Ein Artikel von Shay Fogelman aus der israelischen Tageszeitung Ha’aretz vom 3. Juni 2011
Die Massenflucht von Haifas Arabern ist eines der umstrittensten Ereignisse des Krieges von 1948. Obwohl sehr viel für die arabische Darstellung spricht, halten israelische Historiker mit der Wahrheit hinter dem Berg. Hier ist die Geschichte, die sie der Öffentlichkeit vorenthalten wollen.
Vor zwei Monaten hat die Knesset das Haushaltsgrundlagengesetz (Änderung 39) angenommen, das unter dem Namen Nakba-Gesetz in der Öffentlichkeit bekannt ist. Es soll Institutionen, die Staatsmittel erhalten, daran hindern, den Nakba-Tag (Tag der „Katastrophe“, wie die Araber sagen) zu begehen, bei dem die Araber sich auf den 15. Mai 1948 beziehen – das ist der Tag, an dem das britische Mandat in Palästina zu Ende ging. Paradoxerweise hat dieser entschlossene Versuch, diesen Tag aus dem israelisch-jüdischen Bewusstsein zu tilgen, das Interesse unter den Juden für die Nakba enorm anwachsen lassen. Den Google-Trendangaben zufolge, die die Suche von Begriffen im Internet angeben, war in den vergangenen Monaten ein deutliches Ansteigen bei Nachfragen im Netz nach dem Wort Nakba zu verzeichnen. Der Index gibt den normalen jährlichen Sprung an, den die Suche nach dem Begriff im Zeitraum vor dem Mai-Termin in Englisch und Arabisch macht, zeigt aber in diesem Jahr ein noch nie dagewesenes beträchtliches Ansteigen in Hebräisch an. Zum wachsenden öffentlichem Interesse und zur Gefühlsaufladung des Termins hat sicherlich der ungewöhnlich große Rahmen der Ereignisse am Nakba-Tag im vergangenen Monat beigetragen – solche Absurditäten geschehen zuweilen.
Vor zwei Wochen zum Bespiel protestierte das Parlamentsmitglied Aryeh Eldad von der National Partei gegen die Entscheidung, in der Knesset ein Gemälde mit dem Titel „Der Zitronen-Anbauer“ aufzuhängen. Eldad behauptete, es handle sich dabei um ein „Nakba-Gemälde“. Das Bild stammt von Eliyahu Bokobza, als Vorlage diente eine idyllische Fotografie aus dem Jahr 1939. Es zeigt eine arabische Familie in traditioneller Kleidung, im Hintergrund sieht man Orangenbäume. In seinem Protestbrief an die Knesset schrieb Eldad: „Warum wollen Sie ein Kunstwerk von einem israelischen Künstler aufhängen, der geistig verwirrt ist, unter jüdischem Selbsthass leidet und der die arabische Lüge die Wahrheit nennt und unsere Wahrheit leugnet?“
In diesem Jahr forderte die Urangst vor der Nakba eine „angemessene zionistische Antwort“ heraus. Deshalb verteilen Mitglieder der ultranationalen Gruppe Im Tirtzu eine Broschüre mit dem Titel Der Nakba-Unsinn. Ein Text, der für die Wahrheit kämpft. Auf 70 Seiten versuchen die Autoren, der Journalist Erel Segal und Im-Tirtzu-Mitbegründer Erez Tadmor, die Leser zu überzeugen, dass die Araber, die sich selbst als Opfer des israelisch-arabischen Konflikts betrachten, in Wirklichkeit die Aggressoren sind. Daraus folgt natürlich, dass Israel, das immer als Aggressor angesehen wird, in Wirklichkeit das Opfer ist. Nach ihren Worten ist es die Absicht der Broschüre, „die Lügen zu bekämpfen und einen Krieg gegen die furchtbare Unwahrheit zu führen, in deren Namen unsere Feinde den gerechten Weg des Zionismus unterminieren und den Boden für die Zerstörung des jüdischen Staates bereiten wollen.“
Die Autoren führen eine Reihe von „Lügen“ an, die sie als den „Mythos der Nakba“ zu widerlegen suchen. Im zweiten Kapitel der Broschüre, das „Die Übergabe – Haifa als treffendes Beispiel“ überschrieben ist, sprechen die Autoren an, was sie die „Lüge der beabsichtigten Vertreibung“ nennen. Indem sie sich auf das Buch Wie man israelische Geschichte schafft (Fabricating Israel history) von Prof. Efraim Karsh beziehen, lassen sie sich auf die sogenannten „neuen Historiker“ ein – eine Gruppe von Akademikern, die das konventionelle, übliche arabisch-israelische Narrativ in Frage stellen. Wie die Autoren in ihrer Broschüre schreiben, ist es das Anliegen dieser Akademiker, die verleumderische Behauptung zu verbreiten, dass die jüdischen militärischen Verbände im Rahmen ihrer absichtsvollen Politik der Vertreibung und ethnischen Säuberung eine Reihe von grausamen Massakern begangen hätten. Die Autoren schließen dieses Kapitel [in ihrer Broschüre] mit der Beschreibung der Eroberung Haifas im Unabhängigkeitskrieg ab und stellen sie als Beweis hin, dass die Israelis eine solche Politik nicht betrieben hätten und „dass die arabische Führung die Verantwortung für die Ergebnisse des Krieges und das Flüchtlingsproblem trägt.“
Es ist kein Zufall, dass die Autoren das Beispiel von der Einnahme Haifas im April 1948 durch die Hagana (die jüdische Armee vor der Unabhängigkeit) gewählt haben, um ihre Beweisführung abzuschließen. Denn die Ereignisse in Haifa werden als das vielleicht tückischste Minenfeld in der Geschichte der Nakba angesehen. So gut wie jeder Historiker, der diesen Geschichtsabschnitt oder den israelisch-palästinensischen Konflikt untersucht hat, versucht, seinen Weg durch dieses Minenfeld zu finden. Wenige nur waren dabei erfolgreich, zu einem sicheren Abschluss zu kommen, ohne über die Minen einer verfehlten Interpretation zu stolpern. Viele Gelehrte behaupteten, dass ihre Vorgänger Fehler gemacht hätten. Trotz einer Fülle von Zeugnissen, Dokumenten und Studien ist die Kontroverse der Historiker noch nicht entschieden, und in der öffentlichen Debatte greift jede Seite auf den Fall Haifas zurück und frischt ihn damit wieder auf.
Die Fakten, die Segal und Tadmor in ihrer Broschüre zitieren, sind nicht neu, sie widersprechen auch nicht Fakten und Angaben, die in früheren Arbeiten über das Thema aufgezeigt wurden. Aber in der besten Tradition des politischen Pamphlets werden die Fakten und Angaben selektiv und einseitig dargestellt, um so ein von vornherein schon feststehendes Narrativ zu bestätigen. Weder die Broschüre noch viel weniger das Kapitel über Haifa bieten einen wahrheitsgemäßen Diskurs oder eine ausgewogene Darstellung der wirklichen Geschehnisse.
Segal und Tadmor beleuchten das Minenfeld der Nakba von Haifa sehr sprunghaft, indem sie davor zurückschrecken, Fakten oder Zeugnisse hinzuzuziehen, die ihre Thesen und Darstellungen widerlegen könnten. In einer Zeit, die von „Narrativen“ beherrscht wird, in denen „Wahrheit“ nur etwas Relatives ist, kann man die Methode der Autoren, ihre Quellen auszuwählen, gerade noch als legitim bezeichnen. Im Israel des Jahres 2011 ist sie sicher gültig. „Obwohl die Broschüre keine akademische Arbeit ist, habe ich während des Schreibens daran mit vielen Akademikern gesprochen“, sagt Tadmor in einem Telefoninterview. „Ich habe mich an die Ergebnisse der Arbeit von Prof. Karsh und anderer Historiker gehalten – etwa die von Benny Morris, weil sie mir zuverlässig erschien.“
Segal räumte auch ein, dass die Broschüre „nicht den Anspruch erhebt, eine akademische Studie zu sein. Jede Seite muss auf die wissenschaftlichen Arbeiten zurückgreifen, die ihr angemessen erscheinen. In derselben Weise, wie die palästinensische Propaganda bestimmte Sachverhalte zusammenstellt, die sie passend findet, haben wir die Auswahl getroffen, unsere Wahrheit zu erzählen. Ich akzeptiere Prof. Karshs Arbeit als wissenschaftlich wahrheitsgetreu.“
Die Flucht aus Haifa
Geschichte wird im Alt-Herren-Club im Vadi Nisna Viertel von Haifa nicht als Propaganda betrachtet. Denn für die Dutzende von einheimischen Arabern hier ist die Nakba ein Kapitel ihrer persönlichen Biographie. Einer von ihnen erinnert sich daran, wie die jüdischen Truppen seine Nachbarn mit vorgehaltener Waffe vertrieben hätten. Ein anderer erzählt, wie die Scharfschützen der Hagana auf seinen Vater geschossen hätten, als er von der Arbeit nach Hause kam. Ein Dritter erwähnt das kleine Bündel, das er auf der Flucht bei sich trug. Sie alle erinnern sich gut an die Angst, die sie als hilflose Zivilisten hatten – gefangen mitten im Sturm des Krieges. Die Geschichten, die sie erzählen, sind eher persönlicher Natur. Sie beschreiben kurze Momente: Blicke, denen sie ausgesetzt waren, Erfahrungen der Niederlage und Erniedrigung sowie der willkürlichen Misshandlungen durch Hagana-Soldaten. Einige von ihnen würzen die Erzählung ihrer persönlichen Tragödie mit Humor, obwohl die Traurigkeit in ihren Augen nicht verschwindet. Die Jahre, die seitdem vergangen sind, haben ihre Erinnerungen abgestumpft. In einigen Erzählungen überschneiden sich die Angaben und Einzelheiten aus späterer Zeit werden hinzugefügt.
Nach allgemein akzeptierten Schätzungen hatte Haifa vor dem Unabhängigkeitskrieg 62 500 arabische Einwohner. Der Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 sah vor, dass die Palästinenser nach dem Auslaufen des britischen Mandats in einer gemischten Stadt als Bürger des jüdischen Staates leben sollten. Doch die Spannungen zwischen beiden Seiten und eine Reihe von gewaltsamen Zwischenfällen veranlassten viele Araber, die Stadt vor dem Abrücken der Briten zu verlassen. Die meisten dieser ersten Flüchtlinge waren reich, viele von ihnen waren Christen, die Hilfe und Beistand von den Kirchen in Galilea erhielten. Bis Mitte April 1948 blieben weniger als 20 000 Araber in der Stadt. Wie die jüdischen Bewohner harrten sie aus und wollten sehen, wie sich die Dinge weiter entwickelten.
In der Zwischenzeit versuchten sie, ihr Leben inmitten der Gewalt so normal wie möglich zu gestalten. „Das Leben war in dieser Zeit unerträglich“, erinnert sich der 90jährige Jamal Jaris im Club von Wadi Nisna, als er zu erklären versucht, warum er wenige Tage bevor die jüdischen Truppen Haifa eroberten, aus der Stadt geflohen sei. „Da wurde jeden Tag geschossen und gebombt. Es wurde kein Unterschied zwischen Zivilisten und bewaffneten Kombattanten gemacht. In einigen Teilen der Stadt, besonders in den arabischen Vierteln, stand jeder auf der Straße unter dem Beschuss von Scharfschützen und Maschinengewehrfeuer [der jüdischen Truppen].
Am 21. April gab der Kommandeur der britischen Truppen beiden Seiten bekannt, dass seine Verbände die Stadt sofort räumen würden, davon ausgenommen wären der Hafen und ein paar wichtige Straßen, die die Armee für den geordneten Rückzug Mitte Mai brauchte. In derselben Nach unternahm die Hagana einen Angriff auf die arabischen Viertel. Die Carmeli-Brigade, die an der Spitze der Attacke stand, war zahlenmäßig und topographisch im Vorteil. Ihre Truppen waren außerdem besser ausgebildet und ausgerüstet und kämpften besser organisiert als die arabischen Verbände. In weniger als einem Tag eroberte die Hagana die Stadt Haifa.
Unterschiedsloser Beschuss
Es war ein kurzer Kampf und ein vernichtender Sieg, bei dem die jüdische Seite relativ wenig Verluste erlitt. Die Araber leisteten nur geringen Widerstand. Die Hagana-Soldaten durchkämmten nach dem Sieg die arabischen Viertel und waren überrascht, nur so wenige Waffen zu finden. Eine Woche später hieß es in der Hagana-Ma’arak-hot (Campaigns): „Der Kampf um Haifa wird vermutlich nicht zu den großen Stadt-Schlachten in der Militärgeschichte zählen.“ Der Sieg der Juden löste die panikartige Flucht der noch zurückgebliebenen [arabischen] Bewohner aus. Die New York Herald Tribune schrieb: „Haifa, die drittgrößte Stadt Palästinas und zugleich der Abzugshafen der britischen Armee, wurde nach einer Serie von grausamen Angriffen der Hagana über Nacht eine jüdische Festung. Die jüdische Armee gewann die Kontrolle über die meisten arabischen Teile der Stadt und erzwang eine Massenflucht der Araber über See.“
Am 23. April hieß es in der New York Times: „Zehntausende von arabischen Männern, Frauen und Kindern flüchteten über die östlichen Außenbezirke der Stadt in Autos, Lastwagen, Karren und zu Fuß – vereint in dem verzweifelten Versuch, arabisches Territorium zu erreichen, bevor die Juden die Rushmiya-Brücke nach Samaria und Nord-Palästina einnehmen und sie so vom Hinterland abschneiden würden. Tausende stürzten sich im Hafen auf jedes verfügbare Schiff, sogar auf Ruderboote, um über See nach Akra zu entkommen.“ In der israelischen Tageszeitung Maariv hieß es: „Britische Beamte im Hafen schätzen, dass zwischen 12 000 und 14 000 Araber aus der Stadt über See und zwischen 2000 und 4000 über Land geflüchtet sind. Die jüdischen und die arabischen Zahlenangaben widersprechen einander. Die Juden sind bestrebt, die Fluchtzahlen möglichst niedrig anzugeben. Ein jüdischer Sprecher gab an, dass nicht mehr als 5 000 Araber geflüchtet seien. Arabische Führer sprechen aber von mindestens 20 000 Flüchtlingen.
„Wir machten uns große Sorge um unsere Landsleute, die aus der Stadt flohen“, erklärt der 85jährige Chana Mur im Alt-Herren-Club in Haifa. An dem Tag, als die Stadt fiel, sei er wie immer zur Arbeit im Hafenzollamt gegangen: „Stundenlang hörten wir aus der Richtung der arabischen Viertel Explosionen und Gewehrfeuer. Die Juden schossen auf die Häuser und zielten auf Leute in den Straßen. Es gab eine große Panik. Ich erinner mich, dass Leute sagten, sie hätten das Gefühl, die Welt werde auf den Kopf gestellt. Der Hafen war der einzig sichere Ort für die Araber. Dort wurden sie von den britischen Soldaten geschützt. Wer es konnte, verstaute ein paar Sachen in einer Decke oder in einer Tasche und flüchtete zum Hafen. Wir hatten das Gefühl, dass wir um unser Leben rannten.“ Mur fährt fort: „Ich erinnere mich an ein junges Paar, das in der panischen Flucht seine kleine Tochter zu Hause vergaß. Wahrscheinlich hatten sie in der Eile, anstatt sie mitzunehmen, zu anderen Bündeln gegriffen. Ein Nachbar, der auch auf der Flucht war, hörte das Mädchen im zweiten Stock des Hauses weinen und nahm es samt seiner eigenen Familie mit. Die Eltern des Kindes kamen in einem Flüchtlingslager im Libanon unter. Das Mädchen wuchs im Haus des Nachbarn in Akra auf. Später habe ich es getroffen. Die Frau lebt jetzt im Stadtteil Kababir in Haifa.“
In Israel sind in den letzten Jahren mehrere historische Sachbücher, die die Flucht der Tausende von Arabern am Tag der Eroberung der Stadt zum Hafen und dann die Flucht über See nach Akra oder in den Libanon zum Thema haben. Dem Ereignis wurde in den Zeitungen der Zeit und in verschiedenen Archiven große Bedeutung zugemessen. Segal und Tadmor schreiben: „Am 22. April, als die Hagana-Verbände zum Marktplatz vordrangen, wurde eine Massenflucht von Tausenden registriert.“ Sie schreiben nicht, was sich auf dem Marktplatz selbst ereignet hat. Sie ziehen es vor, sich auf die These von Prof. Karsh zu beziehen: „Die arabische Führung“, heißt es bei ihnen, „drängte ihre Landsleute, ihre Häuser zu verlassen – mit der Absicht, das Gebiet für die arabischen Militärverbände freizumachen oder aus Propagandagründen, die darauf abzielten, die Legitimität des jüdischen Staates zu leugnen.“
Eine andere Quelle, die die Autoren für die Schlussfolgerungen in ihrem Kapitel heranziehen, ist das Buch des Historikers Benny Morris 1948 (zuerst 2008 in Englisch und zwei Jahre später in Hebräisch erschienen). Sie schreiben, dass Morris, „bis er widerrief“, zu den „neuen Historikern“ gehörte, und fügen hinzu, dass er ein sehr respektiertes und seriöses Mitglied der Gruppe sei. Morris hat über die Eroberung von Haifa geschrieben und erwähnt die Flucht der Araber zum Hafen in mehreren seiner Arbeiten. In 1948 beschreibt er die Ereignisse des 22. April wie folgt: „ Der andauernde Mörserbeschuss und das ständige Maschinengewehrfeuer sowie der Zusammenbruch der [arabischen] Milizen und der lokalen Verwaltung sowie der Vormarsch der Hagana beschleunigten die Massenflucht zum Hafen, der noch in der Hand der Briten war. Zwischen 1000 und 6000 Menschen haben nach den Berichten den Hafen passiert und sind an Bord von Booten gegangen, die sie nach Akra und anderen nördlichen Orten bringen sollten.“ Morris fasst die Gründe für die Flucht so zusammen: „Die Mehrheit hatte verschiedene Motive. Der Hauptgrund war der Schock des Angriffs (besonders der Mörserbeschuss der Hagana auf die Unterstadt) sowie der jüdische Vormarsch und schließlich die Aussicht, als Minderheit unter jüdischer Herrschaft leben zu müssen.“
Doch in seinem ersten Buch Die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems (zuerst in Englisch 1987), das vor seinem „Widerruf“ verfasst wurde, beschrieb Morris den Ablauf der Ereignisse mehr im Detail und auch differenzierter, wobei er aus dem Buch eines israelischen Historikers zitierte: „Die Drei-Inch-Mörser, die inmitten einer großen Menge auf dem Marktplatz explodierten (…) eine große Panik brach aus. Die Menge flüchtete [im englischen Original: burst] in den Hafen, stieß die Polizisten zur Seite, stürmte die Boote und flüchtete so aus der Stadt.“ Aber auch dies ist nur eine partielle Beschreibung der Vorgänge. Morris zitierte tatsächlich aus dem Buch Die Hagana-Kämpfe in Haifa von Zadok Eshel, das 1978 (in Hebräisch) vom Verteidigungsministerium herausgegeben wurde. Eshel war Mitglied der Hagana und lieferte aus erster Hand Schilderungen von vielen Ereignissen in Haifa.
Hier ist seine Zusammenfassung der Ereignisse am 22. April, (dabei muss man auf die Worte achten, die Morris durch Worteinsparungen [im Original: ellipsis] wegließ und ersetzte): „Früh am Morgen informierte Maxy Cohen das Hauptquartier der Brigade, dass die Araber ihre Leute über Lautsprecher aufriefen, sich auf dem Marktplatz zu versammeln, weil die Juden die Stanton Straße erobert hätten und ihren Vormarsch auf die Unterstadt fortsetzten. Auf diesen Bericht hin wurde dem Kommandeur der Waffennachschubkompanie, Ehud Almog, der Befehl gegeben, die Drei-Inch-Mörser einzusetzen, die in der Nähe des Rothschild-Hospitals standen, und sie explodierten in der großen Menge auf dem Marktplatz. Als der Beschuss begann und die Granaten in die Menge fielen, brach eine große Panik aus. Die Menge floh [im Original: burst] zum Hafen, stieß die Polizei zur Seite, stürmte die Boote und begann fluchtartig die Stadt zu verlassen. Den ganzen Tag über dauerte der Mörserbeschuss an, und die Panik, die den Feind ergriff, wurde zur wilden Flucht.“
„Das ist falsch!“ erwiderte Ehud Almog, der damals die Waffennachschubeinheit des 22. Bataillons der Carmeli-Brigade befehligte. „Es handelt sich nicht um einen Drei-Inch-Mörser, sondern um Davidka-Granaten“ – er meinte damit die in Eigenproduktion hergestellten Granaten, die wegen ihres Lärms gerühmt wurden, den sie machten. Zu den anderen Einzelheiten sagte er: „Die historische Beschreibung ist korrekt, sie entspricht absolut der Wahrheit. Ich erinnere mich sehr lebhaft an die Ereignisse. Wir hatten den Befehl, den Marktplatz dann anzugreifen, wenn sich dort eine große Menge versammelte. Der Lärm der Explosionen war so schrecklich, dass man sie noch in 200 Metern Entfernung hörte.“ Almog fügt hinzu, dass der Beschuss, der am frühen Nachmittag stattfand, kurz, „aber sehr effektiv“ gewesen sei. Wie Eshel sagt auch Almog, dass die von seiner Einheit abgefeuerten Granaten die Flucht der Leute zum Hafen angetrieben hätten. Obwohl sie keine Augenzeugen der Flucht waren, gaben Shai-Offiziere (die Geheimdiensteinheit der Hagana), die in der Nähe der Hafentore stationiert waren, ihm [Almog) einen genauen Bericht des Zeitablaufs der Ereingnisse.
Ein anderer Bericht, den Morris in seinem Buch Die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems zitiert, stammt von einem britischen Soldaten, der im Hafen stationiert war. Er sagte aus: „Den ganzen Morgen über haben sie [die Hagana-Verbände] permanent auf die Araber geschossen, die im Wadi Visnas-Viertel oder in der Altstadt unterwegs waren. Dazu gehörte auch das völlig unterschiedslose und widerliche Maschinengewehrfeuer und Scharfschießen auf Frauen und Kinder, die versuchten, durch die Tore zu den Docks und so aus Haifa herauszukommen. Da kam es vor dem Ost-Tor [des Hafens] zu einem Massenandrang von hysterisch [schreienden] und erschreckten arabischen Frauen, Kindern und alten Menschen, auf die die Juden erbarmungslos feuerten.“ (Eine verkürzte Version dieses Zitats erschien auch in 1948 – reduziert auf „das völlig unterschiedslose und widerliche (…) Feuern“, das Wort „Maschinengewehrfeuer“ ist weggelassen [ellipsis].
Neben dem moralischen Problem, das darin bestand, einfach in eine Menschenmenge auf dem Marktplatz zu schießen, zeigt der Bericht von Zadok Eshel, der durch die Aussage von Ehud Almog gestützt wird, dass der Angriff auf Befehl von höheren Hagana-Offizieren ausgeführt wurde. Welchen Dienstgrad sie hatten, ist nicht bekannt. Die gesamten Unterlagen des Archivmaterials der Armee (IDF) über diesen Zeitabschnitt sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Man kann deshalb nicht genau sagen, ober der Beschluss Teil einer allgemein akzeptierten Politik war, die darauf abzielte, die Araber zu vertreiben oder ob es sich dabei nur um eins von mehreren Beispielen handelte, die während des Krieges bezeugt sind.
Leichen auf der Straße
Der Granaten-Beschuss fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als die arabischen Vertreter mit den jüdischen Vertretern Haifas die Bedingungen für den Waffenstillstand aushandelten. Die meisten Berichte von Zeitzeugen behaupten, dass der Bürgermeister der Stadt, Shabtai Levy, an die Möglichkeit einer Koexistenz glaubte. In vielen Arbeiten zum Thema heißt es, dass er die Araber dazu drängte, einer Kapitulation zuzustimmen und in der Stadt zu bleiben. Zu bestimmten Zeitpunkten schien dies tatsächlich möglich zu sein. Ein Korrespondent der United Press Association (UP) berichtete, dass – obwohl keine offiziellen Stellungnahmen dazu vorlägen – es den Anschein habe, die Araber hätten den von den Juden gestellten Bedingungen zumindest in den wichtigsten Punkten zugestimmt. Danach hätten die Arabische Legion und die irakischen Freiwilligen schon begonnen, die Stadt zu verlassen.
Das Hagana-Hauptquartier operierte aber völlig unabhängig. Obwohl höhere Offiziere von den Fortschritten bei den Waffenstillstandsverhandlungen wussten, feuerten ihre Einheiten weiter auf die arabischen Viertel.
Ein Telegramm der Carmeli-Brigade an das Hagana-Hauptquartier, das am Tag der Schlacht um 14,30 Uhr aufgegeben wurde, stellte fest: „Die Araber haben sich an den Bürgermeister mit dem Anliegen gewandt, einen Vermittler zwischen ihnen und der Hagana zu suchen. Es geht um die Annahme der Bedingungen für einen Waffenstillstand.“ Eine Kopie der Übereinkunft in englischer Sprache, verfasst von der Hagana, war dem Telegramm beigefügt. In dem Telegramm heißt es zum Schluss: „Panik, Flucht unter den Arabern. Die Gegenwehr ist sehr schwach.“
Die Hagana-Mörser griffen die fliehenden Araber ständig weiter an. Dem täglich erscheinenden Nachrichtendienst der Hagana zufolge meldete der diensthabende Offizier um 14,40 Uhr an: „Drei Granaten sind in der Nähe des Hafentors Nr. 3 niedergegangen. Sie kamen aus der Richtung des Hadar Carmel Abschnitts der Stadt [von der Höhe des Carmel Berges]. Ähnliches ereignete sich am Morgen und die britische Armee droht damit, Hadar mit Artillerie anzugreifen, wenn der Beschuss nicht aufhört.“ In anderen Fällen eröffnete die britische Armee das Feuer und meldete Treffer auf Hagana-Soldaten, die arabische Bürger beschossen hatten.
Um 15 Uhr wurde der Text des Übereinkunft mit einigen eingefügten Korrekturen des englischen Generals zurückgeschickt. Der Brigadekommandeur Moshe Carmel informierte das Hagana-Hauptquartier: „Ein gemeinsames Treffen von Juden, Briten und Arabern wird [heute] um 16 Uhr stattfinden, bei dem über die Bedingungen [des Waffenstillstandes] gesprochen werden soll. Wir gehen davon aus, dass die Araber sie nicht akzeptieren werden, weil rein technisch keine Möglichkeit zu einer wohl geordneten Übergabe besteht.“ Das Hagana-Hauptquartier antwortete: „Solange es nicht feststeht, dass die Bedingungen angenommen werden, müssen die Angriffe fortgesetzt werden.“ Die Message schloss: „Begebt Euch nicht in eine Falle, falls die Verhandlungen darauf ausgerichtet sind, Zeit zu gewinnen.“
Um 16 Uhr begannen beide Seiten unter der Vermittlung von britischen Offizieren, über die Übergabe [der Stadt] und die Bedingungen des Waffenstillstandes zu verhandeln. Die Araber verlangten mehr Zeit für Rücksprachen. Beide Seiten trafen sich um 17,15 Uhr wieder. Der Bericht der Hagana stellte fest: „Die Araber geben an, dass sie die Bedingungen nicht erfüllen können. Da die Araber sie nicht erfüllen wollen [im Original steht obey – gehorchen!], ziehen sie es vor, Haifa vollständig mit allen arabischen Bewohnern zu räumen.“
In einem Geheimdienstbericht der Hagana vom selben Tag heißt es: „Es gibt Anzeichen, dass sich die arabische Kommandozentrale in der Stadt auflöst. Die arabischen Hauptquartiere sind schon aufgegeben worden. Niemand geht dort ans Telefon. Und es gibt Berichte, dass die Befehlshaber und ihre Stäbe Haifa verlassen haben. Es gibt keine genauen Angaben über die Verluste des Feindes. Es ist aber bekannt, dass die arabischen Hospitäler mit Toten und Verwundeten überfüllt sind. Leichen liegen in den Straßen neben den Verwundeten, und sie werden nicht eingesammelt, weil es an der nötigen Organisation und hygienischen Mitteln fehlt. Unter den Arabern herrscht große Panik. Sie warten darauf, dass der Waffenstillstand abgeschlossen wird und dass die Juden die Macht in der Stadt übernehmen – sie sehen darin eine gute Entwicklung, die ihre Rettung sein wird. In der Zwischenzeit haben wir eine Nachricht von einer arabischen Quelle bekommen, in der es heißt, dass sie unsere Waffenstillstandsbedingungen angenommen haben.“
Das Schweigen der Historiker
Im palästinensischen Bewusstsein nimmt der Beschuss des überfüllten Marktplatzes in Haifa einen wichtigen Platz in der Geschichte der Nakba in dieser Stadt ein. Der 87jährige Awda al-Shebab, der im Altherren-Club in Wadi Nisnas sitzt, sagt, dass der Granatenbeschuss „ein wichtiger Auslöser für die Flucht zum Hafen war. Die Leute hatten sich auf dem Marktplatz getroffen, um über die Lage und die vorgeschlagenen Bedingungen für den Waffenstillstand zu diskutieren. Historiker erzählen uns jetzt, der [jüdische] Bürgermeister habe gewollt, dass die Araber bleiben sollten und dass die Hagana nach dem Krieg alles getan habe, um den Auszug [der Araber] zu verhindern, aber Taten zählen mehr als Worte. Als die Mörsergranaten mitten auf dem Marktplatz runterkamen, nahmen die Araber das als die Antwort der Juden auf den Waffenstillstandsvorschlag.“
Ähnliches wurde schon vor 63 Jahren behauptet. Laut einem UP-Bericht, der in der Histadrut-Gewerkschaftszeitung Davar erschien, haben die Araber behauptet, dass die Juden „den Waffenstillstand in Haifa gebrochen“ und „eine neue Panikwelle unter tausenden von Arabern“ ausgelöst hätten, die zur Flucht aus der Stadt geführt habe. In dem Bericht heißt es weiter, Juden hätten eingeräumt, dass die Menschen während der Kämpfe und für einige Zeit danach kopflos geworden seien und dass es Plünderungen und Beschuss auf Zivilisten gegeben habe.
Mit den Jahren versuchten einige israelische Historiker, die Bedeutung des Beschusses des Marktplatzes herunterzuspielen. In seinem 2006 erschienen Buch Palästina 1948. Krieg, Flucht und Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems schreibt Prof. Joav Gelber: „Nachdem einige Mörsergranaten in der Nähe des Marktes niedergegangen waren, auf dem sich eine große Anzahl von Arabern versammelt hatte, stürmten Massen von Menschen den Hafen – angetrieben von der Angst vor Gewehr- und Granatenbeschuss.“ Zadok Eshel sagt jedoch ausdrücklich, dass die Granaten mitten in der Menge runtergekommen seien. Gelber erklärt nicht, wie er zu der Behauptung kommt, dass die Granaten nur „die Nähe des Marktes“ getroffen hätten.
Gelber ignoriert auch die Aussagen Dutzender verwundeter Araber, die nach der Massenflucht auf dem Markt zurückblieben. Die meisten palästinensischen Historiker schätzen, dass dabei „einige Dutzend [Menschen] getötet wurden.“ Die Zeitung Haaretz berichtete nach den Kämpfen, ein Mitglied des Arabischen Nationalkomitees habe gesagt, dass die Juden eine große Anzahl von Frauen und Kindern auf der Flucht zur Altstadt und zur britischen Sicherheitszone im Hafen getötet hätten. Obwohl die jüdische Seite die Berichte über angeblich große Verluste an arabischen Zivilisten bestreitet, sagte ein Hagana-Sprecher: „Selbst wenn es sich so ereignet hat, haben wir uns nichts vorzuwerfen, da wir 48 Stunden vor unserem Angriff über Radio und Lautsprecher eine Warnung in arabischer Sprache verbreitet haben. Wir haben die Warnung auch mit Flugblättern verbreitet und haben die Araber aufgerufen, Frauen und Kinder zu evakuieren und jeden, der nicht aus Haifa kommt, aus der Stadt zu schicken. Wir haben wiederholt, dass dies die letzte Warnung ist.“
Ein erschreckender und zugleich fantastischer Anblick“, schrieb David Ben Gurion in seinem Tagebuch am 1. Mai, nachdem er die verlassenen arabischen Viertel der Stadt besucht hatte. „Eine tote Stadt, eine Leichenstadt (…) ohne eine lebende Seele, abgesehen von ein paar streunenden Katzen.“ Die leeren Straßen waren bedeckt mit den Leichen Dutzender von arabischen Zivilisten. Rote Kreuz-Teams hatten sie eingesammelt und ihre Zahl anfangs auf mehr als 150 geschätzt, drei Tage später revidierten sie ihre Schätzung nach unten auf 80 Araber, die bei den Kämpfen getötet worden seien, und einige hundert Verwundete. Den Angaben des Roten Kreuzes zufolge waren nur sechs von den Toten Kämpfer [Kombattanten], bei der Mehrheit der Leichen handelte es sich um Frauen und Kinder.
Viele Leichen blieben auf dem beschossenen Marktplatz zurück. In einem Geheimdienst-Bericht der Hagana heißt es, dass mindestens zehn Leichen im Ajamai-Café gefunden worden seien. Sie wurden erst entfernt, nachdem die nicht explodierten Granaten entschärft worden seien. In dem Bericht heißt es weiter: „Es ist schwer, die Zahl der Toten anzugeben, die bei der Explosion im Haus von Abu Madi in der Nazareth-Straße umgekommen sind, da noch nicht alle Leichen aus dem Schutt geborgen werden konnten. Das Haus war überfüllt mit Familien, die von den Außenbezirken dorthin gekommen waren.“ Ein paar Dutzend arabische Flüchtlinge blieben im Hafen und warteten bei den Docks auf Boote, die sie retten würden. Sie hatten Angst, in ihre Häuser zurückzukehren. „Die Szenen im Hafen waren schrecklich anzusehen,“ berichtete Davar. „Frauen und Kinder hatten schon seit zwei Tagen nichts mehr zu essen und zu trinken bekommen. Die Briten sagen, sie könnten nicht helfen. Die Araber behaupteten dagegen, dass dies ein absichtsvoller Schritt der Briten sei, um die Araber zur Rückkehr in ihre Häuser zu zwingen.“
Bei unserem Gespräch im Wadi Nisnas-Club erwähnen die arabischen alten Herren oft die Worte „Koexistenz“ und „ein Staat für zwei Nationen“. Sie sind sehr stolz auf die tiefen und freundlichen Beziehungen, die sie mit ihren jüdischen Nachbarn unterhalten; einige von ihnen erzählen, dass sie über die Jahre an Versuchen teilgenommen haben, Juden und Araber näher zusammenzubringen. In ihrer Sicht ist die Nakba ein historische Tatsache, die keine Bestätigung oder Gesetzgebung brauche. Sie sehen die Anwesenheit der Juden im Land auch nicht als Schrecken oder Bedrohung an. Awda al-Shebab sagt: „Nur wenn wir die Leiden, die beide Völker durchgemacht haben, gegenseitig anerkennen, werden wir in der Lage sein, eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Das ist der wahre Schlüssel zur Koexistenz. Wenn wir das nicht tun, wird jede Seite weiter in der Vergangenheit leben.“
Als Golda weinte
Der Hagana-Kommandeur in Haifa, Yaakov Lubliani, berichtete über einen Besuch von Golda Meir in der Stadt, die damals eine hochrangige Mitarbeiterin in der politischen Abteilung der Jewish Agency war. Er erzählte: „Ich schlug ihr vor, die Altstadt zu besuchen. Sie erwiderte, dass sie die Ruinen und Verwüstung nicht sehen möchte. Sie wollte einen Stadtteil aufsuchen, wo noch Araber lebten. Ich brachte sie zum Wadi Nisnas-Viertel. Wir kamen auch zur Muchlis-Straße. In einem Haus gingen wir einige Stufen hinauf. Die Wohnungen im ersten Stock waren verlassen. Als wir im dritten Stock ankamen, kam uns eine alte arabische Frau entgegen. Sie trug einige Bündel mit sich. Als sie Golda sah, blieb sie stehen und brach in Tränen aus. Auch Golda blieb stehen, sah sie an, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Die beiden Frauen standen da und weinten. Ich blickte auf die weinende Golda und wurde ärgerlich. Obwohl ich nicht wagte, sie zurechtzuweisen, dachte ich: Wir sind begeistert und glücklich über unseren Sieg, wir haben die Araber ausgerottet [im Original: eradicated], Du kannst jetzt in der Stadt herumgehen, ohne an Gewehrfeuer und Angriffe zu denken, und sie steht da und weint.“(zitiert nach Zadok Eshel: Hagana Kämpfe in Haifa, 1978)
Die Bedeutung von Haifa
Am Tag der Eroberung Haifas veröffentlichte der Herausgeber der Zeitung Maariv, Dr. Ezriel Carlebach, einen Artikel, in dem er die Bedeutung der Stadt erläuterte: „In diesem Augenblick kämpfen wir um Haifa, das bedeutet: Wir kämpfen um den Staat. Mit der Kontrolle Tel Avivs und der Städte in der Küstenebene werden wir nur ein Kanton sein, ein autonomes Gebiet, ein Ghetto. Wenn Haifa uns gehört, werden wir ein Staat sein. Jeder weiß das. Der jordanische König Abdullah weiß, dass wenn Haifa in unserem Besitz ist, haben er und der Irak keinen Zugang zum Meer. Und alles, was er vom Westen des Landes erobern will, ist nur ein Anhängsel der Wüste, nicht ein Tor zur Welt. Die Briten wissen auch, wenn Haifa in unseren Händen ist, dann müssen die Öl-Magnaten und die See-Strategen, Whitehall und Wall-Street und auch Washington mit uns rechnen – und nicht nur die arabischen Öl-Scheichs. Wenn Haifa uns gehört, wird sich die ganze politische und militärische Situation verändern. Das ganze Schicksal unseres Staates ist nun im Gleichgewicht.“ (zitiert nach Maariv, 22. April 1948)
Ein positives Nebenprodukt
Ein Artikel, der nach den Kämpfen in Haifa erschien, trug die Überschrift: „Die Bedeutung des Sieges in Haifa“. Es hieß da: „Wir müssen auch ein Nebenprodukt erwähnen. Die Tausende von arabischen Flüchtlingen, die in panischer Flucht arabische Städte und Dörfer erreichen, sind auch ein positives militärisches Element für uns. Wir müssen uns an die Millionen Flüchtlinge in Frankreich und Polen während des deutschen Blitzkrieges erinnern, die den Vormarsch der [deutschen] Armee aufhielten und die Samen des Defätismus und Panik unter ihren Menschen säten und so zu ihrer dauernden Niederlage beitrugen.“ (Artikel in Davar, 25. April 1948)
Das arabische Dilemma
Zwei Geheimdienstberichte der Hagana über die Situation in Haifas arabischen Vierteln sind eine Woche nach der Eroberung der Stadt verfasst worden. In einem Auszug des ersten Berichts heißt es: „Sprach heute mit mehreren Muslims und Christen, die in der Stadt geblieben sind. Sie waren sehr verärgert über den 15. Mai [die Ankündigung des Einmarsches arabischer Armeen]. Auf der einen Seite glauben sie nicht an die Möglichkeit einer Invasion der arabischen Armeen; auf der anderen Seite sind sie besorgt, im Falle einer Invasion in schreckliche Not zu geraten, da man sie informiert habe, dass jeder, der Haifa nicht verlasse, als Verräter angesehen werde, der Verbindungen zu Juden unterhalte. Die Situation ist so angespannt, dass viele, die bleiben wollten, nun planen, die Stadt noch in dieser Woche zu verlassen.“
Der zweite berichtete: „Mr. Taharuna, der Generaldirektor der Spinni-Company sagte, dass alle arabischen Arbeiter Haifa verlassen hätten. Sie hätten gar nicht weggehen wollen, aber sie hätten offensichtlich einen Befehl von oben bekommen. Die Arbeiter hätten gesagt, sie würden in sechs bis acht Wochen zurücksein.“ Wie auch immer, der Bericht stellt fest: „Die Araber in Haifa sind verzweifelt und wissen nicht, was sie tun sollen – wegehen oder bleiben? Die meisten, die noch hier sind, warten darauf, ihren Lohn von der [britischen] Verwaltung zu bekommen, und wollen dann die Stadt verlassen, da jeder Araber, der in Haifa bleibt, in der Öffentlichkeit als Verräter an seinem Volk angesehen wird.“
Übersetzung: Arn Strohmeyer, Bremen
Zu dem Text ist eine Anmerkung zu machen: Er geht überhaupt nicht auf die Gesamtsituation der ethnischen Säuberung (Nakba) ein, die ab Ende des Jahres 1947 auf Anordnung der zionistischen Führung in vollem Gange war. Auch fehlen viele wichtige Details der Eroberung von Haifa. Hierzu sind zwei Bücher von israelischen Historikern zu empfehlen, die der Verfasser des hier wiedergegeben Textes nicht berücksichtig hat, die aber heute Standardwerke sind:
Flapan, Simcha: Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit, Neu Isenburg 2006
Pappe, Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt/Main 2007; Neuauflage 2014