„Die Zwei-Staaten-Lösung wäre ein Desaster“ – Interview mit Rula Hardal und Omri Boehm

Der jüdisch-israelische Philosoph Omri Boehm und die palästinensisch-israelische Politikwissenschaftlerin Rula Hardal über die Folgen des 7. Oktobers, die Missverständnisse des Westens – und ihre ganz konkrete Idee für die Zukunft.

Von Jens-Christian Rabe, Sonja Zekri

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Von einer Lösung scheint der Nahost-Konflikt derzeit so weit entfernt wie noch nie. Oder doch nicht? Der jüdisch-israelische Philosoph Omri Boehm und die palästinensisch-israelische Politikwissenschaftlerin Rula Hardal zeichnen ein düsteres Bild der Lage – aber sie pochen darauf, dass es Hoffnung auf eine partnerschaftliche, humane Zukunft von Juden und Palästinensern gibt. Und sie machen konkrete Vorschläge.

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Als Mittel der Wahl, um die Region zu befrieden, wird von der deutschen Außenpolitik, von den USA, von vielen anderen die Zwei-Staaten-Lösung als aussichtsreichste Option beworben.

Boehm: Das halte ich für gefährlich. Die Zwei-Staaten-Lösung wäre ein Desaster. Die Politik im Geist von Oslo sollte einen unbegrenzten Krieg zwischen den Völkern verhindern, was jedoch nicht gelang. Jetzt noch darauf zu beharren, heißt deshalb, auf einem faulen Kom- promiss zu beharren – und die Palästinenser weiter nicht als politische Subjekte anzuerkennen, die das Recht haben, Rechte zu haben: also in der Region zu bleiben und durch das Recht, geschützt zu werden.

Viele im sogenannten propalästinensischen Lager gestehen das allerdings ihrerseits den Juden auch nicht zu. Es muss endlich ein alternativer Rahmen entworfen werden, in dem beide Seiten gleichberechtigte politische Subjekte sind, statt so zu tun, als sei es „realistischer“, auf die Illusionen zurückzugreifen, die uns erst in die gegenwärtige Situation geführt haben.

Dennoch: Außenministerin Baerbock betont oft, dass es ohne Zwei-Staaten-Lösung „keinen Frieden geben wird“. Was kann daran falsch sein?

Hardal: Das Oslo-Abkommen beruht auf dem Konzept der Trennung beider Völker. Aber das ist nicht nur unmoralisch, sondern auch nicht realistisch. Zwischen Jordan und Mittelmeer ist das Leben von Juden und Palästinensern längst so eng verflochten, dass ein solches Vorhaben völlig praxisfern ist. Deshalb basiert unsere politische Vision auf einer Idee des Teilens, nicht des Aufteilens. Wir stellen uns eine Art Föderation vor.

Eine Bundesrepublik Israel-Palästina?

Boehm: Eher eine Vereinigung nach dem Vorbild der Europäischen Union.

Hardal: Die meisten Israelis und Palästinenser legen weiterhin Wert auf eigene souveräne Staaten, aber wir schlagen eine gemeinsame übergeordnete Ebene vor, eine Art Konföderation. Sie würde Fragen des täglichen Lebens regeln, Wirtschaft, Menschenrechte, Justiz.

Boehm: Es soll kein Trick sein, bei dem am Ende angeblich doch wieder zwei Staaten entstehen sollen, nur heißt das Ganze diesmal anders. Denn wenn zwei Völker oder zwei Staaten sich diese Region unter dem Dach einer Konföderation oder Föderation teilen wollen, dann stellt sich auch die Frage staatlicher Souveränität.

Beide Einheiten, die israelische und die palästinensische, würden einen Teil ihrer Souveränität abgeben, denn sie wären über eine gemeinsame Verfassung verbunden. Diese Verfassung muss für das gesamte Gebiet regeln, welche Gesetze legal sind und welche beispielsweise den Menschenrechten widersprechen oder dem Recht auf Bewegungsfreiheit.

Siedlerstraßen, die Palästinenser nicht befahren dürfen, gäbe es dann nicht?

Boehm: Natürlich nicht.

Rula Hardal, Sie sprechen mit deutschen EU-Politikern und mit deutschen Diplomatinnen in Israel und in den palästinensischen Gebieten. Haben Sie den Eindruck, dass in Deutschland das ganze Ausmaß des Problems begriffen wird?

Hardal: Weniger gut als anderswo. Ich bin mir bewusst, wie ungeheuer komplex das deutsch-jüdische Verhältnis angesichts der deutschen Geschichte ist. Aber eine Mehrheit der Deutschen hat oder möchte vergessen, dass die Gründung des Staates Israel als Zuflucht der Juden nach dem Holocaust die Probleme der Palästinenser in dieser Dimension erst ausgelöst hat. Deshalb ist Deutschland für beide gleichermaßen verantwortlich. Natürlich kann Deutschland die Existenz des Staates Israel unterstützen. Der zweite Teil fehlt aber im deutschen Diskurs.

Boehm: Ich spreche auch ab und zu mit deutschen Beamten und Politikern und habe den Eindruck, dass einige – nicht alle – sehr vernünftig sind. Sie sind vorsichtig, verstehen aber hinter verschlossenen Türen langsam, dass die Trennungslogik von Oslo ein Ende haben muss.

Was kann Deutschland ausrichten? Nicht mal die USA scheinen erkennbaren Einfluss auf die Regierung Netanjahu zu haben.

Hardal: Die Situation kann, wenn überhaupt, nur von außen geändert werden. Historisch betrachtet besaß die internationale Gemeinschaft immer Instrumente, um Einfluss nehmen zu können, wenn sie es wollte. Europa, die USA und andere Staaten haben sie meiner Ansicht nach bislang nicht genutzt.

Mit Ihrer israelisch-palästinensischen Organisation „A Land for All“ haben Sie fünf Prinzipien für das Zusammenleben entwickelt, darunter das Recht beider Völker, auf diesem Land zu leben, Selbstbestimmung und Versöhnung. Wie groß ist die Zustimmung zu solchen Ideen bei den Palästinensern?

Hardal: Die meisten von uns wünschen sich eine demokratische, säkulare, liberale Gesellschaft, das werden Sie merken, wenn Sie Ramallah oder einen anderen Ort im Westjordanland besuchen. Und wenn ich mit palästinensischen Politikern rede, können sie sich alle diese Variante gut vorstellen. Die Fatah hält unsere Version für deutlich entwickelter und attraktiver als die Zwei-Staaten-Lösung. Unsere Variante wäre etwas zwischen der Zwei-Staaten-Lösung und einer Ein-Staaten-Lösung. Sie wäre integrativ.

Und die Hamas?

Hardal: Über die Hamas kann ich nichts sagen, ich rede nicht mit ihnen. Erst wenn der Krieg vorbei ist, kann sich das ändern, dann werden wir vermutlich auch eine andere Hamas sehen.

In Deutschland und anderen Ländern ist die Hamas als Terrororganisation verboten. Tatsächlich ist sie mehr als ihr militanter Zweig, aber würde der die Waffen niederlegen?

Hardal: Wir haben schon früher Umwandlungen von Terrorgruppen zu politischen Organisationen erlebt, denken Sie nur an die Fatah und die PLO. Beide galten als terroristische Organisationen bis zu den Oslo-Verträgen von 1993. Eine solche Wandlung ist machbar. Im Falle der Hamas halte ich sie für wahrscheinlich.

Woher wollen Sie das wissen?

Hardal: Jenseits der Propaganda deutet die Hamas inzwischen an, dass sie Gaza nach dem Krieg nicht mehr beherrschen wird. Sie sieht sich lediglich als Teil des politischen Systems, das Gaza und das Westjordanland kontrolliert.

Damit wäre Ihr Plan aber noch nicht umgesetzt.

Boehm: Historisch ist unsere Idee nicht neu. Der sogenannte UN-Teilungsplan von 1947 sah zwei Staaten vor.

Das lehnten die arabischen Staaten aber ab. Als Folge entstand der Staat Israel, aber kein palästinensischer Staat.

Boehm: Ja, die Geschichte ist jedoch komplizierter. Die UN-Teilungsresolution gilt heute zwar als paradigmatisches Modell für zwei getrennte Staaten, aber sie bedeutete etwas ganz anderes. Rula und ich scheinen von der Idee der Trennung, die damals zugrunde lag, abzuweichen. Aber die verdrängte Wahrheit ist: Die Resolution wollte nicht einfach eine Teilung, sondern eine „Teilung mit Wirtschaftsunion“.

Sie schloss mit der Wirtschaftsunion auch die Freizügigkeit ein, gemeinsame Behörden für Verkehr, Zoll und Telekommunikation, eine gemeinsame Währung, gemeinsame Häfen, einen gemeinsamen Flughafen. Sogar so etwas wie ein gemeinsames Gericht. Schon damals hatte man begriffen, dass sich – wenn man wirklich Frieden will – beide Völker das Gebiet sinnvoll teilen müssen, weil man es nicht in Stücke trennen kann. Anders gesagt: Projekte wie das von Rula und mir versuchen, etwas wiederherzustellen, was die UN ursprünglich wollte.

Viele haben die Hoffnung auf eine Lösung oder auch nur eine Besserung aufgegeben. Der Konflikt, so heißt es oft, ist unlösbar. Bauen Sie nicht ein schön eingerichtetes Luftschloss?

Hardal: Wir stecken seit 30 Jahren in einer Sackgasse. Die einzige politische Vision, die derzeit kursiert, ist der „Unterwerfungsplan“ von Israels rechtsextremem Finanzminister Bezalel Smotrich.

Es gelte, „jegliche nationale Hoffnung der Palästinenser auszulöschen“, hat Smotrich vor einigen Jahren gesagt. Er bestreitet die Existenz eines palästinensischen Volkes und ist zuständig für den Siedlungsbau im Westjordanland.

Boehm: Sein Plan sieht drei oder vier verschiedene Stadien vor, alle laufen auf die Vertreibung hinaus. Palästinenser, die die israelische Dominanz akzeptieren, dürfen bleiben, jene, die friedlich ausreisen, werden irgendeine Art von finanzieller Belohnung dafür bekommen oder die Staatsbürgerschaft in anderen Ländern. Und diejenigen, die sich weigern, werden bekämpft. Weder die Palästinenser noch die Israelis würden das überleben.

Angesichts solcher Aggressivität – was können Sie beide ausrichten?

Boehm: Nur kleine Gesten. Rula wird zusammen mit anderen israelischen Juden und Palästinensern an einer Konferenz teilnehmen, die ich zusammen mit Andreas Føllesdal am Friedensnobelinstitut in Oslo organisiere. Es wird da um konföderative Ideen für die Zukunft Israels gehen.

Hardal: Als indigene Palästinenserin fühle ich mich in meiner Heimat tief verwurzelt. Gerade deshalb mache ich mich für eine bessere Zukunft nicht nur für mein Volk stark, sondern auch für die israelischen Juden. Aus dieser souveränen Position können und sollten alle Palästinenser dem „Feind“ eine Versöhnung anbieten.

Boehm: Es ist jetzt wichtig, auf den Maßstäben zu bestehen. Wir müssen diejenigen sein, die zeigen, was es bedeutet, einander als gleichberechtigte Subjekte zu betrachten. Am 7. Oktober hat die Hamas auch einen Anschlag auf die Idee des Zusammenlebens verübt.

Für die Palästinenser bedeutet dies, in aller Deutlichkeit auszudrücken, dass diese Verbrechen gegen ihre künftigen Mitbürger nicht zulässig sind. Und ich als jüdischer Israeli muss klar sagen, dass wir nur zusammenleben können, wenn unsere eigenen Kriegsverbrechen geahndet werden.

Wir müssen lernen, die aktuellen Verbrechen als Verbrechen zu sehen, die gegen unsere eigenen zukünftigen Bürger gerichtet sind. Eines Tages werden sie so gesehen werden. Es ist die einzige Hoffnung, die wir haben.

Rula Hardal wurde 1974 in Peqi’in in der israelischen Provinz Galiläa geboren, Omri Boehm 1979 in Gilon, ebenfalls Galiläa. Beide haben die israelische und die deutsche Staatsbürgerschaft. Hardal forscht am Shalom Hartman Institut in Jerusalem und ist seit 2023 Co- Direktorin der israelisch-palästinensischen Organisation „A Land for All – Two States, One Homeland“.

Zehn Jahre verbrachte sie in Deutschland, wo sie an der Universität Hannover promoviert wurde. Omri Boehm ist Professor für Philosophie an der New Yorker New School for Social Research.

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Mit freundlichen Grüßen
Clemens Ronnefeldt
Referent für Friedensfragen beim deutschen 
Zweig des internationalen Versöhnungsbundes

 

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