von Prof. Dr. Rolf Verleger
Wilhelm Kempf war bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für Psychologie an der Universität Konstanz und dort Leiter der Projektgruppe Friedensforschung. 2008 bewilligte ihm die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Gelder für ein Projekt zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen „Israelkritik“ und „Antisemitismus”: dem Verhältnis zwischen kritischer Einstellung zu Israels Politik und Abneigung gegen Juden. Vor rund zwei Jahren hatte ich über erste Ergebnisse des Projekts berichtet; nun sind die erhobenen Daten umfassend aufgearbeitet und liefern neue Erkenntnisse.
Vermintes Gelände
Als die Projektbewilligung Ende 2008 ruchbar wurde, schwirrten erregte Reaktionen durch das Internet.
Die eine Seite befürchtete, dass dieses Projekt eine Unterfütterung der häufig zu hörenden Vorwürfe liefern würde, dass der wahre Grund für Kritik an Israel der ewige Antisemitismus sei.
Auf der anderen Seite fanden sich auch Menschen, die gegen Kempf wegen seiner Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex den Vorwurf des Antisemitismus erhoben, weil das Projekt den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Israelkritik leugnen könnte.
Als ich – neugierig geworden – an Kempf schrieb, um Informationen aus erster Hand zu erhalten, hatte dies das unerwartete Ergebnis, dass er mich zum Berater im Projekt ernannte. So habe ich auf Besprechungen und in schriftlichem Austausch am Fortgang des Projekts teilhaben können.
Das Positive an der wissenschaftlichen Psychologie ist, dass sie neue empirische Befunde liefern muss. Auch und gerade über so emotional aufgeladene Fragen wie Antisemitismus sollte sie es nicht bei Spekulationen belassen, wie sie in Zeitungsredaktionen oder in Parlamentsdebatten angestellt werden. Daran hat sich Kempfs Projekt gehalten; eine Fülle neuer Daten sind erhoben und ausgewertet. Man kann sagen: Es sind interessante Dinge herausgekommen.
DAS ZEITUNGS-EXPERIMENT
Dringend gesucht: Friedliche Israel-Freunde
In einer Studie des Projekts an ca. 400 Personen aus allen Bevölkerungsschichten bekam jede Person einen Zeitungsartikel zum Nahostkonflikt vorgelegt.
Davor wurden die Teilnehmer zu ihrer Einstellung zum Nahost-Konflikt und zur Befürwortung friedlicher oder kriegerischer Lösungen dieses Konflikts befragt. Gemäß diesen Einstellungen ließen sich vier Gruppen unterscheiden. A) „Uninformierte Pazifisten“ (14% der Teilnehmer): Keine Position zum Konflikt und wenig Kenntnis, aber jedenfalls für friedliche Lösung. B) „Informierte Pazifisten“ (42%): Kenntnis des Konflikts, Anerkennung der Interessen beider Seiten als legitim. C) „Palästinafreunde“ (35%): Parteinahme für die Palästinenser, wobei der größere Teil friedliche Mittel der Konfliktlösung befürwortete. D) „Israelfreunde“ (9%): Parteinahme für Israel, mit Befürwortung gewaltsamer Mittel.
Ein erstes interessantes Ergebnis dieser Studie war also: Wer heutzutage in Deutschland im Nahostkonflikt für Israel Partei ergreift (Gruppe D), der befürwortet gewaltsame Mittel der Konfliktbewältigung: Es gibt so gut wie keine Leute, die Partei für Israel ergreifen und den Konflikt friedlich lösen wollen. (s. auch unten, die größere Studie.)
Auf die gemischte Zusammensetzung der „Palästinafreunde“ komme ich weiter unten zurück, anhand der größeren Studie.
Frieden und Versöhnung: die größten Übel?
Jeder Teilnehmer bekam nun einen Zeitungsartikel zu lesen. Der Artikel handelte von einem Gewaltakt entweder der palästinensischen Seite (Selbstmordanschlag in Tel-Aviv im April 2006) oder der israelischen Seite (Militäreinsatz gegen den Gasa-Streifen im Frühjahr 2008). Die Original-Zeitungsartikel wurden vor der Studie von Kempfs Team auf drei Arten bearbeitet: Entweder sollten sie einen deeskalationsorientierten, friedlichen Ansatz vermitteln (Zwischenüberschriften u.a. „im Kreislauf der Gewalt“, „die Bevölkerung auf beiden Seiten ist traumatisiert“) oder sie sollten einen eskalationsorientierten, kriegerischen Ansatz propagieren, entweder pro-Israel („Hamas schickt weitere Raketen“) oder pro-Palästina („die Lage im Gasa-Streifen ist verzweifelt“). Diese Bearbeitungen betrafen sowohl den Titel als auch die Zwischenüberschriften (in der hier dargestellten Art), den Inhalt und das Bildmaterial.
Jeder Studienteilnehmer sah einen dieser Artikel und wurde nach dem Lesen danach gefragt, ob der Artikel parteilich geschrieben sei, und wenn ja, parteilich für welche Seite.
Die Antworten von „Uninformierten Pazifisten“ (oben beschriebene Gruppe A) ergaben ein konfuses Muster; dies soll hier nicht weiter besprochen werden.
Die Antworten von „Informierten Pazifisten“ und „Palästinafreunden“ (Gruppen B und C) ergaben das zu erwartende Muster: Die pro-Israel-Version wurde als parteilich für Israel eingeschätzt, die deeskalationsorientierte Version als relativ unparteilich, und die pro-Palästina-Version als parteilich für Palästinenser.
Unerwarteter, und daher interessant, waren die Einschätzungen der „Israelfreunde“ (Gruppe D); diese fanden ebenfalls die pro-israelische Version parteilich für Israel und die pro-palästinensische Version parteilich für Palästinenser. Jedoch die deeskalationsorientierte Version fanden sie nicht neutral, sondern noch extremer parteilich für Palästinenser als die eskalationsorientierte pro-Palästina-Version: Zeitungsartikel über den Konflikt, die auf Basis der Werte von Frieden und Mitmenschlichkeit geschrieben sind, richten sich nach Einschätzung von Israelfreunden direkt gegen Israel.
DIE REPRÄSENTATIVE UMFRAGE
Methodik
Die Hauptstudie des Projekts war eine große Befragung zum Zusammenhang von Einstellungen gegenüber Juden und gegenüber Israel in der deutschen Bevölkerung. In Südbaden und Thüringen wurden ca. 1700 Personen befragt und daraus eine Stichprobe von ca. 1000 Personen herausgefiltert, die in Alter, Geschlecht und Bildung repräsentativ für die deutsche erwachsene Bevölkerung ist. Neben solchen demographischen Daten wurde auch die Parteipräferenz erfragt und vor allem: Einstellungen zur Verteidigung von Menschenrechten und zu ihrer Durchsetzung, zu Juden, zur Judenvernichtung durch Nazideutschland (Schlussstrich unter die Vergangenheit, Täter-Opfer-Umkehr), zum Zionismus, Faktenkenntnis über Israel, Einstellung zum Palästinakonflikt, persönliche Betroffenheit vom Konflikt, Parteinahme für eine der beiden Seiten und Befürwortung von friedlichen oder gewaltsamen Mitteln bei dieser Parteinahme.
Die Befragung wurde hauptsächlich im zweiten Halbjahr 2010 durchgeführt. Inwieweit die Ergebnisse durch die gewaltsame israelische Erstürmung der Mavi-Marmara–Hilfsflotte für Gasa beeinflusst waren oder stabile Einstellungen widerspiegeln, lässt sich durch diese einmalige Befragung nicht beantworten.
Um die Antwortschwelle der Probanden zu senken, wurden die Fragen zu Einstellungen nicht eingeleitet mit „Was denken Sie?“, sondern mit der Passage „Bitte geben Sie an, wie sehr Sie die folgenden Meinungsäußerungen für sachlich rechtfertigbar oder für ein unbegründetes Vorurteil halten.“ Es folgten dann die Fragen mit einer fünfstufigen Antwortskala von „gerechtfertigt“ über „teils-teils “ bis „Vorurteil“.
Antisemitismus
Die Fragen bestanden unter anderen aus je drei Äußerungen zur Abneigung (z.B.: „Es ist besser, man hat mit Juden nichts zu tun“) und zur Ausgrenzung (z.B. „Man sollte sich nicht auf Geschäfte mit Juden einlassen“). Die Zahl der Personen, die solche Äußerungen rechtfertigbar nannten, variierte je nach Äußerung; bei den beiden genannten lag sie bei 8% und 9% der Stichprobe. Höhere Zustimmungswerte erhielten z.B. Äußerungen zu übergroßem politischem Einfluss („Es gibt ein jüdisches Netzwerk mit großem Einfluss auf politische und wirtschaftliche Vorgänge auf der Welt“: 21%) und zum Blick nur noch nach vorn (z.B.: “Jahrzehnte nach Kriegsende sollten wir nicht mehr so viel über die Judenverfolgung reden, sondern endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen”: 48%).
Sind nun also 8% oder 48% der Bevölkerung antisemitisch? Kann man überhaupt annehmen, dass eine einheitliche Eigenschaft “Antisemitismus” diesen Antworten zugrundeliegt? Um das zu klären, ist es offensichtlich sinnvoll, für jede Äußerung auszuzählen, ob Menschen, die diese Äußerung für rechtfertigbar halten, auch die gleichen Menschen sind, die die anderen Äußerungen für gerechtfertigt halten. Noch interessanter ist es auszuzählen, wie sich Menschen, die diese Äußerungen für gerechtfertigt halten, in anderen Fragen positionieren.
In diesem Sinne war die Hauptfrage der Studie, wie die Zustimmung zu Äußerungen gegen Juden mit Antizionismus, mit der Einstellung zum Nahostkonflikt und mit generellen politischen Einstellungen zusammenhängt.
Antizionismus
Die Fragen zum Antizionismus bestanden aus je drei Äußerungen zum „Israel-bezogenen Antisemitismus“ (z.B. „Ohne die weltweite Macht des Judentums könnte sich Israel nicht so leicht über internationales Recht hinwegsetzen.“) und direkt zum „Antizionismus“ (z.B. „Zionismus ist im Wesentlichen eine Art von Rassismus.“). Ungefähr ein Viertel der Befragten (bei den genannten Äußerungen 29 % und 25%) nannten dies rechtfertigbare Meinungen.
Einstellungen zu verwandten Themen
Sind diese Kritiker des Zionismus nun die gleichen Personen, die Vorbehalte gegen Juden äußern? Ein leitender Gedanke bei der Planung der Studie war, dass auch diese Frage nicht tief genug schürft: Es kommt darauf an, noch besser einzuordnen, was Leute denken, die den einen oder den anderen Meinungen zustimmen. Daher wurden auch abgefragt:
– Einstellungen gegen Israel. Z. B. “Die Bundesregierung sollte Druck auf Israel ausüben, damit es seine Palästina-Politik ändert.” (32% Zustimmung).
– Einstellungen gegen Palästina. Z. B. “Die Hamas ist eine terroristische Organisation, mit der man nicht verhandeln darf.” (31%).
– Einstellungen gegen den Islam. Z. B. “Durch das Anwachsen der islamischen Bevölkerung fühlt man sich zunehmend als Fremder im eigenen Land.” (25%).
– Menschenrechtsorientierung. Z. B. “Es macht mich zornig, wenn ich erlebe, wie Minderheiten benachteiligt werden.” (75%).
– Grenzen der Moral. Z. B. “Wenn friedliche Mittel einen Konflikt nicht effektiv zu lösen vermögen, halte ich den Einsatz militärischer Interventionskräfte für gerechtfertigt.” (46%).
– Nähe zum Konflikt. Z .B. “Sind sie schon einmal in Israel gewesen?” (8%); “In den Palästinensergebieten?” (5%); “Haben Sie schon einmal persönlichen Kontakt mit Palästinensern gehabt?” / ”Kontakt mit Israelis?” (S. Tabelle 1.)
– Positionierung im Konflikt. Z. B. “Es sollte von allen Beteiligten darauf hingearbeitet werden, dass die Israelis in eine angstfreie und friedliche Zukunft blicken können.” (76%); “… dass die Palästinenser ein friedliches und selbstbestimmtes Leben führen können.” (83%); “Israel ist unnachgiebig und versucht, die bestehenden Verhältnisse mit Gewalt aufrecht zu erhalten” (53%); “Die palästinensische Führung ist zu Kompromissen nicht bereit und versucht, ihre Maximalziele ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen.” (37%).
– Chancen von Krieg oder Frieden. Z. B. “Mit Konsequenz und militärischer Stärke kann die Existenz Israels langfristig gesichert werden.” (16%); “Durch konsequenten bewaffneten Widerstand kann ein palästinensischer Staat erzwungen werden.” (7%); “Die Rückkehr zu den Grenzen von 1967 würde für Israel ein großes Sicherheitsrisiko darstellen.” (21%).
Drei Gruppen von Einstellungen
Mit “latent class” – Analyse (einem mathematischen Klassifikationsverfahren) wurden nun die ca. 1000 Befragten der repräsentativen Stichprobe aufgrund ihrer Antwortmuster zu den oben aufgezählten Themen in Gruppen eingeteilt. Es ergaben sich neun Gruppen, die man zu drei Hauptgruppen zusammenfassen kann, nämlich – sehr plakativ ausgedrückt – Israelfreunde (Hauptgruppe 1), politisch Rechtsstehende (Hauptgruppe 2) und Palästinafreunde (Hauptgruppe 3).
Hauptgruppe |
||||
1 |
2 |
3 |
||
Bezeich-nung |
Israel-freunde |
Rechte |
Palästina-freunde |
|
Anteil |
31% |
26% |
44% |
|
Antisem. |
2,2 |
2,7 |
1,5 |
|
Antizion. |
2,9 |
3,4 |
2,5 |
|
Antipal. |
2,8 |
2,9 |
2,2 |
|
Pers. Isr. |
20% |
28% |
50% |
|
Pers. Pal. |
13% |
22% |
39% |
|
Tabelle 1: Die drei Hauptgruppen.
“Anteil”: an der repräsentativen Stichprobe. Die Zahlen in den Zeilen “Antisem.”(itisch), “Antizion.”(istisch), “Antipal.”(ästinensisch) sind Mittelwerte der Einschätzungen der Äußerungen; die Skala jeder Einschätzung reicht von 1 (“Vorurteil”) über 3 (“teils, teils”) bis 5 “rechtfertigbar”. “Pers.” bedeutet, ob man jemals persönlichen Kontakt hatte, mit “Isr.”(aelis) oder “Pal.”(ästinensern). Die Prozentwerte sind Anteile an der Hauptgruppe. (Z.B. 20% der Hauptgruppe 1 hatten Kontakt mit Israelis.)
Hauptgruppe 1: “Israelfreunde”
Hauptgruppe 1 (31% der Stichprobe) – hier plakativ “Israelfreunde” genannt – nimmt Partei für Israel, hat relativ wenige Kenntnisse vom Nahost-Konflikt (beispielsweise hatte nur jeder Fünfte jemals persönlichen Kontakt zu Israelis und nur jeder Achte zu Palästinensern: 20% bzw. 13% dieser Gruppe) – und bevorzugt überwiegend eine gewaltsame Behandlung dieses Konflikts. Diese Personen liegen sowohl bei den Fragen zu Antizionismus als auch bei Einstellung gegen Palästinenser im Mittelbereich, bei Antisemitismus im unteren Bereich, jedoch – verblüffenderweise, ich komme darauf zurück – höher als die “Palästinafreunde”.
Diese Hauptgruppe besteht aus zwei Gruppen: Die eine (11% der gesamten Stichprobe) scheint nicht genau angeben zu können, was sie will, die größere (20%) unterstützt deutlich Israel und bevorzugt die gewaltsame Konfliktlösung.
Hauptgruppe 2: “Rechtsstehende”
Hauptgruppe 2 (26% der Stichprobe) – hier plakativ “Rechtsstehende” genannt – nimmt eher Partei für Palästina als für Israel, ist teils für friedliche, teils für gewaltsame Konfliktlösung, hat durchgängig Vorbehalte gegen Zionismus und Juden und ebenso gegen Palästinenser und Islam und hat mäßig bis wenig Kenntnis des Konflikts (z.B. nur 28% hatten je Kontakt zu Israelis, 22% zu Palästinensern).
Diese Hauptgruppe besteht aus zwei Gruppen, einer radikaleren (7% der gesamten Stichprobe) und einer moderateren (19%).
Hauptgruppe 3: “Palästinafreunde”
Hauptgruppe 3 (44% der Stichprobe) – hier plakativ “Palästinafreunde” genannt – nimmt überwiegend Partei für Palästina, ist teils für friedliche, teils für gewaltsame Konfliktlösung, zu einem großen Teil zwischen diesen beiden Alternativen schwankend, ist nicht antisemitisch und nicht anti-palästinensisch, hält die Menschenrechte hoch, ist mäßig bis stark antizionistisch und hat die größte Kenntnis des Konflikts: beispielsweise hat jeder Zweite mit Israelis Kontakt gehabt (50% dieser Hauptgruppe) und mehr als jeder Dritte (38%) mit Palästinensern.
Diese Hauptgruppe teilt sich in fünf Gruppen: Gruppe 3.1 möchte strikt friedliche Mittel (6% der gesamten Stichprobe), Gruppen 3.2 und 3.3 schwanken zwischen Unterstützung friedlicher und gewaltsamer Mittel (34%), Gruppen 3.4 und 3.5 plädieren für gewaltsame Mittel (4%). Gruppe 3.1 hat wenig Kenntnis und emotionale Bindung zum Konflikt und hält die Menschenrechte mäßig hoch; all dies steigt in den Gruppen 3.2, 3.3, 3.5, 3.4 (in dieser Reihenfolge) massiv an. Gruppen 3.1-3.4 haben die wenigsten Vorbehalte gegen Juden (“antisem.”) von allen Befragten, nur Gruppe 3.5 liegt hier etwas höher – immer noch im unteren Bereich – und bewegt sich damit auf dem Niveau der Israelfreunde (Hauptgruppe 1); nicht nur sind die Gruppen 3.1-3.4 weniger antisemitisch als die Israelfreunde (Hauptgruppe 1), die Gruppen 3.1-3.3 sind auch eher weniger antizionistisch als die Israelfreunde; erst in den Gruppen 3.4 und 3.5 steigt dies an.
Zusammenfassung der Hauptgruppen
Plakativ kann man also sagen: Ein knappes Drittel (31%) der Bevölkerung erscheint als Israelfreunde – wobei sie sich über diesen Konflikt nicht gut auskennen – , ein Viertel (26%) sind rechtsstehend und eher gegen Israel eingestellt – wobei die “rechten” Ansichten wichtiger erscheinen als die Einstellungen zum Nahostkonflikt – , und knapp die Hälfte (44%) sind Palästinafreunde, mit der Kerngruppe derjenigen, die sich über diesen Konflikt auskennen und persönliche Kontakte zu Israelis und Palästinensern haben – einer Kerngruppe, die es in den beiden anderen Hauptgruppen kaum gibt.
Die deutlichsten Einstellungen gegen Juden als Gruppe findet sich bei den Rechtsstehenden (Hauptgruppe 2), die wenigsten bei den Palästinafreunden (Hauptgruppe 3), die Israelfreunde (Hauptgruppe 1) liegen in der Mitte, haben also mehr Vorbehalte gegen Juden als die Palästinafreunde.
Parteipräferenzen
Kempfs Team fragte auch mittels der “Sonntagsfrage” (“Wenn morgen Wahlen wären …”) nach Parteipräferenzen.
Die Antworten (Tabelle 2) bestätigen die inhaltliche Klassifikation in die drei Hauptgruppen (die ohne Kenntnis der Parteipräferenz geschah): Von den (wenigen) NPD-und “Republikaner”-Anhängern hatte die latent-class – Analyse aufgrund ihrer Antwortmuster 85% in die “rechte” Hauptgruppe 2 eingeordnet, und keinen in die Hauptgruppe 3 der menschenrechtsorientierten Palästinafreunde.
Hauptgruppe |
||||
1 |
2 |
3 |
||
Bezeichnung |
Israel-freunde |
Rechte |
Palästina-freunde |
|
CDU/CSU |
32% |
36% |
32% |
|
SPD |
30% |
25% |
45% |
|
FDP |
35% |
19% |
45% |
|
Grüne |
29% |
13% |
57% |
|
Linke |
27% |
21% |
51% |
|
NPD&Rep |
15% |
85% |
0% |
|
Tabelle 2: Parteipräferenzen in den drei Hauptgruppen. Die Prozentzahlen beziehen sich jeweils auf die Partei. Z.B. 30% der SPD-Wähler sind Israelfreunde, 25% sind Rechte, 45% sind Palästinafreunde.
Die Parteipräferenzen zeigen auch, warum sich die großen Parteien so schwer tun, eindeutige Position zum Nahostkonflikt zu beziehen: Zwar ist in allen Parteien außer der CDU (und der NPD) die Mehrheit für Palästina (45%-57%), aber es gibt auch jeweils die Gruppe von ca. 30% Israelfreunden. Außerdem müssen die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD mit größeren Anteilen Rechtsgesinnter klarkommen (36% und 25% ihrer Wähler), die gegenüber allen Beteiligten am Nahostkonflikt Vorbehalte haben.
Bewertung
Eine Sichtweise in der veröffentlichten Meinung – von Medien, Politikern, Vertretern jüdischer Organisationen – besagt, (A) dass es auf der einen Seite die “anständigen Deutschen” gebe, auf der anderen Seite die “Antisemiten”, und dass (B) “Israelkritik” zwar legitim sei, wenn sie in Maßen erfolge, aber leicht Ausdruck eines “neuen Antisemitismus” sein könne – insbesondere wenn sie nicht in Maßen erfolge – und daher dann illegitim sei. Aus (A) und (B) folgt, dass das Fehlen oder Vorhandensein übermäßiger Israelkritik ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen anständigen und antisemitischen Deutschen sei.
Die Studienergebnisse zeigen, dass diese Sichtweise an der Realität vorbeigeht. Es gibt zwar Menschen mit Vorbehalten gegen Juden (Hauptgruppe 2), denen eine große Gruppe “anständiger” Deutscher, ohne solche Vorbehalte gegenübersteht (Hauptgruppe 3). Jedoch haben beide Gruppen Vorbehalte gegen Israel – dies unterscheidet nicht diese Gruppen. Und, um die Verwirrung noch zu vergrößern: Die Gruppe ohne Vorbehalte gegen Israel (Hauptgruppe 1) hat mehr Vorbehalte gegen Juden als die Palästinafreunde (Hauptgruppe 3).
Nun könnten die Vertreter der besagten Sichtweise sagen: Die Palästinafreunde (Hauptgruppe 3) seien ebenso antisemitisch wie die Rechten (Hauptgruppe 2); sie habe nur einfach die Vorbehalte gegen Juden durch die Vorbehalte gegen Israel ersetzt. Unerklärlich für diese Sichtweise ist nun aber, dass genau diese Gruppe die meisten persönlichen Kontakte sowohl mit Israelis als auch mit Palästinensern hat: Wenn das “Antisemiten” sind, mit Vorbehalten gegen Israel, warum haben sie dann mehr Kontakt mit Israelis als die “anständigen” Israelfreunde? Auch sind die Menschen mit Vorbehalten gegen Juden und gegen Israel (Hauptgruppe 2) nicht etwa Parteigänger Palästinas, sondern haben genauso große Vorbehalte gegen Palästinenser und Moslems wie gegen Juden und Israel.
Die Sichtweise, dass all diese Einstellungen durch unterschiedliche Ausprägungen und Formen von Antisemitismus verursacht werden, kann die erhobenen Daten nicht erklären.
Ein realitätsnäheres Modell anhand dieser Daten ist: Etwa ¼ der Deutschen ist für “rechte” Stimmungen gegen Moslems und Juden anfällig. Drei Viertel der Deutschen hegen solche Vorbehalte nicht. Diese drei Viertel teilen sich bezüglich des Nahostkonflikts ein in ein rundes Viertel der Deutschen, die relativ wenig Kenntnis des Konflikts haben und daher aus allerlei Motiven Israel zu unterstützen scheinen und der knappen Hälfte der Deutschen, die mehr über diesen Konflikt wissen, sich aktiv informieren, für die Gerechtigkeit Partei nehmen und daher für die Palästinenser Partei ergreifen.
Das heißt, die Einstellungen zu Juden und Israel in der deutschen Bevölkerung sind nicht auf eine Dimension (“Antisemitismus”) zurückführbar, sondern auf die zwei Dimensionen, ob man Vorbehalte gegen Andere hegt oder nicht (“Vorurteil”) und ob man sich für den Nahostkonflikt und die daran beteiligten Menschen interessiert oder nicht (“Interesse”). Die israelische Position wird unterstützt von Personen mit einem Mittelmaß an Vorurteilen gegen Andere und relativ wenig Interesse am Nahostkonflikt. Die palästinensische Position wird unterstützt von Personen mit wenig Vorurteilen gegen Andere und viel Interesse am Nahostkonflikt. Quer dazu stehen Personen mit vielen Vorurteilen gegen Andere und wenig Interesse am Nahostkonflikt, die je nach Ausprägung der Vorurteile zumeist mehr gegen Israel als gegen Palästina Position ergreifen.
FAZIT
Die deutsche Politik
Die deutsche Politik gibt sich sowohl israelfreundlich als auch friedensorientiert. Diese Position ist aber in der realen Meinungswelt der Bevölkerung nicht vorhanden.
Diese fehlende Verankerung in der Bevölkerung kann man auf zwei Weisen bewerten. Auf der einen Seite kann man die Positionierung der deutschen Politik als einen Versuch ansehen, die Realität hin zu dieser wünschbaren Position zu ändern. (Und wünschbar wäre diese Position in der Tat, s. unten.) Auf der anderen Seite kann man diese Position aber auch als ein hohles Luftschloss ansehen, dessen wesentlicher Zweck es ist, den Blick von der Realität abzuwenden.
Für diese Luftschloss-Interpretation spricht der Umgang der Politik mit Kritik an der israelfreundlichen Position: Es werden routinemäßig Statements geäußert und Bundestagsdebatten abgehalten zur Gefahr des Umschlagens von Kritik an Israels Position in Antisemitismus und ganz schlicht zur Gleichsetzung von Kritik an Israel mit Antisemitismus. Jedoch, wie diese Umfrage zeigt: Für eine solche Gleichsetzung gibt es keinen Anlass. Allein schon der Begriff “Israelkritik” ist ein ideologisches Konstrukt. Die Gegner der israelischen Politik sind nicht primär Kritiker Israels; vielmehr sind sie diejenigen, die Israel am besten kennen: Sie sind aufgrund dieser Kenntnis Palästinenserfreunde geworden, und so sollten sie genannt werden.
Die realistische Sorge einer am Ziel eines gerechten Friedens ausgerichteten Politik müsste sein, die Unterstützer Israels von ihrem Kurs der Gewaltbereitschaft und der Ablehnung friedlicher Kompromisse abzubringen.
Israel und Judentum
Die Befunde zum Fehlen einer pro-israelischen, friedensorientierten Position kommen nicht wirklich unerwartet, wenn man ein paar Diskussionen mit „Israelfreunden“ geführt hat. Trotzdem sind die Befunde erschütternd. Denn sie zeigen die Änderung in der Ausstrahlungskraft des Judentums.
Streben nach Frieden und Mitmenschlichkeit war bis vor kurzem das Markenzeichen des Judentums. Diese Werte bestimmten auch die Hauptlinie des Zionismus unter Führung von Weizmann bis 1940: Diese Hauptlinie – selbstverständlich israelfreundlich, da für den Aufbau der jüdischen Heimstätte in Palästina arbeitend –, verfolgte ihr Ziel grundsätzlich mit friedlichen Mitteln, ungeachtet des teilweise gewalttätigen arabischen Widerstands gegen das Projekt. Heute dagegen wird das Projekt „Israel“ von seinen Unterstützern als Antithese zu Friedfertigkeit und allgemeiner Menschenliebe verstanden.
Quellen
Dieser Bericht basiert auf der Arbeit des Projekts von Wilhelm Kempf Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus (Aktenzeichen KE300/8-1 bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft), insbesondere auf folgenden Arbeitsberichten:
Kempf, W. (2013) Documentation of the Anti-Semitism and the Criticism of Israel (ASCI) survey. Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 75, 2013, www.regener-online.de, ISSN 1611-1818
Thiel, S., Kempf, W. (2014) Audience reactions to peace journalism: How supporters and critics of the Israeli policy process escalation and de-escalation oriented media frames. Conflict & Communicaton online 13(1), www.cco.regener-online.de
Information zum Autor
Rolf Verleger, * 1951 in Ravensburg, Studium der Psychologie 1970-76 in Konstanz, Promotion in Psychologie 1986 bei Prof. Birbaumer in Tübingen, Habilitation 1994 in Lübeck, seit 1998 apl. Professor an der Universität Lübeck (Klinik für Neurologie). Forschungsschwerpunkt in kognitiver Neurowissenschaft und Neuropsychologie, >135 begutachtete Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften.
1953-1969 intensive religiöse Beschäftigung mit dem Judentum (Gebetbuch, Tora, Mischna, ein wenig Gemara), 1964 Bar-Mizwa.
1969 – ca. 1986 religionsfreie Zeit.
1994-2001 aktive Beteiligung am Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde Lübeck. 2001-2005 im Vorstand der neugegründeten Gemeinde, 2005-2006 Vorsitzender des Landesverbands Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein, 2006-2009 Delegierter des Landesverbands im Zentralrat der Juden in Deutschland. 2006 offener Brief zum Libanonkrieg, 2006/2007 Aktion „schalom5767“, Buch „Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht“ (3. Auflage 2010), 2009-10 Vorsitz der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“.
Quelle (mit freundlicher Genehmigung): http://othersite.org/rolf-verleger-antisemit-oder-vorurteilslos-und-interessiert-die-konstanz-jenaer-studie-zu-einstellungen-zum-nahostkonflikt-2/