Es sollte keiner Gedenktage bedürfen, um auf einen schon Jahrzehnte schwelenden Konflikt aufmerksam zu machen, der periodisch in kurze, aber brutale Kriege aufflammt und die ganze Region in einer latenten Krisen- und Kriegsgefahr nicht zur Ruhe kommen lässt. Durch die regelmäßigen Gewaltexzesse der Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten, die unmenschlichen Existenzbedingungen im eingeschnürten und belagerten Gazastreifen und die politischen Wendungen eines ultrarechten Besatzungsregimes, wird uns immer wieder ein Katastrophenszenario in den Medien präsentiert, welches unter normalen Bedingungen die heftigsten Reaktionen der UNO und der EU hervorrufen würde.
Doch die Bedingungen sind nicht normal, die einflussreichsten Staaten der UNO und der EU sind durch die Fehler und Verbrechen ihrer eigenen Geschichte gelähmt und verwalten einen Kriegszustand, der zwar nicht ihren propagierten Werten entspricht, aber offensichtlich ihren Interessen nicht widersprechen muss. Sie verschließen die Augen vor einer Katastrophe, die sie selbst mit zu verantworten haben.
Glückwunsch?
Der 70. Jahrestag der Gründung Israels ist nicht nur im Land selbst groß gefeiert worden, es hat Glückwunschadressen aus aller Welt erhalten, die den Geburtsfehler dieses Staates und seine furchtbaren Auswirkungen bis heute verschweigen. Auch der Deutsche Bundestag hat in einer Resolution aller Fraktionen außer der LINKEN das Jubiläum begrüßt und den Weg des Staates als erfolgreich gelobt, ohne allerdings die Kehrseite dieses Geburtstages, die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser aus ihrem neuen Staat zu erwähnen.
Die Fraktion der Partei DIE LINKE hat gemeinsam mit der Fraktion der Grünen eine Erklärung in den Bundestag eingebracht, die mit den Worten beginnt:
„Die Gründung des Staats Israel vor 70 Jahren ist eine herausragende und bleibende Leistung, die für uns ein Grund zum Feiern ist … Israel blickt heute mit Stolz auf 70 Jahre Demokratie mit einer lebendigen und pluralistischen Zivilgesellschaft und einer immensen Vielfalt in den Formen des Zusammenlebens.“
Aber auch diese Erklärung findet keine Worte zu der Katastrophe — Naqba —, die für die Palästinenser mit der Staatsgründung verbunden war, und immer noch andauert. Ihre Erinnerung an die Naqba dürfen sie zwar öffentlich nicht zum Ausdruck bringen, sie dokumentierten sie jedoch auf ihre Art zur gleichen Zeit mit einem symbolischen „Marsch der Rückkehr“ an der Grenze in Gaza zu Israel. Während der wöchentlichen Demonstrationen, die am 30. März begannen, wurden nach UNO-Angaben bis zum 30. August 179 Palästinenserinnen und Palästinenser von israelischen Scharfschützen getötet und 18.739 verletzt. Ein Israeli wurde getötet und 37 verletzt.
Die Erklärungen aller Parteien im Bundestag haben auch diese Barbarei ausgeblendet, wahrlich ungeeignet für einen Glückwunsch.
Die Wurzeln dieser Tragödie reichen zurück bis zu den Anfängen der zionistischen Kolonisation Ende des 19. Jahrhunderts. 1896 hatte bereits Theodor Herzl gesagt: „Die Juden, die ihren Staat wollen, werden ihn haben“ (1). Dieses Ziel verankerte der Basler Kongress 1897 dann in seinem Programm: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ (2).
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Siedlungsbewegung zu einer scharfen Konfrontation mit der einheimischen arabischen Bevölkerung führen musste. Schon 1919 stellte die von Präsident Wilson eingesetzte sogenannte King-Crane-Kommission nach ihrer Reise in die Region fest,* „dass die nichtjüdische Bevölkerung — fast 9/10 der Gesamtbevölkerung — das gesamte zionistische Projekt absolut ablehnt. Die Tatsachen beweisen, dass die Bevölkerung in keinem Punkt eine größere Übereinstimmung zeigt. Wenn man also einer so eingestellten Bevölkerung eine unbegrenzte jüdische Einwanderung auferlegt und sie einem immer stärkeren finanziellen und sozialen Druck aussetzt, um sie dahin zu bringen, Land abzutreten, wäre das eine ernsthafte Vergewaltigung des eben angeführten Prinzips (der wirtschaftlichen und politischen Selbständigkeit aufgrund der freiwilligen Annahme des betroffenen Volkes, N.P.) und auch des Völkerrechts, selbst wenn diese Vorgänge sich hinter der Fassade der Legalität abspielen“ (3).*
Als sich die Spannungen 1936 in einem Aufstand der Palästinenser entluden, sandte die englische Mandatsregierung die nach ihrem Vorsitzenden benannte Peel-Kommission nach Palästina, die als Ergebnis ihrer zahlreichen Gespräche die Teilung des Landes zwischen den „zwei nationalen Gemeinschaften“ vorschlug.
Der Aufstand wurde blutig von der britischen Kolonialtruppe mit Hilfe der jüdischen Siedler niedergeschlagen, der Teilungsplan aber blieb. Er wurde 1947, nachdem sich Großbritannien aus dem Mandat zurückgezogen hatte, von der Jewish Agency aufgegriffen. Sie legte dem Spezialkomitee der UNO für Palästina (UNSCOP), welches sich nun mit der Lösung des Konfliktes zu beschäftigen hatte, im Mai 1947 eine Karte für einen jüdischen Staat vor, der 80 Prozent Palästinas einnehmen sollte. Die UN-Generalversammlung reduzierte diesen Anspruch mit ihrer Resolution 181 vom 29. November 1947 auf immerhin noch gut 56 Prozent des palästinensischen Territoriums für einen jüdischen Staat.
Ein Teilungsprozess, der faktisch ohne Beteiligung der einheimischen Palästinenserinnen und Palästinenser gegen ihren Widerstand dekretiert wurde, und dem sie nicht zustimmen konnten. Die Wiege des neuen Staates stand also auf Kolonialterritorium, welches unter dem Schutz und mit der Hilfe der Mandatsmacht Großbritannien entgegen ihrem Mandatsauftrag von den jüdischen Siedlern erkämpft worden war.
Siedlerkolonialismus
Man wird die Triebfedern der gegenwärtigen Politik Israels nur unvollständig verstehen, wenn man dieses zionistische Projekt der Landnahme und –eroberung unterschätzt. Es war von Anfang an auf das ganze „Heilige Land“ projektiert und sah in der Staatsgründung 1948 nur eine Etappe auf dem Weg zur vollständigen „Befreiung“ des palästinensischen Territoriums für die jüdische Besiedlung.
Der sogenannte Sechstagekrieg 1967 mit der Besetzung Ostjerusalems und des Westjordanlandes und die Annexion ganz Jerusalems 1980, welches die UNO als separate Einheit internationalisiert und damit der Souveränität Israels und Jordaniens entzogen hatte, waren die logischen Folgeschritte der zionistischen Strategie. Sie wird bis heute durch eine nur zeitweise gebremste Siedlungspolitik verfestigt, sodass die Gründung eines zweiten Staates auf dem ohnehin stark eingeschränkten Territorium des Westjordanlandes und des Gazastreifens heute nicht mehr möglich erscheint.
Die Ausrufung eines palästinensischen Staates durch PLO-Präsident Yassir Arafat 1988 konnte sich zwar auf ein noch etwas stärker zusammenhängendes Territorium stützen. Die Tatsache, dass er den Staat in Schweden ausrufen musste, symbolisiert zur Genüge den virtuellen Charakter dieses Gebildes, welches von den entscheidenden Mächten der UNO nie anerkannt wurde.
Nur ein Faktor unterscheidet diese Form der Landeroberung noch von den klassischen Formen des Siedlerkolonialismus, wie wir sie von den Kolonien Portugals in Afrika, in Südwestafrika und Südafrika her kennen. Das ist die Rolle der einheimischen Arbeitskraft. Während der klassische Siedlerkolonialismus auf der Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung der autochthonen Arbeitskraft beruhte, propagierte der zionistische Siedlerkolonialismus die „jüdische Arbeit“ und zielt bis heute auf die Vertreibung der Bevölkerung (4).
„Land ohne Volk für das Volk ohne Land“ lautet der Israel Zangwill zugeschriebene zionistische Slogan. War das auch eher auf die falsche zionistische Propaganda gemünzt, dass die jüdischen Siedler in Palästina ein Land ohne Volk vorgefunden hätten, so gibt er dennoch das auch heute noch gültige Ziel der Landeroberung vor.
Das schließt nicht aus, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser zu Arbeiten in den Siedlungen, Fabriken und bei Infrastrukturarbeiten herangezogen werden. Sie werden jedoch nicht in den Wirtschaftskreislauf voll integriert. Ihre überwiegend bäuerliche Existenz wird durch fast tägliche Angriffe von Siedlern, die rigorose Beschränkung des Baus dringend benötigten Wohnraums, die Konfiskation von Land — sei es durch die Erklärung zu Staatsland oder den Bau der Mauer und des Sperrzauns auf ihrem Territorium — gefährdet.
Die fast ausschließliche Nutzung des fruchtbaren Jordantals durch über 10.000 israelische Siedler entzieht den Palästinensern nach Weltbankangaben circa 3, 4 Milliarden US-Dollar Gewinn pro Jahr und bedeutet eine unüberwindbare Konkurrenz für den Export eigener landwirtschaftlicher Erzeugnisse.
Die zahlreichen Schikanen an den Checkpoints machen zudem den Verkehr und die Kommunikation zu einem unerträglichen Hindernislauf, der normale Geschäftsbeziehungen selbst im eigenen Land verhindert (5). Die Summe all dieser politischen Einschränkungen und Diskriminierungen lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die Besatzungspolitik systematisch darauf ausgerichtet ist, das Leben in den besetzten Gebieten so zu erschweren, dass die Einwohner ihre Heimat schließlich freiwillig verlassen.
Demokratie?
Ein Gesetz, das in jüngster Zeit von der Knesset verabschiedet wurde, bestätigt und verfestigt diesen aggressiven Ausgrenzungswillen: Am 18. Juli 2018 hat das Parlament nach langer kontroverser Diskussion mit knapper Mehrheit das Grundgesetz „Israel: der Nationalstaat des jüdischen Volkes“ verabschiedet. Es beginnt mit den Worten:
„Das Land Israel ist die historische Heimat des jüdischen Volkes, in dem der Staat Israel entstand.“
Kein Wort von dem Volk, das sie dort vorfanden und dem sie ihr Land wegnahmen. Hinter dem Gesetz stehen im Wesentlichen die nationalreligiöse Partei „Jüdisches Heim“, Teile des konservativen „Likud“ Netanjahus und der säkular-nationalistischen Partei „Israel Beitanu“. Sie konnten sich gegen den breiten Widerstand in der Öffentlichkeit von Opposition und Zivilgesellschaft, sogar des Staatspräsidenten Reuven Rivlin, durchsetzen.
Darin sind sich Kritiker wie Unterstützer einig, es handelt sich wohl um eines der wichtigsten Gesetze, das je erlassen wurde. Denn ab jetzt ist auch gesetzlich festgelegt, dass der Staat jüdisch ist, kein Staat aller seiner Staatsbürger, er gewährt nur den Juden alle Rechte. In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 hatte es noch geheißen:
„Der Staat Israel wird sich der Entwicklung zum Wohl aller seiner Bewohner widmen.“
Nun hat nur noch der jüdische Charakter des Staates Israel Verfassungsrang. Gideon Levy weist in der Zeitung Haaretz am 23. Juli 2018 nüchtern darauf hin:
„Das Nationalstaat-Gesetz setzt dem vagen Nationalismus und dem gegenwärtigen Zionismus, wie er heute existiert, ein Ende. Das Gesetz beendigt die bisherige Farce, Israel sei, jüdisch und demokratisch‘ – eine Kombination, die nie existierte und nie existieren konnte. Denn der Widerspruch ist dieser Kombination inhärent. Die beiden Werte sind nie unter einen Hut zu bringen, außer mit Betrug … Es ist ein Gesetz voller Wahrheit“ (6).
Dieser Widerspruch zwischen jüdisch und demokratisch bestand seit der Gründung Israels, wurde aber verdrängt. Als jedoch in den neunziger Jahren in einer sogenannten „konstitutionellen Revolution“ (7) die Menschenrechte Verfassungsrang erhielten, drohte das liberale und demokratische Gewicht in der Gesellschaft den jüdischen Charakter des Staates zurückzudrängen. Kritik und Widerstand sammelten sich gegen diese unerwünschte Liberalisierung und Justizministerin Aeylet Shaked von der Partei Jüdisches Heim wird mit der Bemerkung zitiert:
„Wir müssen den jüdischen Charakter des Staates schützen, auch wenn das bedeutet, Menschenrechte zu opfern“ (8).
Zwar konnte eine Klausel, nach der die Bildung von national und religiös homogenen Gemeinden gefördert werden soll – in der Absicht allgemeiner Stärkung jüdischer Besiedlung –, abgeschwächt werden. Aber die Zurückstufung des Arabischen von einer offiziellen Sprache neben dem Hebräischen zu einem speziellen, dem Hebräischen untergeordneten Status, ist nicht nur symbolisch bedeutsam. Es verbannt Arabisch faktisch aus der Öffentlichkeit.
Das demokratische Prinzip der Gleichheit, welches bisher in keinem der Verfassungsgesetze verankert werden konnte, hat auch in dem Gesetz keinen Platz gefunden. Die „einzige Demokratie“ im Nahen Osten hat sich nun auch gesetzlich von der Demokratie verabschiedet, da ein jüdischer Staat ohne Gleichberechtigung nicht demokratisch sein kann. Gideon Levy hat Recht, wenn er sagt, dass das Gesetz nicht viel Neues erklärt, denn schon lange geht es der israelischen Politik nicht mehr einfach um das Existenzrecht Israels, sondern um das Existenzrecht des jüdischen Israels, in dem die palästinensischen Israelis — 20 Prozent der Bevölkerung — nur Bürger zweiter Klasse sind. Von welchem Palästinenser jedoch kann man verlangen, ein solches Israel anzuerkennen?
Wie gleichgültig dieser Regierung Demokratie, Recht und ihr eigenes Erscheinungsbild in der internationalen Öffentlichkeit sind, zeigte sie ebenfalls kürzlich, als sie ein Gesetz aus dem Jahr 2017 verteidigte, welches selbst der Generalstaatsanwalt Mandelblit für verfassungswidrig hält. Mit diesem Gesetz können jüdische Siedlungen, die nach israelischem Recht illegal sind, legalisiert werden. Abgesehen davon, dass nach internationalem Recht alle jüdischen Siedlungen im Westjordanland illegal sind, bedeutet dieses Gesetz eine weitere Verfestigung der Annexion. Gegen dieses Gesetz hatten seinerzeit 17 palästinensische Bürgermeister und drei Menschenrechtsorganisationen eine Petition beim Obersten Gericht eingebracht und dessen Annullierung gefordert.
Jetzt, eineinhalb Jahre später, reagiert die Regierung mit einem Schreiben an das Oberste Gericht, welches ihr gehütetes Bild von der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ zur Farce macht. Darin erklärt sie, dass „die Knesset das Recht hat, überall auf der Welt Gesetze zu erlassen“ und dass sie autorisiert ist, „die Souveränität fremder Länder durch Gesetze zu verletzen, die auf Ereignisse in ihren Territorien angewandt würden“.
Zumindest gesteht sie damit ein, dass das von ihr besetzte Westjordanland „fremdes Land“ ist, missachtet jedoch das in der UNO-Charta und den Genfer Konventionen verankerte Verbot, mit eigenen Gesetzen in fremdes Territorium einzugreifen. Wie dreist sich die Regierung über alles hinwegsetzt, was Recht und Gesetz unter den Mitgliedern der UNO ist, machte ihr Anwalt mit der Erklärung deutlich:
„Die Autorität der israelischen Regierung, ein Territorium zu annektieren oder internationale Konventionen einzugehen, leitet sich aus seiner von der Knesset festgelegten Autorität ab und die Knesset darf die Richtlinien des internationalen Rechts in jedem Bereich ignorieren, wie sie es für richtig hält.“
Die Empörung der Initiatoren der Petition ist vorerst die einzige Reaktion. Die Entscheidung des Obersten Gerichts steht noch aus. Allerdings sollten die Bürgermeister nicht allzu viel von ihr erwarten, da der Gerichtshof gerade die Räumung des Beduinendorfs Chan Al-Ahmar östlich von Jerusalem in dem strategisch wichtigen Gebiet E1, das das Westjordanland in eine Nord- und eine Südhälfte trennt, und die Umsiedlung seiner Bewohner gebilligt hat.
Apartheid
Die Knesset streift mit diesen Gesetzen allerdings nicht nur ihr demokratisches Gewand ab. Israel gerät immer mehr in die Kritik, zu verdrängen und zu leugnen, dass es über die Jahre ein System der Apartheid eingerichtet hat. So schreibt Gideon Levy:
„Es war angenehm, sagen zu können, dass Apartheid nur in Südafrika existierte, weil dort alles in rassistischen Gesetzen verankert war, während dem wir keine solche Gesetze hatten. Es war angenehm zu sagen, dass Hebron keine Apartheid sei, dass das Jordantal keine Apartheid sei und dass die Besetzung wirklich kein Teil der (israelischen) Herrschaft sei. Und zu sagen, dass wir die einzige Demokratie in dieser Region seien, trotz der Besetzung.“
Der Vorwurf der Apartheid gegen die israelische Politik gilt hierzulande inzwischen als eindeutiger Ausweis des Antisemitismus. Doch seit den Berichten der UNO-Beauftragten John Dugard, Richard Falk und Virginia Tilley über ihre Untersuchungen in den besetzten Gebieten kann es keinen Zweifel mehr daran geben, dass sich die Besatzung in ein gnadenloses System der Apartheid verwandelt hat.
So schloss John Dugard seinen Bericht über die besetzten palästinensischen Territorien, den er im Januar 2007 dem Menschenrechtsrat der UNO erstattet hatte, mit folgenden Worten ab:
„Die Menschenrechte in Palästina sind über sechzig Jahre auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen gewesen und besonders in den letzten 40 Jahren seit der Besetzung von Ost-Jerusalem, der Westbank und des Gazastreifens im Jahr 1967. Über Jahre hinweg konkurrierten die Besatzung von Palästina und die Apartheid in Süd-Afrika um die Aufmerksamkeit der Internationalen Gemeinschaft. 1994 endete die Apartheid und Palästina verblieb als einziges Entwicklungsland in der Welt unter der Unterdrückung durch ein dem Westen verbundenes Regime … Es gibt andere Regime, vor allem in der Dritten Welt, die die Menschenrechte unterdrücken, aber es gibt keinen anderen Fall eines mit dem Westen verbundenen Regimes, welches die Menschenrechte eines Entwicklungsvolkes unterdrückt und dieses schon so lange.“
Es war sein letzter Bericht über die verzweifelte Situation der palästinensischen Bevölkerung. Denn Dugard, südafrikanischer jüdischer Juraprofessor, der 2001 von dem Menschenrechtsrat zum besonderen Berichterstatter über die Situation der Menschenrechte ernannt worden war, bekam harsche Kritik von Israel und den USA wegen seiner Einseitigkeit und wurde 2009 auf Druck Israels durch den US-amerikanischen Kollegen Richard A. Falk abgelöst. Dugard bekannte in jenem Jahr, „ich bin Südafrikaner, der in der Apartheid gelebt hat. Ich zögere nicht zu sagen, dass Israels Verbrechen unendlich viel schlimmer sind als die Verbrechen, die Südafrika mit seinem Apartheid-Regime begangen hat.“
Doch Israel hatte auch nicht viel Glück mit dem nächsten Sonderberichterstatter Falk, obwohl dieser ebenfalls Jude ist. Auch er wurde nach Ablauf seines Mandats 2014 nicht wiedergewählt, weil er an Schärfe der Kritik an Israels Politik John Dugard nicht nachstand. Schon in seinem ersten Bericht an die Generalversammlung im Oktober 2010 schrieb er:
„Es ist die Meinung des gegenwärtigen Sonderberichterstatters, dass die Natur der Besatzung im Jahr 2010 die früheren Vorwürfe des Kolonialismus und der Apartheid noch deutlicher faktisch und rechtlich beweist als drei Jahre zuvor. Die kolonialistischen und Apartheid-Züge der israelischen Besatzung haben sich in einem kumulativen Prozess eingegraben. Je länger das dauert, desto schwieriger sind sie zu überwinden und desto ernster ist die Verkürzung der fundamentalen palästinensischen Rechte“(9).
In seinem letzten Bericht als Sonderberichterstatter an den Menschenrechtsrat im Jahr 2014 bestätigte er, dass die verlängerte Besatzung mit der faktischen Annexion palästinensischen Landes durch die permanente Ausdehnung der Siedlungen und den Bau der Mauer sowie die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenserinnen und Palästinenser alle Merkmale der Apartheid hat.
Hinzu kommt der durch die Genfer Konventionen verbotene Transfer großer Teile der eigenen Bevölkerung in die besetzten Gebiete und die Errichtung eines gespaltenen und die palästinensische Bevölkerung stark diskriminierenden administrativen und gesetzlichen Systems. Er empfiehlt der UN-Generalversammlung, beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein Gutachten über den rechtlichen Status dieser verlängerten Besatzung einzuholen, in dem „der rechtlich unakzeptable Charakter von ‚Kolonialismus’, ‚Apartheid’ und ,ethnischer Säuberung‘“ festgestellt wird (10).
Falk wiederholte und bestärkte diesen Vorwurf in einem neuen Gutachten, welches er gemeinsam mit Virginia Tilley für die Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien der UNO (United Nations Economic and Social Commission for Western Asia – ESCWA) verfasste und welches im März 2017 veröffentlicht wurde. In ihm kommen die Autoren zu dem Schluss, „dass die israelische Politik als rassistisch zu beurteilen ist und zum Zwecke der Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel ein Apartheid-System errichtet hat“ (11).
Der Vorwurf des Rassismus und der Apartheid rief eine derartige Empörung bei einflussreichen Mitgliedern der UNO hervor, dass UN-Generalsekretär António Guterres den Bericht von allen offiziellen UN-Webseiten entfernen ließ. Die ESCWA-Exekutivsekretärin Rima Khalaf trat aus Protest gegen diesen beispiellosen Vorgang von allen ihren Ämtern zurück und erklärte, dass sie weiterhin zu diesem Bericht stehe. Als Guterres Virginia Tilley aufforderte, sich von ihrem Bericht zu distanzieren, legte auch sie ihr Mandat nieder und bekannte sich weiterhin zu dem Bericht.
Man kann darüber streiten, was einen mehr erstaunt an diesem Vorgang: der politische Einfluss Israels bis in die höchsten Spitzen der UNO oder die Schwäche beziehungsweise Feigheit des Generalsekretärs. Denn die zusammengetragenen Fakten des Gutachtens waren nicht zu bestreiten oder zu widerlegen. Die Wertung mit den Attributen „rassistisch“ und „Apartheid“ hat jedoch nicht nur einen moralisch vernichtenden Effekt, sondern einen durchaus juristisch schwerwiegenden Gehalt: Es handelt sich um Kriegsverbrechen.
Nach der „Internationalen Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung der Apartheid“ von 1973 „bezeichnet der Ausdruck ‚Verbrechen der Apartheid’, der die damit verbundene Politik und Praxis der Rassentrennung und –diskriminierung, wie sie im Südlichen Afrika betrieben wurden, mit einschließt, … unmenschliche(n) Handlungen, die zu dem Zwecke begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“ (12).
Wurde der Begriff „Apartheid“ ursprünglich mit der rassistischen Trennungspolitik der weißen südafrikanischen Regierung identifiziert, so ist er mit ihrer Überwindung jedoch nicht überholt und überflüssig geworden. So definiert das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 das „Verbrechen der Apartheid“ als „unmenschliche Handlungen (…), die im Zusammengang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung einer oder mehrerer rassischer Gruppen durch eine andere rassische Gruppe sowie in der Absicht begangen werden, dieses Regime aufrechtzuerhalten“ (13).
Schon 2008 hatte der Human Sciences Research Council (HSRC) ein Team internationaler Juristen aus Europa, Israel, Palästina und Südafrika zusammengestellt, um zu prüfen, ob Israel die internationalen rechtlichen Verbote des Kolonialismus und der Apartheid verletze. Die im Jahre 2012 veröffentlichte Studie kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass es in den besetzten Gebieten ein institutionalisiertes System israelischer Herrschaft und Unterdrückung der Palästinenser als einer Gruppe gibt – ein System der Apartheid (14).
Auch das Russeltribunal zu Palästina hatte auf seiner Sitzung im November 2011 in Kapstadt befunden, dass „Israel das palästinensische Volk einem institutionalisierten Regime der Herrschaft unterwirft, welches nach internationalem Recht auf Apartheid hinausläuft.“ Palästinenser in den besetzten Gebieten seien „einer besonders schweren Form der Apartheid unterworfen“. Das Tribunal schließt mit dem Urteil, „dass Israels Herrschaft über das palästinensische Volk, wo immer es lebt, auf ein einziges integriertes System der Apartheid hinausläuft“ (15).
Der Begriff der Apartheid hat über seine politisch-moralisch abwertende Bestimmung hinaus spätestens seit seiner Aufnahme im Römischen Statut einen klaren juristischen Rahmen bekommen. Er orientiert sich an der Anti-Apartheid-Konvention, nach der das Verbrechen der Apartheid aus einzelnen unmenschlichen Handlungen besteht. Diese müssen zudem auf die Errichtung einer Rassenherrschaft zielen, dies muss ihr Kernzweck sein.
Dementsprechend spricht das Römische Statut von einem „institutionalisierten Regime“, das „in der Absicht“ „der systematischen Unterdrückung und Beherrschung“ die Taten begeht. Weder die Anzahl noch die Schwere der Taten genügen, um ein Verbrechen der Apartheid zu begehen, diese Taten müssen mit dem subjektiven Element einer qualifizierten Absicht und in einem bestimmten institutionalisierten Rahmen begangen werden.
Bezeichnend ist, dass die meisten der alten Kolonial- und jetzigen NATO-Staaten, von den USA bis Deutschland, das Übereinkommen nicht unterzeichnet oder ratifiziert haben. Sie befürchten, dass ihre eigenen Bürger und Organisationen einer Strafverfolgung wegen Unterstützung und Begünstigung der Apartheid ausgesetzt werden könnten.
Falk und Tilley sehen die systematische und institutionalisierte Unterdrückung in der Doktrin der jüdischen Staatlichkeit im israelischen Regime verwirklicht. Sie erheben den Vorwurf der Apartheid damit auch gegen die Politik Israels in seinen eigenen Grenzen. Die israelische Gesetzgebung und der Aufbau der israelischen Staats- und Verwaltungsinstitutionen sind eindeutig auf die „systematische Unterdrückung und Beherrschung“ der Palästinenserinnen und Palästinenser gerichtet. Dass diese Politik auch noch auf einer rassistischen Einstellung basiert, verstärkt den Charakter eines Apartheidverbrechens, ist dafür jedoch keine Voraussetzung.
Die UNO-Generalversammlung hat schon frühzeitig im Rahmen ihrer Beschlüsse zum Selbstbestimmungsrecht der Völker die enge Verwandtschaft des südafrikanischen und palästinensischen Falles betont. So bestätigte sie zum Beispiel in ihrer berühmten Resolution 2649 (XXV) vom 30. November 1970 „die Legitimität des Kampfes der Völker unter kolonialer und rassistischer Herrschaft, denen das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt wird, um ihre Rechte mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln wiederherzustellen“.
Bemerkenswert an dieser Resolution ist vor allem die Feststellung, dass die Völker „mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln“ um ihre Rechte kämpfen können – die klassische Formulierung für die Ermächtigung, auch mit militärischen Mitteln zu kämpfen.
Sie verurteilte zugleich „die Regierungen, die das Recht auf Selbstbestimmung den Völkern, denen es zustand, vorenthielten, insbesondere den Völkern Süd-Afrikas und Palästinas“. In zahlreichen weiteren Resolutionen bestätigte die Generalversammlung diese enge Verbindung zwischen Südafrika und Palästina.
Die Anti-Apartheid-Konvention hat in ihrem Artikel 2 eine sehr detaillierte Liste von Menschenrechtsverletzungen erfasst, die den Tatbestand der Apartheid erfüllen, wenn sie mit dem Ziel begangen werden, systematisch die Herrschaft „einer rassischen Gruppe“ über eine andere auszuüben. Dazu gehört neben dem Angriff auf das Leben und die Freiheit der Menschen zum Beispiel auch „die vorsätzliche Belastung einer oder mehrerer rassischer Gruppen mit Lebensbedingungen, die ihre vollständige oder teilweise Vernichtung herbeiführen sollen“ Artikel 2b, aber auch „jede gesetzliche oder andere Maßnahme, die eine oder mehrere rassische Gruppen daran hindern sollen, am politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben des Landes teilzunehmen …“ Artikel 2c (eigene Übersetzung).
Die verschiedenen Untersuchungen der UNO-Sonderberichterstatter, aber auch die wöchentlichen Berichte des „United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs“ (OCHA) präsentieren eine Fülle deprimierender Zeugnisse, die das tägliche Verbrechen der Apartheid in den besetzten Gebieten, ob in Ost-Jerusalem, im Westjordanland oder in Gaza dokumentieren. „Es ist ein Land, das dem eigenen wie immer prekären ursprünglichen Selbstverständnis zufolge selbstverschuldet dem Abgrund zutreibt,“, schreibt Moshe Zuckermann (16). Das ist ein bedrückendes Resümee zu einem 70. Geburtstag, von dem in den öffentlichen Glückwünschen geschwiegen wird. Es ist die hässliche und gefährliche Seite der Realität, vor der sich die Staaten und Regierungen nicht länger drücken dürfen.
Redaktioneller Hinweis:
Der vorliegende Artikel erscheint im November 2018 in den Marxistischen Blättern 6/2018
Quellen und Anmerkungen:
(1) Theodor Herzel, Der Judenstaat, Leipzig, Wien, 1896, Osnabrück, 1968, S. 126.
(2) Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des I. Zionisten-Kongresses in Basel 1897.
(3) E. Attiyah, C. Cattan, Palästina – Versprechen und Enttäuschungen, Palästinamonographien 3., Rastatt 1970, S. 61 ff.
(4) Vgl. Petra Wild, Vom Basler Kongress 1897 bis zur Balfour-Deklaration 1917: Die Anfänge des Zionismus, in: Fritz Edlinger, Hrsg.) Palästina – Hundert Jahre leere Versprechen, Wien 2017, S. 17 ff.
(5) Wöchentliche Dokumentationen und Reports über die Aktivitäten der Besatzung und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung finden sich auf der Website des United Nation Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), unochaopt@un.org.
(6) https://www.infosperber.ch/Politik/Israel-Notionalstaat-Gesetz-Haaretz-Gideon-Levy.
(7) Vgl. Peter Lintl, Israel kodifiziert den jüdischen Charakter des Staates, v. 10. Juli 2018, www.swp-berlin.org, www.handelsblatt.com.
(8) Peter Lintl, a.a.O. S. 2.
(9) R. Falk, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Palestinian territories occupied since 1967.UN DOC A/65/331, 30. August 2010, para. 3.
(10) R. Falk, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Palestinian territories occupied since 1967, Human Rights Council, 25th session, 13. January 2014, A/HRC/25/67, S. 20.
(11) R. Falk, V. Tilley, Israeli Practices towards the Palestinian People and the Question of Apartheid, Abdruck des Executive Summary in: A. Groth, N. Paech, R. Falk, Palästina-Vertreibung, Krieg und Besatzung, Köln 2017, S. 271 ff.
(12) „Internationales Übereinkommen über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid“ v. 1973, 1015 UNTS 243, in Kraft getreten am 18. Juli 1976.
(13) Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs v. 17. Juli 1998, Art. 7, Abs. 2, Lit. h.
(14) Vgl. V. Tilley (Hg.) Beyond Occupation: Apartheid, Colonialism and International Law in the Occupied Territories, New York 2012, S. 107 – 221.
(15) Russel Tribunal on Palestine, Findings of the South African Session, November 2011, pars. 5.44, 5.45
(16) Moshe, Zuckermann, Der allgegenwärtige Antisemit, Frankfurt am Main, 2018, S. 63.