Die deutsch-israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl analysiert in ihrem neuen Buch den „Siegeszug des Neozionismus“. Ihr Vortrag mit anschließender Diskussion am 25. April um 19 Uhr im Gemeindezentrum Zion wird mit Sicherheit auf ein großes Interesse stoßen. Arn Strohmeyer hat ihr Buch vorab besprochen.
Netanjahus Israel: nationalistisch, messianisch, rassistisch und konfrontativ
Arn Strohmeyer
Während deutsche Publizisten zumeist noch ratlos herumspekulieren, wie es denn zu der abrupten und „demokratie-feindlichen“ Wende in Israel kommen konnte, zeigt die deutsch-israelische Historikerin Tamar Amar Dahl in ihrem neuen Buch Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium exakt den Weg auf, wie dieser Staat so in die Nähe eines faschistischen und theokratischen Abgrunds geraten konnte. Ihre Ausführungen kann man entnehmen, dass die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ nicht zufällig auf plötzliche Abwege geraten ist, sondern dass sich die jetzige gefährliche Situation sehr konsequent aus der Geschichte Israels in den letzten Jahren ergibt.
Tamar-Amar-Dahl verfolgt diesen Weg, das heißt die Entstehung des Neozionismus, der heute Israels Politik bestimmt, von der ersten Intifada 1987 bis in die Gegenwart. Sie nennt dabei furchtbare Details der israelischen Besatzungspolitik, die der normale Medienkonsument in Deutschland nie erfahren hat: etwa die Strategie der gezielten Tötungen von palästinensischen Führungspersonen. Um einen Angehörigen dieses Volkes mit den Mitteln modernster Technik auszuschalten, reichte und reicht der Verdacht, dass die ins Fadenkreuz geratene Person etwas mit „Terrorismus“ (was Israel darunter versteht) zu tun hat.
Diese Art der Hinrichtung wird mit dem Recht auf Selbstverteidigung („Gezielte Prävention“) begründet, um das Leben israelischer Zivilisten und Armeeangehöriger zu schützen nach dem Motto: „Wenn Dich jemand töten will, so komme ihm zuvor und töte ihn!“ Aber wie will man wissen, ob jemand eine Tötungsabsicht hat oder nicht? So handelt es sich bei diesem Vorgehen auch nicht in erster Line um Akte der Verteidigung, sondern die Politik der gezielten Tötungen ist ein politisches Instrument, mit dem Israel versucht, die Kontrolle über die besetzten Gebiete abzusichern.
Sehr erfolgreich war diese Strategie offenbar nicht, denn der israelische Sicherheitsexperte Ronen Bergman zieht folgende Bilanz: „Auch keine der anderen von Israel durchgeführten Tötungen und aggressiven Militäroperationen hatte in Wahrheit zu irgendetwas geführt, außer zum Tod von 454 Palästinensern, zur Verwundung tausender anderer und zur Verlängerung eines blutigen und asymmetrischen Konflikts, der zu weiteren Toten auf israelischer Seite führte.“
Aber es geht der Autorin natürlich nicht darum, nur die Untaten des israelischen Militärs aufzuzeigen, die so gut wie alle Verletzungen von Völkerrecht und Menschenrechten sind. Diese Verbrechen stehen im Zusammenhang mit der zweiten Intifada in den Jahren 2000 bis 2005 – des zweiten palästinensischen Aufstandes gegen die israelische Besatzung. In diese Phase fällt auch das Umdenken der israelischen Politik, dessen Folgen bis zum Sieg des Neozionismus führen, der heute in Israel die bestimmende politische Bewegung ist.
Der zionistische Staat geriet nach dem Jahr 2000 in eine tiefe Sinnkrise. Der linke Zionismus, der vor allem von der Arbeitspartei geprägt war, hatte in den 1990er Jahren mit den Oslo-Verträgen den zaghaften und sehr unvollständigen Versuch einer Friedenslösung gemacht. Aber dieser Versuch war nicht zuletzt wegen seiner Unvollständigkeit gescheitert, denn er hatte keine wirkliche Antwort auf die „ur-zionistische Palästina-Frage“ gebracht (so die Autorin), eben des Problems des Territoriums und der palästinensischen Selbstbestimmung. Für die Palästinenser war Oslo ein totaler Misserfolg gewesen: Israel baute weiter seine Siedlungen auf ihrem Land, was die Hoffnung auf eine palästinensische Staatsbildung zunichtemachte. Auch der Lebensstandard der Palästinenser hatte sich nicht verbessert, und ihre Bewegungsfreiheit blieb weiter eingeschränkt. Und in Ramallah saß eine palästinensische Führung (erst Jassir Arafat, dann Mahmud Abbas), die wenig Macht besaß und obendrein noch Hilfsdienste für Israels Sicherheit leisten musste. Die Enttäuschung über diese Entwicklung war der Anlass zur zweiten Intifada.
Endgültig hatte der israelische Regierungschef Ehud Barak jede Hoffnung auf Frieden beseitigt, als er bei den Verhandlungen in Camp David im Jahr 2000 Arafat einen Diktatfrieden aufnötigen wollte, den dieser aber ablehnte, ablehnen musste, wenn er vor seinem Volk noch bestehen wollte. Denn die Bedingungen für diesen Frieden gingen über die Schaffung eines besseren Bantustans nicht hinaus. Barak formulierte seine Sicht der Dinge nach Camp David, die zum neuen israelischen Narrativ wurde, aber ganz anders: „Israel hat keinen Partner für den Frieden.“ Und: „Wir haben Frieden angeboten, aber sie haben mit der Intifada reagiert“ – eben mit Gewalt.
In Wirklichkeit nutzte Barak in Camp David die schwache Position der Palästinenser geschickt aus, um vom eigenen Scheitern abzulenken und gleichzeitig den in Israel ohnehin nicht durchsetzbaren Friedensprozess zu beenden. Mit anderen Worten: Baraks Manöver verfolgte nur die Absicht, Israel von Oslo zu befreien. Der israelische Politologe Itzhak Laor kommentierte die Situation so: „Die Dummheit siegte: Der einzige Palästinenser, der zum Kompromiss führen konnte [Arafat], wurde mit Hilfe des Linkszionismus als Satan dargestellt. Der Linkszionismus hat sich selbst aufgelöst, schließlich vergraben.“
Baraks Verlautbarung war also ein Eigentor und trug nicht nur dazu bei, dem Linkszionismus, der Oslo getragen hatte, den Todesstoß zu versetzen, sondern bewirkte auch, das Land in eine tiefe Sinnkrise zu stürzen und Krieg als den einzigen Ausweg erscheinen zu lassen. Die Wiederkehr der „alten Ordnung“ (vor Oslo) stand nun auf der politischen Agenda und die militärisch verstandene Sicherheitsfrage, die längst zu einer Ideologie aufgewertet war, rückte wieder in den Vordergrund.
Was bedeutete: Die israelische Führung unter dem neuen Regierungschef Ariel Sharon entschied sich, das Besatzungssystem nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern es noch auszubauen und zu verfestigen. Die Folge war die brutale Niederschlagung der Intifada, für Israel war dieser Aufstand gegen die Besatzung blanker „Terrorismus“. Entsprechend wurden die Palästinenser dämonisiert: Sie wollten Israel vernichten und seine Menschen ins Meer treiben, hieß es. Mit ihrer gnadenlosen Gewalt bezweckten die Zionisten, Vergeltung zu üben, Abschreckung zu demonstrieren und ihre Vormacht zu beweisen. Wobei ein Kampfmittel die schon erwähnten Liquidierungen waren.
Als Ergebnis des gescheiterten Oslo-Prozesses, der sich daraus ergebenden Sinnkrise und des fast völligen Verschwindens des Linkszionismus von der politischen Bühne gewannen die Rechtszionisten die politische Vorherrschaft und schickten sich an, die in die Krise geratene Staatsideologie zu erneuern. Um nur formelhaft die ideologischen Gegensätze beider Richtungen zu beschreiben: während die Linkszionisten einen eher säkularen, liberalen und an westlichen Demokratien orientierten jüdischen Staat anstrebten, setzten die Rechtszionisten mehr auf einen konservativen, chauvinistisch-jüdischen Patriotismus. Der sich hier entwickelnde Neozionismus strebte vor allem danach, den Anspruch des jüdischen Volkes auf Eretz Israel [Großisrael – das Land vom Jordan bis zum Meer] zu verfestigen. Und er zielte darauf ab, die allein bestimmende Kraft in Politik, Gesellschaft und Kultur zu werden.
Wenn zwischenzeitlich auch von Post-Zionismus die Rede gewesen war, dann hatte das mit der „Friedensphase“ von Oslo zu tun, er wurde von den Neozionisten aber schlichtweg als „Verrat“ angesehen, denn die Vorsilbe Post- ist für sie gleichbedeutend mit dem Abschied von dem dem Zionismus innewohnenden Anspruch auf das ganze Territorium Palästinas.
Der israelische Politologe Amal Jamal definiert den Neozionismus folgendermaßen: „Die Neozionisten versuchen, die Rechtfertigung des Zionismus, die Identität des jüdischen Staates, die Bedeutung der jüdischen Souveränität und die Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel neu zu definieren. (…) Die neozionistische Bewegung ist unverblümt und radikal. Sie ist nationalistisch, messianisch, rassistisch und konfrontativ.“
Es ist für Außenstehende nicht ganz leicht, die diffizilen Unterschiede zwischen den Hauptströmungen des Zionismus zu verstehen, weil es zwischen ihnen auch viele Überschneidungen und Parallelen gibt. So sind zum Beispiel Links- und Neozionisten demselben politischen Ziel des Siedlerkolonialismus verpflichtet – eben der jüdischen Besiedlung des Landes, die durchaus dem vermeintlichen westlich-liberalen und universalistischem Anspruch der Linkszionisten widerspricht, denn gerade Regierungen der Arbeitspartei hatten die Besiedlung des Westjordanlandes Jahrzehnte lang unterstützt. Die Differenzen zwischen den zionistischen Richtungen traten aber völlig in den Hintergrund, weil der Vormarsch der Neozionisten nicht mehr aufzuhalten war. Er ging so weit, dass es ihnen gelang, die politische Opposition in Israel fast vollständig zu beseitigen. Israel ist heute ein Staat ohne Opposition.
Dazu gelang es dem Neozionismus, der ganz wesentlich von der Person Benjamin Netanjahus geprägt ist, die Palästina-Frage, also das Problem des Territoriums, völlig aus der öffentlichen Diskussion zu entfernen. Die Okkupation und die Siedlungen sind keine Gegenstände der öffentlichen Debatte mehr. Anders ausgedrückt: Die Palästina-Frage wurde als nicht mehr offen angesehen und so vollständig entpolitisiert. Diese Position wurde in Israel zum breiten Konsens. Damit wird in Wirklichkeit aber der Kern des Konflikts – die Diskrepanz zwischen dem zionistischen Anspruch auf das Land und der binationalen Geographie und Demographie im Land – natürlich nicht gelöst, sondern nur verdrängt.
Die Autorin stellt an dieser Stelle die These auf, dass dieser hadernde israelische Diskurs um das zionistische Staatsverständnis ein Ausdruck der immer unwahrscheinlicher erscheinenden politischen Lösung der ur-zionistischen Palästina-Frage ist. Der Neozionismus will sein Projekt – die Inbesitznahme des ganzen Landes – mit reiner machtorientierter Einseitigkeitspolitik durchsetzen. Um das zu erreichen, brachten die Neozionisten einige wichtige Gesetze durch die Knesset, die die bestehende Spannung zwischen nicht-jüdischer Minderheit und dem Staat in ihrem Sinne lösen sollen. Diese Gesetze drängen die palästinensischen Staatsbürger Israels an den Rand der Gesellschaft.
Zu nennen ist hier vor allem das im Juli 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz. Die entscheidenden Paragraphen sind:
1. Das Land Israel ist das historische Heimatland des jüdischen Volkes, in dem der Staat Israel gegründet wurde.
2. Der Staat Israel ist die nationale Heimat des jüdischen Volkes, in der es sein natürliches, kulturelles, religiöses und historisches Recht auf Selbstbestimmung wahrnimmt.
3. Das Recht auf Ausübung der nationalen Selbstbestimmung im Staat Israel ist ein einzigartiges Recht des jüdischen Volkes.
Aus diesem Text geht klar hervor: das Staatssubjekt in Israel sind nur die Juden, nur sie kommen in den Genuss der Nationalstaatlichkeit – und zwar im gesamten Land zwischen Mittelmeer und Jordan. Damit ist deutlich ausgesprochen, dass die Neozionisten ganz Palästina beanspruchen und jede andere Lösung – sei es die Zwei- oder Einstaatlichkeit – ablehnen. Kompromisse im Konflikt mit den Palästinensern kommen also nicht in Frage, die Palästina-Frage ist für die Neozionisten kein Thema mehr. Damit wird aber auch das Problem der Gleichheit und Demokratie ganz einseitig im Sinne der Ausschließlichkeit nur für Juden gelöst. Die „Gefahr“ eines Staates aller seiner Bürger war mit diesem Gesetz vom Tisch.
Entsprechend waren auch die Reaktionen im „linken“ Lager, also bei den Linkszionisten oder in den Medien. Die Linke argumentierte, dass die Neozionisten das Gesetz aus Angst vor einer nicht-jüdischen Mehrheit im Land gemacht hätten; es würde darin auf die Gleichberechtigung aller Bürger verzichtet, was das Ende eines jüdischen und demokratischen Israel bedeuten und die Basis für einen Apartheidstaat legen würde. Vorrang habe nun die Judaisierung des ganzen Landes. Der prominente israelische Schriftsteller David Grossmann merkte an: Mit dem Gesetz würde ein Fünftel der israelischen Staatsbürger [der zwei Millionen in Israel lebenden Palästinenser] der Boden unter den Füßen weggezogen, die Palästinenser in Israel seien nun nur noch Bürger auf Abruf, sie seien jetzt zu einem Leben in permanenter Unsicherheit verurteilt. Neonazistische Politiker sprechen heute auch schon wieder ganz offen von einer neuen Vertreibung, also einer Fortsetzung der Nakba.
Der palästinensische Autor Mazouk Al-Halabi urteilte: „Die Urheber des Gesetzes beabsichtigen, der binationalen Demographie zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan eine juristisch-politische Gerichtsbarkeit aufzuzwingen. Die binationale Gefahr sollte rechtzeitig neutralisiert werden. Auf dem Weg dahin mussten sie [die Neozionisten] einen Premierminister ermorden [Rabin], Angst und Schrecken im Lande schüren, Gewalt und Sanktionen gegen ihre [politischen] Rivalen ausüben, bis sie allmählich diese niederträchtige Politik salonfähig machten: eine Politik ohne Moral, ohne Erbarmen und ohne Scham. Die Folge ist ein waghalsiger, unbekümmerter Nationalismus.“
Der Neozionismus kann das Nationalstaatsgesetz aber zunächst als großen Erfolg verbuchen, ob auf Dauer ist eine andere Frage. Die Neozionisten sehen die jüdische Vorherrschaft zwischen Jordan und Mittelmeer jetzt als gesichert an. Anders gesagt bedeutet das, dass das Besatzungssystem und der Konfliktzustand befestigt und in den zionistischen Staat integriert wurden. Es bleiben aber trotz dieses Gesetzes für die Autorin zwei Fragen ungelöst und zwar für beide Richtungen des Zionismus: „Erstens, wie gedenkt das zionistische Israel mit der binationalen Demographie im Lande umzugehen? Und eng verbunden damit ist die zweite kardinale Frage, wie es als regionale Macht mit dem hundertjährigen Konflikt zwischen zwei Nationalbewegungen weiter umgehen will. Zwar stehen beide Seiten in eklatant asymmetrischen Verhältnissen zueinander, doch beide Völker sind gezwungen, in einem kleinen Land zusammenzuleben. Eine militärische Entscheidung ist jedenfalls nicht erzielbar.“
Das Oberste Gericht in Israel hat alle Anträge gegen das Nationalstaatsgesetz abgelehnt. Damit ist der Weg dafür frei, dass dieses Gesetz Verfassungsrang bekommt. Dass das Gesetz in krassem Widerspruch zur Unabhängigkeitserklärung von 1948 steht, die allen Bewohnern des Landes gleiche Rechte zusichert, spielt für die neozionistische Argumentation keine Rolle, denn die arabischen Staatsbürger Israels werden in dem Gesetz vollständig ignoriert.
Wie war eine solche Entwicklung möglich? Die Autorin macht einmal die politische Sinnkrise nach dem Scheitern von Oslo und zum anderen Israels strukturimmanente krisenhafte politische Ordnung für das Aufkommen des Neozionismus verantwortlich. Letztere habe den Nährboden für einen skrupellosen „starken Führer“ bereitet: Benjamin Netanjahu. Er hat es verstanden, die alte politische Elite zu entmachten, die Gräben in der israelischen Gesellschaft weiter aufzureißen, die Spannungen zwischen den verschiedenen rivalisierenden politischen Gruppen zu verschärfen und sich in der Sackgasse, in die er das Land selbst geführt hat, als „Retter“ aufzuspielen. Je krisenhafter die Situation für Israel wurde, desto mehr profitierte Netanjahu davon, desto mehr konnte er seine Macht festigen. Yitzhak Laor hat Netanjahus Aufstieg so beschrieben: Netanjahu werde umso stärker, je mehr die israelische Gesellschaft versinke. Dies tue sie, weil sie die Gräuel der Besatzung immer stärker verdränge und ihn als Mann benötigte, der sich für sie der Palästinenser entledigte.
Netanjahu gelang es, die Randgruppen der israelischen Gesellschaft – die Nationalreligiösen, die Orthodoxen (Ashkenazi oder Mizrahi – die arabischen Juden) und die russischen Immigranten zur politisch dominanten „israelischen Rechten“ zusammenzuschweißen. Sie sahen in ihm den „richtigen Mann“ für den Rachefeldzug gegen das bisherige politische Establishment. Die Rache besteht darin, gegen den säkularen Staat, von dem sich diese Gruppen vernachlässigt fühlten, gegen die Friedenspolitik und das säkular-weltliche Oberste Gericht vorzugehen.
Die Autorin sieht Netanjahus größten Erfolg und seinen „historischen Beitrag zum Neozionismus“ (aus neozionistischer Sicht verstanden) in der vollständigen Entfernung der ur-zionistischen territorialen Frage aus dem politischen Alltag. Dass er dies nur mit äußerster Skrupellosigkeit erreichte – Hetze, Dämonisierung seiner politischen Gegner und der Instrumentalisierung des Holocaust – darf nicht verschwiegen werden, ändert aber nichts an seinem Sieg.
Die Autorin äußert sich sehr vorsichtig in Bezug auf die Zukunft des neozionistischen Israel. Sie lässt am Ende ihres Buches den Netanjahu-Biographen Anshel Pfeffer Bilanz ziehen und einen Blick auf das Kommende werfen: „Die Zeit seines [Netanjahus] Israel läuft ab. Die Besetzung einer anderen Nation untergräbt die israelische Demokratie und die Menschenrechte in einem alarmierenden Tempo. Netanjahu hat keinerlei Pläne, um dieser Erosion entgegenzuwirken, außer mit dem Schüren von Rassismus und Angst, (…) denn er lässt sich nur von einem düsteren Blick auf die jüdische Geschichte inspirieren. Es gibt nichts zwischen dem unmittelbaren Überleben und der jahrhundertelangen Bedrohung.“
Viel deutlicher hatte sich da schon vor Jahren (2014) der Israeli Moshe Zuckermann geäußert, als es die jetzt regierende rechtsradikale und ultrareligiöse Regierung noch gar nicht gab. Für ihn stand Israel damals schon vor der historischen Entscheidung zwischen der Zwei-Staatenlösung (also eines palästinensischen Staates an der Seite Israels) oder der Errichtung eines binationalen Staates (mit Juden und Palästinensern als gleichberechtigten Bürgern). Sollte es zu keiner dieser beiden Lösungen kommen, würden die Juden eine Minorität im eigenen Land bilden und Israel würde dann endgültig ein Apartheidstaat im vollen Sinne des Wortes. Das wäre dann aber das Ende des zionistischen Projekts. Denn Juden würden niemals mit Palästinensern in einem Staat leben wollen, aber in dem dann entstandenen Apartheidstaat würde es sich auch nicht mehr um einen Staat allein der Juden handeln.
Für Zuckermann ist die entscheidende Frage: „Wie lässt es sich also erklären, dass Israels offizielle Politik der letzten Jahrzehnte strukturell einen Weg beschreitet, der nicht anders enden kann als mit dem historischen Ende des zionistischen Staates?“ Die Antwort sieht Zuckermann in der Unfähigkeit der Zionisten, den offenen Widerspruch zwischen den entstehenden realen [demographischen] Strukturen im Land und der offiziellen Politik der israelischen Regierungen der letzten Dekaden (und auch des zionistischen Ideals bzw. seiner Utopie) zu beheben. Alle israelischen Regierungen hätten die Realität verdrängt und sich in diverse Erklärungen, Apologien und Ausreden geflüchtet, die alle die Absicht verfolgt hätten, den parteilichen Macht- und Herrschaftserhalt, den stagnierenden Staus quo und das Dogma der Alternativlosigkeit zu garantieren.
Der zurzeit in Israel herrschende Neozionismus, kann man aus Zuckermanns Analyse folgern, ist in diesem Sinne auch nur eine ideologische Ausflucht vor der Realität und damit nicht überlebensfähig. Zuckermann sagt diesem Staat folgende Zukunft voraus: „Es ist an der Zeit zu fragen, ob besagte Erschütterungen und Ängste [aus der jüdischen Geschichte und dem Holocaust] sich mittlerweile nicht dermaßen gründlich verdinglicht haben, dass sie den Bezug zum historischen Ursprung völlig verloren haben und einzig noch als Mittel der Rationalisierung einer tiefer liegenden Angst fungieren: des Entsetzens vor der Erkenntnis, das gesamte zionistische Projekt sei einen steilen Abhang hinuntergerollt, und gerade jene, die seine Fahnen in überbordendem Pathos und ideologischem Überschwang schwenken, seine Totengräber seien, Förderer eines historische Endes.“
So weit geht Tamar Amar-Dahl in ihren Schlussfolgerungen nicht: Das ist aber kein Defizit ihres Buches. Es ist eine glänzende Analyse des äußerst bedenklichen Zustandes des gegenwärtigen israelischen Staates und des politischen Weges, der zum neozionistischen Heute geführt hat. Nicht nur Kennern der Situation ist das Buch zu empfehlen, sondern auch gerade den Anhängern der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“.
Tamar Amar-Dahl: Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium, Promedia-Verlag Wien, ISBN 978-3-85371-514-7, 22 Euro