Die palästinensische Autorin Adania Shibli hat für ihren Roman „Eine Nebensache“ den LiBeraturpreis 2023 erhalten. Dies gab der Verein Litprom in Frankfurt am Main bekannt. Das im Berliner Berenberg Verlag erschienene Buch handelt von der Vergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens durch israelische Soldaten in der Negev-Wüste 1949 und der Aufklärung des Verbrechens durch eine junge Frau Jahrzehnte später. Der mit 3.000 Euro dotierte Preis wird voraussichtlich am 20. Oktober zur Frankfurter Buchmesse verliehen.
Dass Adania Shibli jetzt als palästinesische Autorin den Literaturpreis bekommt, ist angesichts der ausbordenden Antisemitismusvorwürfe gegen alle auf Verständigung orientierten Palästinenser bemerkenswert. Adania Shibli beschreibt in literarischer Kunstform unhaltbare Verhältnisse im besetzten Palästina.
Dieses deutsche Debüt eines Romans von der 1974 geborenen Palästinenserin aus Ramallah hat schon in manchen Rezensionen in den Feuilletons großer deutscher Medien zu begeisterter Zustimmung geführt. Und dies, obwohl im ersten Teil des Buches – zwar distanziert und sachlich – ein sehr reales unglaubliches Verbrechen israelischer Soldaten aus dem Jahr 1974 beschrieben wird. Eine Gruppe israelischer Soldaten hatte bei einer Begegnung mit einer Gruppe Beduinen erst die Männer erschossen und dann ein junges Beduinenmädchen vergewaltigte und dann getötet.
Im zweiten Teil des Romans verbindet sich die Recherche einer jungen Palästinenserin über diesen realen Fall mit dem aktuellen Alltag 50 Jahre später in Form einer Ich-Erzählung. Die Protagonistin erfährt im Schauplatz einer stummen, leeren Negev-Wüste vieles über dieses Land und seine vielfältigen Probleme und Begrenzungen. Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen zu einer „eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt und die Frage nach Gerechtigkeit“ wie es im Klappentext heißt. Es ist schon ungewöhnlich, dass in der Rezensionsnotiz des Feuilletons eines großen deutschen Leitmediums formuliert wird, dass dieses „große aktuelle Buch …hoffen lässt, dass die Autorin noch mehr schreiben wird“. Für die englische Übersetzung war sie 2020 für den National Book Award nominiert und 2021 für den International Booker Prize.
Die 160 atmosphärisch verdichteten Seiten lesen sich so berührend und spannend, dass man das Buch in einem Rutsch liest und es uns voller Gedanken und Fragen zurücklässt. Selten wurde die Seelenlosigkeit von Menschen in Uniform in einem Land in permanentem Ausnahmezustand der Besatzung so poetisch beschrieben. Exemplarisch mag das die Schlussszene verdeutlichen, in der die Protagonistin mit ihrem Auto zufällig in eine scheinbar friedliche Militärzone fährt und unverhofft mit einer Gruppe von israelischen Soldaten konfrontiert wird und plötzlich die Gefühle der Angst und Hilflosigkeit in ihr hochkommen. In dieser kurzen Szene verbindet sich die Erinnerung an den Jahrzehnte zurückliegenden Fall mit der exemplarischen tagtäglichen Realität einer Besatzung und dem unmittelbaren eigenen Empfinden. Diese seltene einhellige Meinung des deutschen Feuilletons über dieses literarische deutsche Debüt des dritten Buches der palästinensischen Autorin ist umso ungewöhnlicher, als Literatur und Kunst aus Palästina wie auch insbesondere politische Themen hierzulande weitgehend tabuisiert werden. Es ist wohl dieses „außergewöhnliche Kunstwerk, das immer wieder überrascht und fesselt: eine äußerst rare Mischung aus moralischer Intelligenz, politischer Leidenschaft und formaler Virtuosität“, wie es der Literaturkritiker Pankaj Mishra treffend formuliert. Sehr empfehlenswert!
Detlef Griesche