Zur Initiative GG 5.3. Weltoffenheit gibt es inzwischen einen offenen Brief (englisch und deutsch) zur Unterstützung, unterzeichnet von mittlerweile schon fast 1000 Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Autor*innen: https://nothingchangeduntilfaced.com/de/
Wir können nur ändern, was wir konfrontieren
Als Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Kulturschaffende, die in Deutschland leben und/oder mit deutschen Kulturinstitutionen zusammenarbeiten, begrüßen wir die „Initiative GG 5.3. Weltoffenheit“, die am 10. Dezember 2020 von einer breiten Koalition bedeutender deutscher Kultureinrichtungen bekanntgegeben worden ist.
Die genannte Initiative ist eine späte Reaktion auf den umstrittenen Bundestagsbeschluss vom Mai 2019, in dem die Ziele und Methoden der palästinensischen Solidaritätsbewegung „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) offiziell als antisemitisch verurteilt wurden. Dieser Beschluss wurde von einer breiten Mehrheit fast aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien getragen und forderte, Projekten, die die BDS-Bewegung „aktiv unterstützen“, öffentliche Gelder zu entziehen. Die Stellungnahme kritisiert diesen Bundestagsbeschluss und beschreibt ihn als „gefährlich“. Wir teilen diese Besorgnis und betrachten die Einschränkung des Rechts auf Boykott als Verletzung demokratischer Prinzipien. Seit Verabschiedung dieses Beschlusses wird er als Mittel eingesetzt, um marginalisierte Positionen zu verzerren, zu verleumden und zum Schweigen zu bringen, insbesondere solche, die sich für palästinensische Rechte einsetzen oder kritisch zur israelischen Besatzung äußern.
Wir fordern den Deutschen Bundestag eindringlich dazu auf, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu achten, der kürzlich die Kriminalisierung von Israel-bezogenen Boykottaufrufen ablehnte und gegen eine Verfolgung gewaltloser Aktivist*innen entschied sowie Boykotte als legitime Ausübung von Meinungsfreiheit bestätigte (Juni 2020). Kein Staat sollte von Kritik ausgenommen sein. Unabhängig davon, ob wir BDS unterstützen oder nicht, sind wir uns als Unterzeichner*innen dieses Briefs einig, dass es ein Recht darauf gibt, gewaltfreien Druck auf Regierungen auszuüben, die Menschenrechte verletzen.
Wir lehnen den Bundestagsbeschluss ab, weil er genau dieses Recht verweigert. Wir lehnen ihn ab, weil er die Polarisierung innerhalb der Kulturszene in einer Zeit verschärft hat, in der der Aufstieg rechter Nationalismen von uns erfordert, in Solidarität im Kampf gegen den zunehmenden Hass zusammenzustehen, der sich in Deutschland und darüber hinaus verbreitet. Wir lehnen ihn ab, weil er für öffentliche Institutionen genau in dem Moment praktisch ein Klima der Zensur geschaffen hat, in dem diese sehr vielfältige, in Deutschland aktive Community eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer kritischen und inklusiven Kultur spielen sollte, auch als Alternative zu Autoritarismus, Rassismus und Xenophobie, die die extreme Rechte zu verfestigen versucht.
Der Beschluss hat ein repressives Klima erzeugt, in dem Kulturschaffende routinemäßig dazu aufgefordert werden, BDS zu verurteilen, um in Deutschland arbeiten zu können. Währenddessen werden Kulturinstitutionen immer mehr von Angst und Paranoia getrieben, zeigen sich anfällig für Selbstzensur und schließen in vorauseilendem Gehorsam kritische Positionen durch Nichteinladung aus.
Eine offene Debatte über vergangene und gegenwärtige Verantwortlichkeiten Deutschlands in Bezug auf Israel/Palästina ist so gut wie erstickt worden. Foren des kulturellen Austauschs, in denen wir bisher zusammengekommen sind, um über die ineinander verschränkten Geschichten nachzudenken und zu debattieren, aus denen wir kommen und in denen wir existieren, werden regelmäßig verweigert, da Institutionen bestrebt sind, politische Zurechtweisung und den Verlust öffentlicher Mittel zu vermeiden. In diesem Klima wurden bereits einige wertvolle Stimmen – wie die von Achille Mbembe, Kamila Shamsie, Peter Schäfer, Nirit Sommerfeld und Walid Raad – dämonisiert, was die notwendige kollektive Beurteilung sich überkreuzender Formen und Wirkungen von Gewalt behindert, die unsere Gegenwart weiterhin prägen.
Der Beschluss ignoriert die Vielfalt jüdischer Meinungen innerhalb und außerhalb Deutschlands, insbesondere die vieler linker jüdischer und israelischer Stimmen, die die gut dokumentierten Verstöße Israels gegen das Völkerrecht vehement kritisieren. Solche Stimmen werden erstaunlicherweise – und immer häufiger – als „antisemitisch“ disqualifiziert. Der Beschluss lässt außerdem Warnungen von außenpolitischen Experten, Menschenrechtsorganisationen und deutschen Stiftungen außer Acht, die direkt im Nahen Osten tätig sind und von denen viele sich ausdrücklich gegen die problematische Art und Weise gewandt haben, in der der Beschluss Kritik an Israel mit antijüdischem Rassismus vermischt. Diese Vermengung schützt Israel davor, gemäß völkerrechtlichen Maßstäben zur Rechenschaft gezogen zu werden, und verschleiert die historischen und politischen Umstände, die den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit hervorgerufen haben. Sie schadet auch dem anhaltenden Kampf gegen den virulenten Anstieg von Antisemitismus weltweit sowie innerhalb des deutschen Parlaments, der Polizei, der Bundeswehr und der Geheimdienste.
Wir erkennen das Bekenntnis Deutschlands zu seiner historischen Verantwortung für den Holocaust an und schätzen es zutiefst. Gleichzeitig verurteilen wir die ungeheure Nachlässigkeit des deutschen Staates, wenn es darum geht, die deutsche Täterschaft für vergangene koloniale Gewalt anzuerkennen. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht nach Belieben von parallelen Kämpfen gegen Islamophobie, Rassismus und Faschismus entkoppelt werden. Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.
In Solidarität mit den Kulturinstitutionen, die sich vor uns geäußert haben, fordern wir den Deutschen Bundestag auf, den umstrittenen Beschluss zurückzunehmen. Wir fordern die Kulturinstitutionen auf, ihren Worten bedeutsame Taten folgen zu lassen. Wir bitten sie, eine Führungsrolle bei der Wiederherstellung von Bedingungen einzunehmen, unter denen der produktive Austausch widerstreitender Meinungen stattfinden kann. Eine übereifrige Überwachung der politischen Ansichten von Kulturschaffenden aus dem Nahen Osten und dem globalen Süden muss als das angesehen werden, was es ist – Racial Profiling durch die Hintertür –, und muss sofort eingestellt werden. Die Verleumdung von Individuen durch unbegründete Antisemitismusvorwürfe muss aufhören.
Wir schließen mit den Worten James Baldwins, einem scharfsinnigen Beobachter der Verbrechen des Holocaust sowie der Grauen der Sklaverei, des Kolonialismus und des Rassismus:
“Not everything that is faced can be changed. But nothing can be changed until it is faced.”
Auf der Webseite kann man auch die Unterschriften einsehen…. „