Hilferuf aus dem Gazastreifen

Seit dem 22. Juli bin ich im Gazastreifen und ich kann einfach nicht glauben, was hier passiert. Ich erlebe die schlimmsten Tage meines Lebens. Alle Menschen in Gaza erleben die schlimmsten Tage ihres Lebens. Denn so massiv wie in dieser Wochen waren noch keine Angriffe auf Gaza. Hinter diesen Worten verbergen sich menschliche Tragödien. Die humanitäre Katastrophe in Gaza hat einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der Krieg in Gaza ist ein Krieg gegen Zivilisten. Das sage nicht nur ich, sondern auch die Menschen in Gaza und die Journalisten, mit denen ich spreche, von denen einige so ziemlich sämtliche Kriege der letzten zehn Jahre abgedeckt haben (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, etc…). Was hier passiert, hat eine besondere Qualität.

Überall schlagen Raketen ein. In Wohnhäuser, in denen Familien leben, in Moscheen, in denen Menschen beten. Am frühen Abend des 30. Juli bombardierte ein F16-Kampfjet das Wohnhaus, das bis dahin schräg gegenüber unseres Hauses stand. Wir saßen gerade auf dem Balkon als die Rakete 50 Meter entfernt einschlug. Kurz zuvor hörte ich noch einen Esel hysterisch wiehern, als ob er den Angriff schon ahnte und uns warnen wollte.

Trümmer fliegen in schneller Geschwindigkeit gegen unsere Hausmauer und verfehlen uns nur knapp. Wir sitzen plötzlich inmitten einer Staubwolke. Der Staub bedeckt meine Brillengläser und meinen Laptop. Der Staub knirscht zwischen meinen Zähen. Es dauert etwa eine halbe Minute bis sich der Rauch legt. Jetzt sehe ich den Vater, mit dem ich mich vorhin noch auf der Straße unterhalten habe, wie er sich mit seinen Kindern hinter einem Bagger verschanzt, um Deckung zu finden, falls ein zweiter Schlag folgt. Der Bagger steht auf einem Parkplatz gegenüber unseres Hauses und gehört einem Baumunternehmer. Ich laufe sofort zu den Trümmern des bombardierten Wohnhauses und sehe die Verletzten. Ich habe die Familie schon mehrmals in unserer Straße spazierengehen sehen. Ich filme mit meinem Handy wie die Rettungswagen eintreffen und die Verletzten ins Krankenhaus bringen. Auf der Straße liegen Steine, Scherben, umgekippte Strommasten.

Seit dem ich hier bin, wurden jeweils am hellichten Tag bei unbedecktem Himmel und bei freier Sicht zahlreiche zivile Ziele bombardiert. Zum Beispiel eine Mädchengrundschule der Vereinten Nationen in Beit Hanoun, in der sich Hunderte Flüchtlinge aufhielten, und dies, obwohl die UN zuvor die GPS-Koordinaten der Schule dem Generalkommando der israelischen Streitkräfte durchgegeben hatte. Ich erinnere schon gar nicht mehr die genaue Zahl der Toten und habe auch kein Internet, um es zu recherchieren. Auch wurde auch ein Park im Schatti-Flüchtlingslager, vor dessen Eingang acht Kinder spielten, die alle durch den Angriff getötet wurden, bombardiert. Und am späten Nachmittag des 30. Juli fielen der Bombardierung eines Marktes im Norden des Gazastreifens 17 Menschenleben zum Opfer. 160 Palästinenser wurden verletzt, die dort gerade ihre Einkäufe erledigten. Diese Aufzählung an Massakern an der Zivilbevölkerung ließe sich beliebig lang fortsetzen, da seit dem 8. Juli bereits um die 1000 Zivilisten getötet wurden. Ich kann nicht verstehen, weshalb die israelischen Streitkräfte so etwas tun. Weshalb werden offenbar gezielt zivile Ziele und große Menschenansammlungen bombardiert? Die genaue Kenntnis der zu attackierenden Ziele dürfte durch die allgegenwärtigen Aufklärungsdrohnen, die gestochen scharfe Bilder liefern, vorhanden sein. Weshalb töten die Bomberpiloten immer wieder vorsätzlich Frauen und Kinder? Welchen ethischen Maßstäben folgen diese Herren der Lüfte über Leben und Tod? Sie sitzen in den modernsten Kampfjets, die jemals entwickelt wurden und brüsten sich mit „zielgenauen Schlägen“. Daß in einem Krieg Soldaten Soldaten töten müssen, ist durch das Völkerrecht legitimiert, aber Zivilisten gezielt zu attackieren, so wie die Familie in unserem Nachbarhaus, die Kinder im Park, die Flüchtlinge in der UN-Schule, das ist rechtlich durch keine Kriegsordnung gedeckt. Die Menschen im Gazastreifen fragen sich, weshalb deutsche und westeuropäische Regierungschefs diese Verstöße gegen internationale Konventionen nicht scharf verurteilen. Das sind Kriegsverbrechen, die hier jeden Tag im Gazastreifen durch die israelischen Streitkräfte verübt werden.

Auch Krankenhäuser, ein Wasserwerk und das einzige Kraftwerk des Gazastreifens wurden bombardiert. In unserem Viertel im Zentrum von Gaza Stadt, das „Beverly Hills“ genannt wird und bis vor drei Wochen noch über eine ziemlich intakte Infrastruktur verfügte, hat niemand mehr fließendes Wasser. Wir waschen uns mit Wasser aus Plastikflaschen, die wir im Tante-Emma-Laden um die Ecke kaufen. Wir haben seit der Nacht auf den 29. Juli, in der das Kraftwerk bombardiert wurde, keinen Strom und kein Internet mehr. Das Festnetztelefon ist tot. Das Handy ist das einzige Kommunikationsmittel, das noch funktioniert, was natürlich auf Dauer sehr kostspielig ist. Diesen Text schreibe und versende ich im Al Deira Hotel, das über einen eigenen Generator verfügt und in dem die französische Nachrichtenagentur AFP ihr eigenes WLAN-Netz hat.

Es gibt kein Brot mehr im Gazastreifen. Es gibt nirgendwo mehr Brot zu kaufen. Wir essen das Brot, das die Ehefrau meines Gastgebers Maher zu Hause bäckt im Innenhof unseres Hauses in einem selbstgebauten Ofen, den sie mit Holzkohle befeuert. Wir tunken das Brot in Olivenöl und Za’tar, eine Paste aus Thymian, Sesam und Salz. Das essen wir jeden Tag. Selbst wenn es noch Brot zu kaufen gäbe, hätten wir kein Geld, um es bezahlen zu können. Seit Beginn des Krieges gibt es kein Bargeld mehr an den Geldautomaten, sind die Banken geschlossen, wurde das Finanzministerium komplett zerstört, funktionieren EC- und Kreditkarten nicht mehr. Wenn wir Mehl und Öl kaufen gehen im Laden um die Ecke, lassen wir anschreiben, so wie das alle derzeit tun müssen.

Es gibt kein öffentliches Leben mehr im Gazastreifen. Alle Behörden und Büros, fast alle Geschäfte und Restaurants sind geschlossen. Die Menschen gehen nur aus dem Haus, falls unbedingt nötig. Die Strände und Parks sind menschenleer. Die letzten vier Kinder, die am Strand Fußball spielten, sind von einer israelischen Rakete getötet worden. Es war kein Hamas-Kämpfer oder Raketenabschußrampen in der Nähe, berichteten Augenzeugen übereinstimmend.

Ich wohne in einem zweistöckigen Haus um die Ecke der am 29. Juli zerbombten Al Amin Moschee. Zehn Menschen lebten in dem Haus, bevor der Krieg begann. Jetzt sind es 70, die sich die zwei Wohnungen im Haus teilen. Meine Gastgeber haben 60 Flüchtlinge aus dem Norden des Gazastreifens, der dem Erdboden platt gemacht wurde, bei sich aufgenommen. Die Männer müssen im Hauseingang und im Hausflur schlafen, die Wohnungen sind den Kindern und Frauen vorbehalten. Auf so engem Raum mit fremden Menschen zusammen zu leben und nebeneinander zu schlafen ist für alle nicht leicht und Privatsphäre gibt es gar keine. Auch liegen die Nerven blank nach dreieinhalb Wochen Dauerbombardement, von dem ich ja nur anderthalb Wochen mitbekommen habe. Trotzdem verhalten sich alle 70 Bewohner der zwei Wohnungen immer ruhig und rücksichtsvoll, sind solidarisch und teilen das wenige miteinander, was sie noch haben: das selbstgebackene Brot, den Handy-Akku, die letzte Zigarette, ein Stück Seife zum Waschen. Ich war gestern in einem Kindergarten in unserem Viertel, in dem nachts 80 Menschen pro Gruppenraum schlafen.

Palästinenser sind so schlau wie die Libanesen, intelligent wie die Iraker, starke Kämpfer wie die Algerier und gastfreundlich wie die Syrer. Vielleicht ist es diese Vielzahl an guten Eigenschaften, die es den Menschen in Gaza ermöglicht, mit dieser schweren Situation umzugehen ohne zu resignieren. Trotz seit dreieinhalb Wochen anhaltender Bombardierung aus der Luft, zu See und zu Land spielen die Kinder noch tagsüber auf der Straße, singen die Frauen beim Brotbacken noch ihre Lieder, leisten die Männer noch immer Widerstand. Maher, mein Gastgeber, erklärt: „Unseren Willen zu leben und zu kämpfen, können keine Raketen und Granaten brechen.“

Gaza Stadt am 29.07.2014

Dieser Text handelt von Ereignissen, die ich zwischen Montag 17.00 Uhr und Dienstag 05.00 Uhr erlebte.
Eine Spielzeugpistole schwimmt in einer Blutpfütze. In einer anderen Blutlache liegt in paar Sandalen, das einem der acht Kinder gehörte, die bis vor wenigen Minuten noch lebten und in dem kleinen Park des Schatti-Flüchtlingslagers vielleicht gerade Fangen spielten oder Fußball. Durch die Wasserrinne auf der Straße rinnt Blut. Die Bäume haben keine Blätter mehr. Sie liegen auf der Straße, auf den Dächern der zerstörten Autos, in den Blutlachen. Das Blut, das die grünen Blätter rot färbt, ist von acht toten Kindern und von drei Erwachsenen, die am späten Montagnachmittag gegen 17.00 Uhr Ortszeit bei einer starken Explosion am Eingang des Parks gestorben sind. Mindestens weitere 40 Personen wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Der Ort der Explosion ist ein Ort des Grauens, an Häuserwänden kleben Überreste menschlichen Gewebes. Ein Vater rennt mit einer Plastiktüte in der Hand zu dem Rettungswagen, in dem seine tote Tochter liegt. Der Vater zeigt dem Sanitäter Gehirnmasse seiner Tochter, indem er den Boden der Plastiktüte behutsam anhebt. „Nimm das mit für die Bestattung“, sagt er zum Sanitäter. Ein anderer Vater trägt seinen toten Sohn zu der Ladefläche eines Pritschenwagens. Er wird von Männern begleitet, die den Tekbir „Allahu Akbar“, „Gott ist groß“, rufen und dabei Handyfotos von der verstümmelten Leiche aufnehmen. Anwohner versuchen eine schreiende Frau, die ihre Schwester verloren hat, zu beruhigen. Ein Mann liegt bewußtlos auf der Straße. Ein Arzt versucht ihn wiederzubeleben. Szenen eines ganz normalen Nachmittags in Gaza Stadt. Die Palästinenser machen einen israelischen Luftangriff für die Explosion am Park verantwortlich, ein Sprecher des israelischen Militärs bestreitet dies und macht eine fehlgeleitete Rakete der Hamas für das Massaker verantwortlich.

Wenige Stunden später: eine ganz normale Nacht in Gaza Stadt. F16-Kampfjets donnern mit gewaltigem Lärm im Tiefflug über Gaza Stadt, ihr Schall findet seinen Wiederhall zwischen den Wänden der Hochhäuser, die noch stehen. Etwa alle 30 Sekunden feuern sie eine Rakete ab. Das omnipräsente Sirren der Kampfdrohnen, die über unserem Viertel, die über jedem Viertel des Gazastreifens kreisen, klingt wie das Motorenbrummen, das aus den Fernsehlautsprechern einer Formel Eins Übertragung schallt.

Es ist dies wirklich eine imponierende Darbietung militärischer Zerstörungskraft, deren Dauerbeschuß zu Luft, zu Land und zu See die Bevölkerung des Gazastreifens in dieser Nacht kollektiv in Todesangst versetzt. Eine wahrlich außergewöhnliche Aufbietung des Waffenarsenals der israelischen Streitkräfte, einer der modernsten Streitkräfte der Welt.

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich nicht im al-Deira Strandhotel am Strand von Gaza, in dem die ausländischen Korrespondenten Schutz suchen. Ich bin im Wohnhaus einer muslimischen Familie im Zentrum von Gaza Stadt. Ich höre, wie in den Nachbarwohnungen unseres Hauses kleine Babys ohne Unterbrechung schreien, verängstigte Kinder in den Armen ihrer Mütter weinen, die Erwachsenen fluchen.

Die Bombardierungen begannen um 23.30 Uhr Ortszeit mit heftigen Fliegerangriffen auf das Flüchtlingslager Bureij im Zentrum des Gazastreifens. Seit 01.00 Uhr stehen wir im Zentrum von Gaza Stadt unter Feuer. Im Zentrum einer kleinen Stadt, die mit ihren Hunderttausenden Einwohnern zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt gehört. Meine Freunde und ich verbarrikadierten uns im Wohnzimmer und hören, wie die Einschläge der Raketen immer näher in unsere Richtung kommen.

Nach ein paar Stunden hält es mich nicht mehr auf meinem Stuhl und ich gehe auf den Balkon im zweiten Stock. Was ich sehe, sind nicht mehr die Straßen von Gaza Stadt, wie ich sie kenne. Vor meinen müden Augen erstreckt sich eine Trümmerlandschaft, breitet sich das Panorama eines Infernos aus. Unzählige militärische Leuchtstoffkugeln machen den nächtlichen Himmel über Gaza zum hellichten Tag und weisen den Raketen der Kampfjets ihren Weg zum Ziel.

Das Licht der langsam gen Boden gleitenden Leuchtstoffkugeln durchdringt die Pilzformartigen Staubwolken, die nach jedem Raketeneinschlag aus Richtung des jeweils zerstörten Hauses in Höhe schießen. Bei jeder Explosion in unserer Nähe bebt das Fundament unseres Hauses, wackelt der Sims des Balkons, auf dem ich stehe; ertönen die Alarmanlagen der Autos, die vor dem Haus parken. Die Hunde bellen wie verrückt, aufgescheuchte Esel, die hier im Gazastreifen alltägliches und allgegenwärtiges Transportmittel sind, laufen ziellos durch die Straßen und kreischen noch lauter als die Babys.

All diese Geräusche des Krieges und Schreie der Angst vermischen sich mit dem Heulen der Sirenen der Rettungswagen zu der Symphonie einer Großstadt im Krieg, deren wiederkehrendes Leitmotiv der tosende Donner der Raketen ist und deren Komponist irgendein die Zerstörung berechnender Oberbefehlshaber in Jerusalem.

Morgens um fünf, als das Dauerbombardement noch anhält, wird auch noch das Krähen des Hahnes in unserm Hof in die Symphonie miteinstimmen. Hoffentlich als finaler Schlußakt. Noch mehr Raketeneinschläge verkraften wir nicht. Die Kinder, und auch mancher Erwachsene, zittern schon die ganze Nacht am ganzen Leib. Maher, meinem Gastgeber, läuft der Angstschweiß den Rücken hinunter. Sein Hemd ist klatschnaß.

Jetzt schlägt wieder eine Rakete nur wenige Hunderte Meter von uns entfernt ein. Sie trifft die Al Amin Moschee, die ich gestern noch fotografiert habe und die direkt neben dem Haus des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas (Fatah) liegt. „Ich gehe in der Al Amin Mosche jeden Tag beten“, sagt Maher. „Jetzt muß ich auf die Al Furqan Mosche ausweichen, die jedoch deutlich weiter von unserem Haus entfernt liegt. Wenn Al Furqan Mosche nicht auch heute nacht zerbombt wurde.“

Später erfährt Maher durch den Telefonanruf eines Freundes, das in dieser Nacht auch das Haus von Ismael Haniya, des früheren palästinensischen Ministerpräsidenten und Hamas-Führers, zerstört wurde sowie das Finanzministerium. „Das hat Israel gemacht, damit die Hamas ihren Angestellten in der Verwaltung und in den Sicherheitsdiensten kein Gehalt mehr zahlen kann.“ In einer Liveschalte des Fernsehsenders Al Jazeera sind viele Kinder und Frauen mit starken Verbrennungen und schweren Verletzungen zu sehen, die von selbstlosen Rettungskräften oder Nachbarn ins Al Shifa Krankenhaus in Gaza Stadt gebracht wurden. Frauen und Kinder, die in dieser Nacht nur friedlich schlafen wollten.

Inzwischen ist uns klar, daß dies doch keine ganz normale Nacht ist in Gaza Stadt. „Es sind die heftigsten Angriffe seit Beginn des Krieges vor drei Wochen und sogar die intensivste Bombardierung während aller der drei Gaza-Kriege seit Dezember 2008“, konsterniert Maher mit leerem Blick. So verzweifelt habe ich ihn noch nie erlebt. Daß die Intensität der Bombardierung dieser Nacht mit keiner Nacht, die Gaza jemals zuvor erlebt hat, zu vergleichen ist, beobachtet auch der Al Jazeera-Korrespondent, der gerade aus der Lobby des Al Deira Strandhotels dem um Fassung ringenden Moderator in Al Doha ein Telefoninterview gibt.

An Schlaf ist dieser Nacht nicht zu denken in Gaza. Alle bangen um ihr Leben, alle fürchten sich vor den nächsten Schlägen, alle sorgen sich um ihre Verwandten und Freunde. „Hayak Allah!“, rufen die Mitglieder meiner Gastfamilie jedes Mal aus, wenn eine Rakete in den Boden kracht: „Gott stehe uns bei!“ Und nach jedem Bombenanschlag erzählen mir die Jungs, ob dies nun das Geschoß eines F16-, eines F-22-Fliegers oder eines Kriegsmarineschiffes war.

Morgen früh werden die Menschen von Gaza, die diese Nacht überlebt haben werden, die Toten zählen. Wie jeden Morgen. Bei Nacht kann niemand aus dem Haus gehen ohne sein Leben zu riskieren. Er wäre sofort im Visier der Drohnen, welche die Umgebung nach möglichen Zielen auskundschaften und die genauen Zielkoordinaten in Sekundenschnelle an die Bomberpiloten übermitteln. „Sobald die Angriffe beendet sind, können wir in unserer Nachbarschaft nach Verletzten in den zerstörten Häusern suchen“, sage ich zu Maher, der gerade den Schlauch der Wasserpfeife an seinen Freund weiterreicht. Er schaut mich ernst an und widerspricht: „Sie werden niemals aufhören uns anzugreifen. Sie wollen uns bekämpfen bis wir alle tot oder vertrieben sind. Das ist hier ist ein Völkermord.“

Jetzt, am Dienstagmorgen, auf dem Weg in das Al Deira Strandhotel, um diesen Text zu senden, wird das Ausmaß der Zerstörung dieser Nacht deutlich. Überall auf den Straßen liegen Scherben und Trümmern. Jetzt sehe ich auch die völlig zerstörte Al Amin Moschee.

Ich habe die ganze Nacht alle ARD-Sender aus Inferno in Gaza Stadt angerufen. Der MDR in Halle an der Saale war der einzige Sender, der mich erhörte. MDR, ihr habt gute arbeit geleistet.

Heute Morgen erreicht mich diese E-Mail eines MDR-Redakteurs:

„Ihre Informationen von vergangener Nacht haben auf jeden Fall Eingang unsere Nachrichtenblöcke gefunden. In den Meldungen wurden Sie zitiert: Israel hat seine Angriffe im Gazastreifen in der Nacht dramatisch ausgeweitet. Gaza-Stadt liegt seit Stunden unter schwerem Beschuss durch Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und Artillerie. Fernsehbilder zeigen Brände und ganze Serien von Explosionen. Unter anderem sollen die Zentrale des Hamas-Fernsehens, eine Moschee und das Haus des früheren palästinensischen Ministerpräsidenten Hanija getroffen worden sein. Ein deutscher Journalist in Gaza sprach am ARD-Infonacht-Telefon von den schwersten Angriffen seit Kriegsbeginn. Ein solches Inferno habe er noch nie erlebt. Auch andere Orte des Gazastreifens wurden bombardiert. Nach palästinensischen Angaben gab es Dutzende Tote und Verletzte. Die Hamas ihrerseits feuerte wieder Raketen auf Israel. In Tel Aviv und anderen Städten gab es Luftalarm.“

Gaza Stadt am 27.07.2014

Hunderte Muslime beten in engen Reihen in der Kirche des Sankt Porphyrios-Klosters der Erzdiözese Gaza. Die 150 muslimischen Familien sind aus den umkämpften Gebieten des Gazastreifens geflüchtet und haben in dem griechisch-orthodoxen Kloster Zuflucht gefunden. Weil am Freitag auf den Straßen gekämpft wird, versammeln sie sich zum Freitagsgebet in der Kirche. „Muslime und Christen leiden gleichermaßen unter der Bombardierung von Gaza“, sagt eine 32-jährige muslimische Frau, die aus dem völlig zerstörten Viertel Shajaiya ins Kloster geflüchtet ist. „Ich fühle mich den Christen tief verbunden in diesen schweren Stunden.“, sagt sie und hält ihr neugeborenes Baby im Arm, das am dritten Tag des Krieges zur Welt kam und Issa, Jesus, heißt. Am Samstag dann nutzte die im Gazastreifen sehr aktive Hilfsorganisation Islamic Relief die Feuerpause um 700 mittellosen Flüchtlinge in der Kirche mit Lebensmitteln, Wasser, Decken und Medikamenten zu versorgen. Vor dem Innenhof des Klosters steht ein Lkw der Hilfsorganisation, der Überlebenspakete liefert. Rami Mahani, Manager der Humanitären Nothilfe von Islamic Relief, warnt vor einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen: „Seit Beginn der Angriffe vor fast drei Wochen gibt es 200.000 Flüchtlinge. Diese während des Ramadan bei Rekordtemperaturen um 35°C und der anhaltenden Blockade des Gazastreifens ausreichend zu versorgen, ist nahezu unmöglich.“ Während der Waffenruhe zeigt sich das wahre Ausmaß der Zerstörungen. Die oberen Stockwerke eines Wohnhauses in der Umar-al-Mukhtar-Straße, der Hauptstraße von Gaza Stadt, sind vollständig zerstört. Das zerbombte Haus heißt Bursch Assalam, Friedensturm. Autofahrer, die am Samstag während der Waffenruhe die Zerstörungen in Gaza besichtigen, müssen zuerst einen hohen Schuttberg vor dem Haus umfahren. In diesem Haus wurden am 21. Juli sieben Deutsche und fünf Palästinenser getötet, als zur Zeit des Fastenbrechens um 19:45 Uhr eine Rakete der israelischen Streitkräfte einschlug. Die Toten von Gaza haben Namen: Ibrahim Kilani, 53, seine Frau Taghreed, 45, ihre Kinder Yasin Ibrahim, 9, Yaser, 8, Elyas, 4, und Sawsan, 11. Die Kilanis stehen auf der Liste der Todesopfer, die das Gesundheitsministerium von Gaza seit Beginn des Krieges am 8. Juli führt, an 555. bis 561. Stelle. Die Toten von Gaza hatten ein Leben: Ibrahim war ein angesehener Architekt und in viele große Bauprojekte im Gazastreifen involviert. Hatem Ragab, 52, von Beruf Ingenieur im Ministerium der Kommunalverwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde, ist Ibrahims Freund. Beide Familien mußten aus ihrer heftig umkämpften Heimatstadt Beit Lahia im Norden des Gazastreifens nach Gaza Stadt fliehen, wo sie sich in Sicherheit wähnten. Hatem, der als Nachbar die Bombardierung des Friedensturms hautnah miterlebte, ist wütend: „12 Menschen, Zivilisten, wurden hier kaltblütig von Israelis ermordet. Im Friedensturm waren keine Kämpfer.“ Das stimmt. Das moderne Hochhaus steht im Reichen-Viertel des Gazastreifens, das Beverly Hills genannt wird. Hier leben Geschäftsmänner mit Kontakten in die Emirate oder eben auch ein erfolgreicher deutscher Architekt. „Die Eigentümer sind um das Wohl ihrer Luxusimmobilien besorgt“, bestätigt ein Anwohner, „sie würden niemals einem Kämpfer Unterschlupf bieten.“ Der Angriff auf Beverly Hills zeigt, daß es im wahrsten Sinne des Wortes keinen einzigen Ort in Gaza gibt, der sicher ist. „Wir sind den Israelis schutzlos ausgeliefert. Wir haben keine Bunker, in denen wir vor den Bomben der F16-Kampfjets, der Kriegsschiffe und der Artillerie Schutz finden und es gibt kein Nachbarland in das wir fliehen können.“ Alle Grenzen von Gaza sind seit acht Jahren zu. Hatem bestätigt, daß alle getöteten Kilanis Deutsche sind. „Warum verurteilt Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht die Ermordung unschuldiger Zivilisten in Gaza?“, fragt Hatem.

„1032 Palästinenser wurden bisher durch die israelische Offensive getötet, mindestens 75 Prozent von ihnen sind Zivilisten“, sagt Ashraf al-Qidra, Sprecher des Gesundheitsministeriums in Gaza.

Recherchen in der Notaufnahme des Al Shifa Krankenhauses in Gaza Stadt belegen, daß der Anteil der Zivilisten unter den Kriegsopfern hoch ist. Dr. Youssef Abu Rysh, Leiter der Notaufnahme, arbeitet seit Beginn der Angriffe am 8. Juli im Al Shifa Krankenhaus und schläft jeden Tag nur für drei Stunden auf einer Matratze in seinem Büro. „Sehen Sie sich die Toten und Verletzen der Angriffe hier bei uns an. Es werden fast nur unbeteiligte Kinder und Frauen getötet. Das sind alles Kriegsverbrechen, die von unabhängigen internationalen Experten untersucht werden müssen“, fordert Abu Rysh. Obwohl der Schichtbetrieb außer Kraft gesetzt wurde und sämtliche Mediziner und Krankenpfleger des Hospitals im Dauer-Notdienst sind, können die Ärzte nicht schnell genug allen schwer Verletzten helfen. „Es sterben Patienten im Krankenhaus, weil wir nicht genug Personal und medizinisches Gerät haben, um allen rechtzeitig zu helfen“, klagt Abu Rysh. „Nicht nur die aktuellen Angriffe, auch die Folgen der achtjährigen Blockade töten die Menschen“, kritisiert der Arzt. In den Fluren des Hospitals liegen schwer Verletzte und sogar Tote nebeneinander. Ein Mädchen im Kindergartenalter mit schweren Verletzungen an den Beine, ein Junge, kaum acht Jahre alt, mit starken Verbrennungen, dessen Körper nach verbrannter Haut riecht, warten hier auf einen freien Platz im Operationssaal. Weil auch das Leichenschauhaus des Krankenhauses überfüllt ist, müssen die beiden Verletzten neben einer toten Frau liegen. Die beiden sind zwei von 200 Verletzten aus der UN-Schule in Beit Hanun im Norden des Gazastreifens, die am Donnerstag von mindestens einem Geschoß eines israelischen Panzers getroffen wurde, wie ein AFP-Fotograf bezeugt. In der Schule in Beit Hanoun sollen sich Augenzeugenberichten nach ausschließlich Zivilisten aufgehalten haben. „Ist dieses Mädchen eine Hamas-Kämpferin, ist dieser Junge ein Kämpfer des Islamischen Dschihads? Haben sich diese Kinder in einem Tunnel der Widerstandskämpfer versteckt? Nein, sie wurden in einer UN-Schule bombardiert“, klagt Abu Rysh.

Die Grundschule in Beit Hanoun gehört zum UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Chris Gunness, Sprecher der UNRWA, vergleicht die Angriffe auf Gaza inzwischen mit den Auswirkungen eines „Tsunami“. Er erzählt, die UNRWA habe in den Stunden vor dem Angriff auf die Schule die genauen GPS-Daten der Einrichtung an die israelischen Streitkräfte gemeldet, aber vergeblich versucht, mit der Armee eine Evakuierung zu koordinieren. „Wie können wir nachts noch ruhig schlafen, wenn in Gaza alptraumhafte Massaker wie das von Beit Hanoun geschehen?“, fragt Gunness Das ist für den Vertreter einer UN-Mission, die normalerweise höchstens indirekt Vorwürfe gegen die israelischen Streitkräfte erhebt, schon ein deutliches Signal an die Öffentlichkeit.

„Weißt Du was das Gefährlichste ist im Gazastreifen?“, fragt ein Taxifahrer, der gerade ein verletztes Kind ins Al Shifa-Krankenhaus gebracht hat. „Kinder“, antwortet er. „Die Israelis konzentrieren ihren Beschuß auf unsere Kinder. Also halte Dich von Kinder fern“, rät er dem Besucher im Gazastreifen. Was wie Irrsinn klingt, daß Kinder das Gefährlichste im Gazastreifen wären, ist statistisch nachweisbar. 40 Prozent der getöteten palästinensischen Zivilisten sind Kinder. Samantha Maurin, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Paris, die derzeit im Al Shifa-Krankenhaus vier Mediziner ihrer Organisation betreut, bezeugt: „Wir haben hier bisher nur verwundete Frauen und Kinder gesehen.“ Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. Auf einem Flug zwischen der Notaufnahme und dem Operationssaal beschreibt sie die Arbeitsbedingungen der Ärzte von Gaza: „Ich muß den palästinensischen Ärzten vor Ort meinen Respekt zollen. Sie arbeiten in 40-Stunden-Schichten, sie sind gestreßt, müde und haben kein Privatleben mehr. Trotzdem beschweren sie sich nicht und arbeiten auf einem unglaublich hohen professionellen Niveau. So einen Einsatz habe ich noch nie erlebt. Und trotzdem schaffen sie es nicht, allen Verletzten zu helfen.“

Martin Lejeune
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