützt wurde, zielte ausdrücklich auf diese Annahme ab, indem es die politische Normalisierung und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten beschleunigte, ohne aber Fortschritte in der Palästina-Frage zu verlangen.
Diese Abkopplung der arabischen Normalisierung von der palästinensischen Frage trug wesentlich dazu bei, die Ein-Staat-Realität zu festigen.
Bislang haben sich die Abraham-Abkommen als dauerhaft erwiesen und die Bildung der Regierung Netanjahu mit ihren extremistischen Ministern überstanden. Zumindest die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den VAE wird wahrscheinlich die nächste Runde israelisch-palästinensischer Gewalt und sogar offenkundige israelische Annexionsbestrebungen überdauern. Seit der Unterzeichnung des Abkommens haben sich jedoch keine weiteren arabischen Länder um eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel bemüht, und Saudi-Arabien hat sich weiterhin abgesichert, indem es mit der Aufnahme formeller Beziehungen zu Israel gewartet hat.
Ausserhalb der Golfstaaten wird die arabische Normalisierung wahrscheinlich auf unbestimmte Zeit an die palästinensische Frage geknüpft bleiben. Es ist nur allzu leicht, sich ein Szenario vorzustellen, in dem Israel mehr Eigentum in Jerusalem beschlagnahmt, breite palästinensische Proteste provoziert und dann auf diese Unruhen mit noch mehr Gewalt und schnellerer Enteignung reagiert – und schliesslich den endgültigen Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde auslöst. Eine solche Eskalation könnte leicht gross angelegte Proteste in der gesamten arabischen Welt auslösen, wo die seit langem herrschende wirtschaftliche Not und die politische Unterdrückung einen Brandherd geschaffen haben.
Es besteht auch die noch grössere Gefahr, dass Israel die Palästinenser aus dem Westjordanland oder sogar aus Jerusalem vertreibt – eine Möglichkeit, die manchmal euphemistisch als «Transfer» bezeichnet wird, der Umfragen zufolge von vielen israelischen Juden unterstützt würde. Ganz zu schweigen davon, wie die Hamas oder der Iran solche Bedingungen ausnutzen könnten.
Den arabischen Herrschern sind die Palästinenser vielleicht egal, aber ihrem Volk nicht – und diesen Herrschern geht es um nichts anderes als den Erhalt ihrer Throne. Es wäre riskant, die Palästinenser nach mehr als einem halben Jahrhundert zumindest rhetorischer Unterstützung vollständig aufzugeben. Die arabischen Führer fürchten nicht, Wahlen zu verlieren, aber sie erinnern sich nur zu gut an die arabischen Aufstände von 2011 und sind besorgt über alles, was zu Massenmobilisierungen einlädt, die schnell zu Protesten gegen ihre Regime mutieren könnten.
Vor härteren Auseinandersetzungen in den USA
Die Anerkennung der Ein-Staaten-Realität könnte auch die Diskussion über Israel und die Palästinenser in den USA polarisieren. Evangelikale und viele andere auf der politischen Rechten könnten diese Realität als die Verwirklichung dessen begrüssen, was sie als legitime israelische Bestrebungen ansehen. Viele Amerikaner, die links von der Mitte stehen, könnten endlich erkennen, dass Israel aus den Reihen der liberalen Demokratien herausgefallen ist, und könnten das phantasievolle Versprechen von zwei Staaten zugunsten des Ziels eines einzigen Staates aufgeben, der allen seinen Bewohnern gleiche Rechte gewährt.
Die USA tragen eine erhebliche Verantwortung für die Verfestigung der Ein-Staat-Realität und spielen weiterhin eine mächtige Rolle bei der Formulierung und Gestaltung der israelisch-palästinensischen Frage. Der israelische Siedlungsbau im Westjordanland hätte sich nicht beschleunigt, und die Besatzung wäre nicht von Dauer gewesen, wenn die USA nicht dafür gesorgt hätten, dass Israel vor Konsequenzen bei der UNO und anderen internationalen Organisationen verschont blieb. Ohne amerikanische Technologie und Waffen wäre Israel wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, seinen militärischen Vorsprung in der Region aufrechtzuerhalten, der es ihm auch ermöglichte, seine Position in den besetzten Gebieten zu festigen.
Und ohne die grossen diplomatischen Anstrengungen und Ressourcen der USA hätte Israel keine Friedensabkommen mit arabischen Staaten schliessen können, von Camp David bis zu den Abraham-Verträgen. Die amerikanische Diskussion über Israel und die Palästinenser hat jedoch absichtlich vernachlässigt, dass und wie Washington der Besetzung Vorschub leistete.
Die Unterstützung des Friedensprozesses durch die USA wurde sowohl mit Blick auf die Sicherheit Israels als auch damit begründet, dass nur eine Zweistaatenlösung Israel als jüdisches und demokratisches Land erhalten könne. Diese beiden Ziele standen schon immer in einem Spannungsverhältnis.
Doch die Einstaatenlösung macht diese Ziele unvereinbar.
In der amerikanischen Öffentlichkeit ging die Unterstützung für eine Zweistaatenlösung ist zurück, während die Unterstützung für einen einzigen Staat, der gleiche Bürgerrechte gewährleistet, ist in den letzten Jahren stieg. Umfragen zeigen, dass die meisten amerikanischen Wähler ein demokratisches Israel einem jüdischen vorziehen würden, wenn sie vor die Wahl gestellt würden.
Die Ansichten über Israel sind auch viel parteiischer geworden, wobei die Republikaner, insbesondere die Evangelikalen, die israelische Politik immer mehr unterstützen und die überwältigende Mehrheit der Demokraten eine ausgewogene US-Politik vorzieht. Junge Demokraten sprechen sich jetzt mehr für die Palästinenser als für Israel aus. Ein Grund für diese Verschiebung, vor allem unter jungen Demokraten, ist, dass die israelisch-palästinensische Frage zunehmend als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und weniger als strategisches Interesse oder biblische Prophezeiung angesehen wird. Dies gilt insbesondere in der Ära von Black Lives Matter.
Die Ein-Staat-Realität hat vor allem die Politik der jüdischen Amerikaner aufgewühlt. Seit den frühesten Jahren des Zionismus hielten die meisten jüdischen Amerikaner, die Israel unterstützen, den Wunsch für unantastbar, dass Israel gleichzeitig jüdisch und liberal sein solle. Netanjahus jüngste Regierung könnte für diese Gruppe die Sollbruchstelle sein. Es ist schwierig, ein Bekenntnis zum Liberalismus mit der Unterstützung eines einzigen Staates in Einklang zu bringen, der Juden die Vorteile der Demokratie bietet (und nun einige davon mit Füssen zu treten scheint), sie aber der Mehrheit seiner nicht-jüdischen Einwohner ausdrücklich vorenthält.
Die meisten jüdischen Amerikaner sehen grundlegende liberale Prinzipien wie Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht nur als jüdische Werte, sondern auch als Bollwerke gegen Diskriminierung, die ihre Akzeptanz und sogar ihr Überleben in den Vereinigten Staaten sichern. Doch Israels Engagement für den Liberalismus stand schon immer auf wackligen Beinen. Als jüdischer Staat fördert es eher eine Form von ethnischem Nationalismus als einen staatsbürgerlichen. Und seine orthodoxen jüdischen Bürger spielen eine wichtige Rolle bei der Bestimmung, wie das Judentum das israelische Leben prägt.
Leere Erklärungen ermuntern Extremisten
Bislang hat die Regierung Biden versucht, den Status quo aufrechtzuerhalten und Israel zu drängen, grössere Provokationen zu vermeiden. Als Reaktion auf den fortgesetzten Siedlungsbau im Westjordanland und andere israelische Verstösse gegen das Völkerrecht haben die Vereinigten Staaten leere Erklärungen abgegeben, in denen sie Israel aufforderten, Massnahmen zu vermeiden, die eine Zwei-Staaten-Lösung untergraben. Doch dieser Ansatz verkennt das Problem und macht es nur noch schlimmer: Netanjahus rechtsextreme Regierung ist ein Symptom, nicht die Ursache der Einstaatenlösung, und sie zu verhätscheln, um sie zur Mässigung zu bewegen, wird ihre extremistischen Führer nur ermutigen, indem es ihnen zeigt, dass sie keinen Preis für ihr Handeln zahlen.
Die USA könnten stattdessen einer radikalisierten Realität mit einer radikalen Antwort begegnen. Zunächst einmal sollte Washington die Begriffe «Zweistaatenlösung» und «Friedensprozess» aus seinem Wortschatz verbannen. Die Aufforderungen der USA an Israelis und Palästinenser, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, beruhen auf magischem Denken. Ein anderes Wording der USA über die israelisch-palästinensische Frage wird an der Realität nichts ändern, aber sie wird eine Fassade abbauen, die es den US-Politikern ermöglicht hat, der Realität nicht ins Gesicht zu sehen.
Washington muss Israel so sehen, wie es ist, und nicht so, wie man es ihm unterstellt hat, und entsprechend handeln. Israel gibt nicht einmal mehr vor, liberale Bestrebungen zu hegen. Die USA haben keine «gemeinsamen Werte» und sollten keine «unverbrüchlichen Bande» mit einem Staat knüpfen, der Millionen seiner Einwohner aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Religion diskriminiert oder missbraucht.
Eine bessere US-Politik würde sich für Gleichheit, Staatsbürgerschaft und Menschenrechte für alle Juden und Palästinenser einsetzen, die in dem von Israel dominierten Einzelstaat leben. Theoretisch würde eine solche Politik nicht verhindern, dass eine Zweistaatenlösung wiederbelebt wird, falls sich die Parteien in ferner Zukunft in diese Richtung bewegen sollten.
Aber wenn man von einer Einstaatenlösung ausgeht, die moralisch verwerflich und strategisch kostspielig ist, müsste man sich sofort auf gleiche Menschen- und Bürgerrechte konzentrieren. Eine ernsthafte Ablehnung der heutigen ungerechten Realität durch die USA und die übrige internationale Gemeinschaft könnte auch die Parteien selbst dazu veranlassen, ernsthaft über alternative Zukunftsperspektiven nachzudenken. Die USA sollten jetzt Gleichberechtigung fordern, auch wenn die endgültige politische Regelung von den Palästinensern und den Israelis selbst bestimmt werden muss.
Zu diesem Zweck sollte Washington damit beginnen, die militärische und wirtschaftliche Hilfe für Israel an klare und spezifische Massnahmen zur Beendigung der israelischen Militärherrschaft über die Palästinenser zu knüpfen. Der Verzicht auf eine solche Konditionalität hat Washington zu einem Komplizen der Ein-Staat-Realität gemacht.
Sollte Israel auf seinem derzeitigen Weg beharren, sollten die USA eine drastische Kürzung der Hilfe und anderer Privilegien in Erwägung ziehen, vielleicht sogar intelligente, gezielte Sanktionen gegen Israel und die israelische Führung als Reaktion auf eindeutige Übertretungen verhängen. Israel kann selbst entscheiden, was es tun will, aber die USA und andere Demokratien können dafür sorgen, dass es die Kosten für die Aufrechterhaltung und sogar Verschärfung einer zutiefst illiberalen, diskriminierenden Ordnung kennt.
Die klarste globale Vision, die von der Regierung Biden artikuliert wurde, war ihre lautstarke Verteidigung internationaler Gesetze und Normen als Reaktion auf Russlands Invasion in der Ukraine. Selbst wenn man die Ein-Staaten-Realität ausser Acht lässt, stünden in Israel und Palästina sicherlich dieselben Normen und Werte auf dem Spiel, wie es im globalen Süden weithin verstanden wird.
USA sollen Israel nicht mehr schonen
Wenn Israel gegen internationales Recht und liberale Normen verstösst, sollten die USA Israel für diese Verstösse anprangern, wie sie es mit jedem anderen Staat tun würden. Washington muss aufhören, Israel in internationalen Organisationen zu schützen, wenn es mit berechtigten Vorwürfen von Verstössen gegen das Völkerrecht konfrontiert wird. Und es muss davon absehen, sein Veto gegen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats einzulegen, die darauf abzielen, Israel zur Rechenschaft zu ziehen, es muss aufhören, sich den palästinensischen Bemühungen um Wiedergutmachung vor internationalen Gerichten zu widersetzen, und es muss andere Länder dazu bringen, ein Ende der Belagerung des Gazastreifens zu fordern – eine weitere vermeintlich vorübergehende Massnahme, die zu einer grausamen und institutionalisierten Realität geworden ist.
Doch die Ein-Staat-Realität verlangt nach mehr. Durch dieses Prisma betrachtet, gleicht Israel einem Apartheidstaat. Anstatt Israel von der strengen Norm gegen Apartheid, die im internationalen Recht verankert ist, auszunehmen, muss Washington mit der Realität rechnen, die es mit geschaffen hat, und damit beginnen, diese Realität zu betrachten, über sie zu sprechen und ehrlich mit ihr umzugehen.
Die Vereinigten Staaten sollten sich für internationale, israelische und palästinensische Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen und einzelne Aktivisten einsetzen, die dämonisiert wurden, weil sie mutig auf strukturelle Ungerechtigkeit hingewiesen haben. Washington muss die israelischen zivilgesellschaftlichen Organisationen schützen, die der letzte Hort liberaler Werte im Land sind, sowie die palästinensischen Organisationen, deren Bemühungen entscheidend sein werden, um einen blutigen Konflikt in den kommenden Monaten zu vermeiden.
Die Vereinigten Staaten sollten sich auch den israelischen Verhaftungen palästinensischer Führer widersetzen, die eine gewaltfreie Vision des Volkswiderstands anbieten. Und sie sollten nicht versuchen, diejenigen zu stoppen oder zu bestrafen, die sich für einen friedlichen Boykott Israels wegen seiner missbräuchlichen Politik entscheiden.
Obwohl Washington eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn nicht verhindern kann, sollten die USA nicht die Führung bei solchen Bemühungen übernehmen. Niemand sollte sich von der Illusion täuschen lassen, dass das Abraham-Abkommen gedeiht, während die Palästinenserfrage weiter schwelt. Das Abkoppeln solcher Normalisierungsabkommen von Israels Behandlung der Palästinenser hat nur die israelische extreme Rechte gestärkt und die jüdische Vorherrschaft innerhalb des Staates zementiert.
Diese Änderungen der US-Politik würden nicht sofort Früchte tragen. Die politische Gegenreaktion wäre heftig, auch wenn die Amerikaner – insbesondere die Demokraten – Israel weitaus kritischer gegenüberstehen als die Politiker, die sie wählen. Langfristig gesehen bieten diese Veränderungen jedoch die beste Hoffnung auf ein friedlicheres und gerechteres Ergebnis in Israel und Palästina. Indem sie sich endlich der Realität der Einstaatlichkeit stellen und einen prinzipiellen Standpunkt einnehmen, würden die Vereinigten Staaten aufhören, Teil des Problems zu sein, und beginnen, Teil der Lösung zu sein.